Karl von Perfall
Der kluge Pitter
Karl von Perfall

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Viertes Kapitel

Wie man erwartet hatte, waren die Ausstellungsanlagen der Mittelpunkt eines regen gesellschaftlichen Sommerverkehrs geworden. An ihm beteiligte sich ten Holten mit großem Eifer. Jeden Nachmittag, wenn sich die Sonne neigte, kam er über die breite Straße längs der Hauptgebäude mit selbstbewußter Gebärde herangeschritten und fand nach einigem Hin- und Herwandeln, das manchen Anlaß zu Begrüßungen gab, einen ihm passenden Platz bei diesen oder jenen Vertretern der besten Kreise, die er am Hagenbachschen Sommerfeste kennen gelernt hatte. Seine Art wurde auch von sonst spröden Persönlichkeiten nicht als zudringlich empfunden. Aus ziemlicher Entfernung streckte er schon den Strohhut weit von sich und zeigte dabei ein vergnügtes Lächeln, als brächte er eine höchst belustigende Neuigkeit. Meist fand er auch die Möglichkeit, sich mit irgendeinem scherzhaften Worte einzuführen. Auch die Hochmütigsten nahmen ihn mit wohlwollendem Lächeln auf, anderen war er ein willkommener Gesellschafter. Er gehörte nicht zu der am Rhein häufigen Sorte der Spaßmacher und Witzbolde, die über ihre eigenen Scherze selber am meisten lachen, aber es kam immer wieder die eine oder andere Bemerkung von seinen Lippen, die allgemeine Heiterkeit erweckte, und besonders lustig wurde es, wenn noch ein witziger Kopf sich dazu fand und zwischen beiden ein schlagfertiges Rededuell entstand. Aber auch bei den jungen Mädchen machte er sich dadurch beliebt, daß er sich eine gute Weile keck von ihnen necken ließ und dann plötzlich zu einem Fechterhieb ausholte, der kreischendes 50 Gelächter hervorrief. Dabei war er neuerdings sehr gut gekleidet und sichtlich darauf bedacht, in seiner Haltung keinen Fehler zu begehen.

Sehr aufmerksam verfolgte Hedwig Einhorn, die mit ihrem Vater fast täglich in den Ausstellungsanlagen verkehrte, sein Verhalten, und ihm entging diese Aufmerksamkeit auch nicht. Er sprach sie oft nur im Vorübergehen an, