Karl von Perfall
Der kluge Pitter
Karl von Perfall

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Der Berliner Kunsthändler Meisenfänger war im Laufe des Sommers wieder in München gewesen und hatte mit ten Holten die Ausstellung mehrerer Bilder verabredet. Dazu war jetzt, da die Gesellschaft aus den Sommerfrischen heimkehrte, die rechte Zeit gekommen. Der Brief, in dem Meisenfänger die Ankunft der Bilder anzeigte, enthielt die Wendung: »Es würde mich sehr freuen, wenn Sie nun auch selbst nach Berlin kämen, mir bei der bestmöglichen Plazierung Ihrer Werke, für die ich einen schönen Erfolg hoffe, behilflich zu sein. Wenn Sie Ihren Aufenthalt nicht allzu kurz bemessen, dürfte es sich ermöglichen lassen, Ihnen bei dieser Gelegenheit nützliche Verbindungen mit Vertretern der Presse und Kunstfreunden zu eröffnen, so daß die Reise nicht ohne einigen Nutzen für Sie wäre –«

207 ten Holten besann sich gar nicht lange. Er hatte ein Bild beendet und noch keine neue Arbeit begonnen, eine kurze Luftveränderung schien ihm sehr ratsam, denn das Erlebte lastete mit dumpfem Druck auf ihm, eine kurze rechnerische Aufstellung ließ ihm einen achttägigen Aufenthalt in Berlin durchaus statthaft erscheinen. Meisenfänger hieß ihn herzlich willkommen. In dessen Gemäldesalon wurde er ein Bild seines Düsseldorfer Genossen Herstall gewahr, von dessen Übersiedlung nach Berlin er Kenntnis hatte. Zwar war er mit ihm nie näher befreundet gewesen, hatte eher eine gewisse Antipathie gegen ihn gehabt, aber das Bild interessierte ihn; denn der begabte Künstler zeigte darin erhebliche Fortschritte, die auf neue Wege seines Schaffens wiesen. Das erweckte bei ihm die Neigung zu einem Atelierbesuch. Als er zu Meisenfänger davon sprach, sagte dieser: »Herstall, sehen Sie, das ist einer, der sich schnell in Berlin eine Stellung machen wird; ist schon im besten Zuge. Er versteht es auch, führt mit dem Gelde seiner Frau ein nettes Haus, hat seine Verbindungen und gräbt sich auch auf geschickte Art bei der Presse die zweckmäßigen Kanäle.«

Auch Herstall nahm ten Holten mit großer Liebenswürdigkeit auf, aus der ein klein wenig Überlegenheit herauslugte. Er stellte ihn seiner Frau mit burschikoser Laune als alten Studienfreund vor und lud ihn auch gleich zu einer kleinen Gesellschaft ein, die für den nächsten Abend anberaumt war. Im Gespräche erwähnte ten Holten Meisenfängers Versuche, ihn zur Übersiedlung nach Berlin zu bereden. Herstalls Überlegenheitsmiene machte sich noch deutlicher geltend, als er antwortete: »München ist allerdings eine Halbheit, mehr als unser gutes 208 Düsseldorf, aber doch ohne die Möglichkeiten, die hier geboten sind. Freilich arbeitet sich's dort bequemer, hier muß man höllisch dahinter sein, und es ist nicht mit der braven Arbeit getan, man braucht auch noch andere Hilfsmittel. Ohne diese bleibt einer besser wo er ist.«

Dabei sah er ten Holten an, als wollte er ihm einen sehr deutlichen Wink geben.

Die Abendgesellschaft war höchst anregend. Herstall verfügte über eine reizend behagliche, modern geschmackvolle Häuslichkeit. Alle Zurichtungen hatten vornehmes Gepräge. Die Zahl der Gäste war nicht sehr groß, aber jedermann, Damen wie Herren, waren eifrig bemüht, in ernsten und witzigen Wendungen zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen. ten Holten glaubte etwas wie einen förmlichen Wettlauf des geistigen Aufwandes zu erkennen, der die Leute zu sprudelnder Lebhaftigkeit anregte. Es fiel manches kluge Wort, das immer mit einer kecken Bestimmtheit, manchmal überlaut ausgesprochen wurde. Soweit von Kunst die Rede war, unterhielt man sich fast ausschließlich über Werke französischer Impressionisten, einige Namen von Berliner Malern wurden nebenher eingeflochten.

Im übrigen trieb sich ten Holten mit regem Eifer in Berlin herum, sah alles, was ihm von ernsterem Werte war und hatte auch ein aufmerksames Auge für das Bild der Straße, wo er Eindrücke des Großartigen sowohl wie des Geschmacklosen empfand, nie aber den der ruhigen Vornehmheit gewisser Münchener Stadtbilder. Auch vermißte er den reizvollen Klang des historisch Monumentalen sowohl, wie des altväterlich Bürgerlichen. Dagegen fühlte er sich fortgerissen und in eine besondere Art schwungvoller Erregung versetzt durch den Anblick des 209 reichbewegten Lebens, aus dem er den beschleunigten Pulsschlag emsig betriebsamer Menschen herausfühlte, und auch in den Gesichtern der an ihm vorüberziehenden Leute glaubte er die Merkmale gesteigerten geistigen Wesens zu erkennen. Herstall sowohl wie Meisenfänger bemühten sich, ihn mit mancherlei Leuten zusammenzubringen, deren Bekanntschaft ihn von der vielseitigen geistigen Regsamkeit der Berliner überzeugte, der er sich nicht ganz gewachsen fühlte, so daß er glaubte, auf diese einen provinziellen Eindruck zu machen. Als man ihm aber einige Male die Wunder des Berliner Nachtlebens offenbarte und ihn dadurch zu verblüffen suchte, zeigte er sich sehr kühl. Herstall gegenüber bezeichnete er diese Wunder als »Biesterei«, »Kirmeskram« und »faulen Zauber«, der ja ganz »pläsierlich«, aber manchmal auch »dreckig« sei; und über den »Kitsch« einer gewissen Prunkentfaltung an solchen nächtlichen Vergnügungsstätten entrüstete er sich geradezu. Er meinte, dieser Stil passe ganz zu den weiblichen Elementen des Publikums, die er mit vollster niederrheinischer Deutlichkeit kennzeichnete. Noch während seines Berliner Aufenthalts bekam er Besprechungen seiner ausgestellten Bilder in einigen Zeitungen zu lesen. Sie waren wiederum zum Teile nur ganz kurze Mitteilungen mit einer unbedeutenden wohlwollenden Bezeichnung; wenn sie etwas eingehender gehalten waren, gingen sie auch nicht über eine von oben herabklingende Freundlichkeit hinaus. In einer fand sich die Wendung: »Die Bilder zeigen eine größere Annäherung an die Errungenschaften des Impressionismus, als dieses bei der etwas rückständigen Münchener Landschaftsmalerei sonst der Fall ist, womit noch nicht gesagt sein soll, daß der Künstler auf 210 der vollen Höhe eines wirklich modernen Bewußtseins stehe.«

Diese Haltung der Presse war für ten Holten um so verstimmender, als dieselben Blätter auch Herstalls gleichzeitig ausgestelltes Bild besprachen und da ganz andere Töne anschlugen, indem sie von einem bereits dem Berliner Publikum vorteilhaft bekannten Künstler sprachen, der in dem vorliegenden Bild nur seine Vorzüge aufs neue bewähre. Die Abendgesellschaft bei Herstall kam ihm wieder in den Sinn und weiter dessen Bemerkung über die in Berlin nötigen Hilfsmittel, ohne die man besser bliebe wo man sei. Herstall hatte ja von Haus aus gewisse Vorteile gegen ihn voraus. Das war aber, wie zahlreiche Beispiele in der Kunstwelt zeigten, zu überwinden, und dieser Herstall war immer ein protziges Bürschchen gewesen, das sich auf seine Abstammung von reichen Aachener Geschäftsleuten etwas viel zugute tat. Man brauchte sich nicht verblüffen zu lassen. ten Holten brachte von Berlin starke Anregungen, eine lebhafte geistige Auffrischung mit, aber, wenn diese Berliner sich noch so klug gebärdeten, ein rheinischer Jung' hatte auch kein Häcksel im Gehirn, und für einen Dummkopf hatte den Pitter ten Holten noch niemand gehalten. Noch war's zu früh zu irgendeiner Entscheidung. Erst mußte noch mehr geleistet werden, daß man zuversichtlich auf sein Künstlertum pochen konnte, dann holte man sich ein nettes Frauchen – viel netter als die Frau Herstall war – und das auch etwas mehr mitzubringen hatte als die Nettigkeit. Die Romantik ist am Niederrhein nicht zu Hause, trotz dem Schwanenritter von Cleve und der Burg zu Xanten. In Berlin erst wieder als Junggeselle anzufangen, das 211 schien nicht empfehlenswert. Nicht lange nach seiner Rückkehr erhielt er von Meisenfänger die Nachricht, daß zwei seiner Bilder zu dem nicht geringen Preis, den er auf dessen Anraten gestellt hatte, verkauft seien.

Da ihn diesmal wieder ein einsames Weihnachtsfest bedrohte, begab er sich um diese Zeit neuerdings auf die Reise, und die Heimat war das Ziel. Er hatte schöne Geschenke für die Verwandten mitgebracht, und auch sein sonstiges Verhalten machte den Eindruck, daß er sich gewaltig herausgemacht habe und ein feiner Herr geworden sei, mit dem die Familie Staat machen könne. Als er die Möglichkeit einer Übersiedelung nach Berlin in Aussicht stellte, fand er allgemeine Billigung. Man wußte von München recht wenig, aber das schien doch eine ausgemachte Sache, daß es ganz etwas anderes bedeute, wenn der Pitter in der Reichshauptstadt mit seiner Kunst bestehen könne, als wenn er fortfahre, in München zu arbeiten. Im ganzen Ort behandelte man ihn als einen Mann, der es noch weit bringen würde. Er hatte jetzt schon einen Winterüberzieher an mit echtem Astrachanbesatz, und seine Anzüge zeigten besten Stoff und feinsten Schnitt. So »nobel« war er noch nie nach Hause gekommen. Er mochte ein ordentlich Stück Geld verdienen. Der Klügste von den ten Holtens war er immer gewesen, und man hatte sich seinerzeit gewundert, daß er es auf die Malerei abgesehen hatte; denn ein solider Mensch war er auch. Jetzt zeigte es sich doch, daß er das Richtige getroffen hatte. Schwindel war nicht dabei, denn er flunkerte nicht und tat nicht stolzer, als es in der Art von allen ten Holtens gelegen war, die es am Ende ja dazu hatten, sich für etwas Besseres zu halten. Und Pitter 212 fühlte jetzt auch wieder eine Stärkung seines Selbstgefühls, die ihm wohltat. Ihn dünkte, daß ein ten Holten recht wohl die geeignete Grundlage habe, weiter emporzukommen auf der sozialen Stufenleiter und sein Lebensplan gar nichts Vermessenes enthielt, denn niederrheinische Bauern von der Art seiner Familie waren vom gebildeten Bürgertum nicht so getrennt, wie ein oberbayerischer Bauernwirt, mochte dessen Haus sogar stattlicher aussehen, als das ten Holtensche.

In Düsseldorf machte er wieder seinen Besuch bei Benthoffs. Dort war ein zweites Knäblein angekommen, und August Einhorns Ehescheidung war zur Tatsache geworden, die geschiedene Frau mit ihren Eltern nach Köln hinübergezogen. Frau Benthoff erzählte ihm von schweren Kämpfen, die da auszufechten gewesen seien und die ohne ihre und ihres Gatten Beihilfe August wohl nie überwunden haben würde. Sie sagte bei dieser Gelegenheit: »Ich habe einen schrecklichen Einblick getan in das Unheil, das eine aus blinder Leidenschaft geschlossene Ehe in sich trägt. Die Frau war eines Tages bei mir und hat mir, als der Urheberin dieses Scheidungskampfes, eine Szene solcher Art gemacht, daß mein hinzugekommener Mann ihr die Tür weisen mußte. Hinter berückenden äußeren Reizen barg sich da eine Seele, in die offenbar niemals ein Lichtstrahl höheren Fühlens gekommen war. Nur von einem gräßlichen Rechte sprach sie, den Ehemann an sich zu ketten auf Lebenszeit und von seiner Pflicht, ihren Ansprüchen zu genügen. Dabei schmähte sie meinen Bruder und höhnte über seine Leidenschaft, die ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Da erfuhr ich, wie entsetzlich eine Frau ist, die mit einem schönen Leibe eine ungeratene Seele verhüllt.«

213 August Einhorn sagte ihm, daß er wohl eine Befreiung verspüre, aber auch eine Leere, bei der er fast Sehnsucht nach dem früheren Zustand hege. »Ich habe einmal gehört,« sagte er, »daß ein Landstreicher, den man in ein reinliches Bett legt, nach kurzer Zeit Sehnsucht danach hat, im Grünen zu schlafen. Ein solcher Vagabund bin ich schon geworden.«

Als ten Holten um Dreikönige, zu Beginn des Karnevals, nach München zurückkam, erfuhr er in der Pilsener Bierstube, Riederauer habe sich seit Weihnachten nicht mehr sehen lassen, und man brachte diesen Umstand mit der Kunde in Zusammenhang, daß er sich zu verheiraten gedenke, Die Braut sollte eine Kellnerin im Bamberger Hof sein. Die Neuigkeit berührte ten Holten so wunderlich, daß er gleich am nächsten Tage den Freund aufsuchte, ihm mitzuteilen, welche Gerüchte über ihn im Umlauf seien. Er wußte zwar, daß solche Begebenheiten nichts so ganz Außerordentliches in München waren, aber Riederauer war doch nicht der Mann dazu, erst recht nach dem Erlebnis, das ihn so schwer erschüttert hatte. Oder war gerade hierin der Schlüssel zu seinem Vorgehen zu suchen?

»Es ist ganz richtig, was du gehört hast,« sagte Riederauer mit ruhigem Ernst, als ihm ten Holten tastend und mit einem halben Lächeln die Kunde vom Stammtisch mitgeteilt hatte. »Am Standesamt und in der Kirche ist es angemeldet, und lange wird's also nicht mehr dauern, bis es eine Frau Riederauer gibt. Das hat die andere, die Unselige, zuwegegebracht.«

Als er ten Holtens gespannt fragende Miene sah, fuhr er fort: »Ich hab's nicht aus dem Kopf gebracht, daß letzten Endes doch nur meine Lumperei an allem schuld 214 gewesen ist. Ich weiß ja nur zu gut, daß derlei die Weiber reizt, auf einen Don Juan fallen sie gern herein. Wie ich dann die Rechnung gemacht hab', was bei der ganzen Hetz herausgekommen ist, und mich gefragt hab', ob's jetzt weitergehen soll, da hab' ich meine Sünden so im Parademarsch an mir vorbeiziehen lassen. Und da is so nebenher a kleines Büberl mitg'laufen, das jetzt bald in d' Schul gehen wird. Ich hab' bisher ordentlich zahlt dafür, aber weiter mich net drum kümmert. Jetzt auf einmal hat mi das Büberl nimmer loslassen. Ich hab' gewußt, daß es in Weilheim bei seiner Großmutter is. Na, da bin ich eines schönen Tages nausg'fahren. A strammer netter Bu is. Sauber gehalten war er auch. Aber die Großmutter hat einen kleinen Gemüs- und Obsthandel, und das Büberl ist halt a unkultiviertes Bürschel, das sich auf der Gass' herumtreibt. Ich hab' daran gedacht, wie so a Kind aufwachst und was einmal aus ihm werden soll. Nachher bin ich öfter nach Weilheim g'fahren, und schließlich bin ich in' Bamberger Hof hinein und hab' mir die Mutter erst einmal ang'schaut und ein bissel mit ihr g'redt. Sechs Jahr is's her, da war's ein bildsauberes blutjunges Wassermädel. Jetzt is blaß, blutarm, wie alle die Dinger in der schlechten Wirtshausluft werden, aber noch immer sauber und kann sich in einem ruhigen Leben wieder ganz gut rausmachen. Seit Weihnachten is sie in Weilheim bei der Großmutter und unserm Buben. Ich hab' nach niemandem was zu fragen. Ich probier's. Geht's schief – der Bu darf mi net im Stich lassen, der net!«

ten Holten wünschte ihm Glück, brachte es aber dabei nur zu einer befangen klingenden Redensart. Als er ihn 215 dann weiter fragte, ob er in letzter Zeit bei Ruwer gewesen sei, erwiderte Riederauer mit eifriger Gebärde: »Es ist mir wirklich nicht möglich gewesen. Die Angelegenheit hat mir viel Umständ' gemacht.«

ten Holten fragte weiter: »Darf ich ihm Mitteilung von deinem Vorhaben machen?«

»Freili, freili,« lautete die Antwort. »Ich mach doch kein Geheimnis daraus.«

Nach einer kleinen Weile setzte er mit einem scharfen Blick auf ten Holten hinzu: »Den Zusammenhang kann er ja doch nicht erraten.«

Jetzt erst erzählte ten Holten von dem früheren Verhalten Ruwers. Da faßte Riederauer seine Hand, schüttelte sie heftig und sagte: »Ich dank dir, dank dir tausendmal.«

ten Holten ging mißgestimmt vom Freunde. Da geschah etwas Abenteuerliches, was ihm nicht in den Sinn wollte. Er hatte Riederauers Lebensführung nie gebilligt, aber Glanz und Kraft war darin, Ausdruck einer starken Persönlichkeit war es gewesen. Eine Empfindsamkeit hatte ihn jetzt gepackt, über die er mit der Zeit wieder hätte hinwegkommen können. Da machte er aus einer Gemütserschütterung, aus einem geistigen Schwindelanfall eine Tat, die Unabänderliches schuf. Ist das die Art solcher Lebensstürmer, ist das bayerische Art? Ist's so etwas, wie die Geschichten, die man gelesen hat von wilden Rittern, die auf einmal Kartäusermönche wurden?

Der Karneval war da und die Eindrücke, die er voriges Jahr auf dem Studentenball gehabt hatte, wurden in ten Holten jetzt mit richtunggebendem Gewichte geltend. 216 Er wollte nichts mehr wissen von der heißen Luft, die in den Künstlerkreisen schwül brodelte, dieses gebildete, in ruhiger Gesittung heitere Bürgertum mit dem harmlosen Reiz tanzfroher Mädchenblüten war der Boden, auf dem er sich fürderhin bewegen und vielleicht an seiner Zukunft weiterbauen wollte. Es war nicht schwer, Zutritt zu den verschiedenen Tanzgelegenheiten zu finden. Schon am ersten Abend stieß er wieder auf die Familie des Malers Kindler mit den beiden lieblichen Töchtern. Nach einer solchen Ballnacht war es schwer, rechtzeitig an die Arbeit zu kommen, und ten Holten saß eines Morgens in ziemlich matter Stimmung vor der Staffelei, sich selbst Mahnungen erteilend, daß die Karnevalsfreuden nicht allzu sehr ausgedehnt werden sollten, als Ruwer bei ihm eintrat. Er besann sich darauf, daß er ihn zu sehr vernachlässigt habe, und trat ihm mit einiger Befangenheit entgegen. Ruwer sagte ihm ohne Vorwürfe oder Frage: »Ich komme mit einer Bitte an Sie, lieber Landsmann. Könnten Sie nicht Riederauer fragen, ob er für das Grab meiner Frau einen bescheidenen künstlerischen Entwurf machen wolle. Es leitet mich da ein gewisses Gefühl, daß ich ihm in Gedanken Unrecht getan habe, und ich möchte mich auf diese Weise vor mir selbst entlasten.«

ten Holten ahnte da irgendeine neue Verwicklung, und müde, wie er sich fühlte, antwortete er beinahe mürrisch: »Warum wenden Sie sich nicht gleich selber an ihn? Sie müssen sich ja später doch mit ihm bereden.«

Darauf antwortete Ruwer stockend: »Wenn er es zugesagt hat, dann will ich weiter mit ihm sprechen.«

»Trotz meiner Versicherungen sind Sie, scheint es, doch noch nicht unbefangen gegen ihn,« sagte ten Holten darauf.

217 »Das ist es nicht, ganz gewiß nicht«, versicherte Ruwer.

»Wissen Sie schon, daß er demnächst heiraten wird?« sagte ten Holten jetzt und gab nähere Erklärungen.

»Das ist aber sonderbar nach so vielen Jahren,« sagte Ruwer darauf.

»Er tut es eben des heranwachsenden Jungen wegen,« lautete ten Holtens Antwort.

»Er hat nie etwas von einem solchen Jungen gesagt,« meinte Ruwer wiederum, »an dem er doch besonders hängen muß.«

ten Holten antwortete: »Es war da, wie es meist geschieht, er hatte sich bisher um das Kind über seine Verpflichtungen hinaus gar nicht gekümmert und jetzt ist er anderen Sinnes geworden. Mir ist die Sache auch etwas befremdlich, aber es tobt sich jeder einmal aus, und er hat eben seine eigene Weise, mit der Vergangenheit fertig zu werden.«

Ruwer sah ten Holten jetzt starr an und sagte: »Befremdlich ist es Ihnen also auch? Meinen Sie nicht, daß diese Wandlung besondere Ursachen hat?«

ten Holten kannte diesen Blick und wußte nun, daß die frühere peinliche Szene sich wiederholen würde, während er zugleich fühlte, daß seine geistige Spannkraft augenblicklich sich für eine geschickte Abwehr unzulänglich zeigen mochte. Beinahe unwirsch klang es, als er antwortete: »Ich zerbreche mir nicht den Kopf über die Angelegenheiten anderer Leute. Das sind Sachen, die jeder mit sich selber ausmachen muß.«

Ruwer zauderte eine Weile. Dann sagte er: »Das ist ein Schritt der Reue und Buße. Ich weiß, woran ich 218 bin. Sie haben mir damals nicht die Wahrheit gesagt über – – meine Frau.«

Seine unstet rollenden, funkelnden Augen hatten jetzt beinahe den Ausdruck eines Irrsinnigen.

»Was fällt Ihnen ein!« rief darauf ten Holten. »Seien Sie doch vernünftig, Ruwer. Ich habe Ihnen doch die bestimmtesten Versicherungen gegeben.«

»Dann hat er Sie belogen!« rief Ruwer in gesteigerter Erregung.

»Das hat er nicht,« entgegnete ten Holten. »Sie tun ihm Unrecht, und dagegen muß ich ihn schützen. Ich bitte Sie dringend, kommen Sie von diesem Gedanken ab.«

Er fühlte, daß die Lage höchst schwierig wurde, wenn es nicht gelang, den unglücklichen Menschen von der neuen Spur, die er gefunden zu haben glaubte, wieder abzulenken. Dieser sagte jetzt ganz ruhig, aber mit lauerndem Blick: »Woher wollen Sie denn wissen, daß Sie nicht von ihm belogen worden sind?«

»Daß weiß ich aus der Art, wie er mit mir sprach. So verhält sich kein Lügner.«

»Ja, was habt ihr denn eigentlich so besonders über den Fall sprechen können?« fragte Ruwer weiter. »Ihr konntet doch nur überrascht sein und ihn unerklärlich finden wie ich.«

»Riederauer hatte tiefes Mitleid mit Ihnen, und dem gab er wärmsten Ausdruck,« antwortete ten Holten nicht ohne eine leise Unruhe, die Ruwer zu bemerken schien.

»Was anderes haben Sie also nicht bemerkt, als Mitleid mit mir?« fragte er.

Ehe ten Holten antworten konnte, fuhr er fort: »Sie sind zwar mein Landsmann, aber Riederauer steht Ihnen 219 näher. Ich will jedoch der Sache endlich auf den Grund kommen. Um das Andenken meiner Frau geht es mir. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Ihnen nichts Nachteiliges meiner Frau bekannt ist.«

»Aber Ruwer, das ist doch – –«

»Ihr Ehrenwort will ich. Wenn Sie es weigern, dann weiß ich ja auch Bescheid.«

ten Holten machte eine unwillige Miene. Ehe er aber sprechen konnte, rief Ruwer wiederum: »Ihr Ehrenwort, ich bitte um Ihr Ehrenwort.«

Er war bleich, seine Hände bebten, und auf seinen Lippen glänzte der Speichel. Nach einer kurzen Überlegung sagte jetzt ten Holten: »Also ich gebe mein Ehrenwort, daß Riederauer keine Schuld an dem Tode Ihrer Gattin trifft. Meine früheren Versicherungen hätten Ihnen genügen können.«

Ruwer starrte ihn wieder an und sagte dann kopfschüttelnd: »Es ist etwas in Ihrer Miene, das mir nicht gefällt – –«

»Jetzt, lieber Ruwer, muß ich aber doch ernstlich bitten!« rief ten Holten darauf.

In einem kläglichen Ton sprach jetzt Ruwer: »Täuschen Sie mich nicht mit Spitzfindigkeiten, mit listig gelegten Worten! Ich will mich ja ganz still halten, wenn ich die Wahrheit weiß, Riederauer gar nicht lästig werden – – nur die Wahrheit! Ich bin doch nicht wahnsinnig, ich fühle aber wieder Spuren, die auf etwas hindeuten, was man mir vorenthält. Ich will keine Schonung, die wird zu größerer Qual als noch so üble Gewißheit!«

Jetzt fand ten Holten keinen Weg mehr, den Mann weiter zu beschwichtigen. Da konnte nur noch größeres 220 Unheil angerichtet werden, und er selber fühlte sich auch nicht mehr zu längerem Widerstand gerüstet. Es kam eine Erschlaffung der Nerven über ihn.

»Ich habe es gut gemeint,« sagte er, »aber Sie zwingen mich zu einer Aussage, die mir sehr leid ist. Das Ehrenwort, das ich Ihnen eben gegeben habe, kann ich aufrecht erhalten, aber Ihre Frau ist dennoch nicht verunglückt.«

Seine knappe Erzählung von dem Besuche der Toten bei Riederauer hörte Ruwer aufmerksam an.

»Sie nahm das Geld nicht, sondern stürzte aus der Wohnung,« schloß er.

Erst schien Ruwer völlig verständnislos. Dann stieß er einen gellenden Schrei aus und barg das Gesicht, aufschluchzend, in den Händen. Nach einer Weile griff er nach dem Taschentuch, trocknete sich die Tränen und sagte: »So schlecht ist ein Mensch doch nicht, daß er eine Frau wider besseres Wissen derartig anschuldigt. Was sie an mir gesündigt hat, vergebe ich ihr, aber daß ich meine Kinder über ihre Mutter belügen muß, das ist hart – – – Jetzt bin ich ruhig, ganz ruhig. Sie hätte nie mit Riederauer zusammenkommen sollen. So einer, der als Sieger durch das Leben dahinstürmt, reizt manche Frauen, und ich hatte nichts von einer Siegernatur an mir. War nur so ein Malerlein, das die Seinen lieb hatte, wie's der Brauch der einfachen Leute ist. Riederauer kann nichts dafür, daß er mir das Haus in Brand steckte. Ich glaube es jetzt, sagen Sie ihm das.«

»Wir hätten es Ihnen so gern erspart,« unterbrach ihn ten Holten.

»Ich packe jetzt meine Kinder auf und gehe mit ihnen nach Wasserburg.« fuhr er fort. »Dort schaff' ich mir ein 221 neues, stilles Leben. Hätte noch wegen des Mietvertrages abwarten sollen, das kann ich jetzt nicht mehr. Was mich umgibt, ist mir leid geworden. Träumen heißt es, nur träumen. Die Wirklichkeit ist nicht schön. Hab's geahnt und mir mit Lächeln darüber geholfen. Mit dem Lächeln geht es nicht mehr. Da muß jetzt andere Hilfe kommen. Der liebe Gott wird sich meiner und meiner armen Kinderchen schon erbarmen.« Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, streckte ten Holten die Hand entgegen und sagte: »Ich war so aufgeregt und bin Ihnen lästig geworden. Verzeihen Sie und besuchen Sie mich einmal. Es ist ja nicht weit.«

»Ich komme,« entgegnete ten Holten mit Bewegung. »Und mög' Ihnen Ihr Schaffen wieder die Seele stärken.«

»Schaffen,« antwortete Ruwer, »ja – – träumen. Träume, die von Gott kommen, die, die brauche ich.«

Damit ging er.

 


 


 << zurück weiter >>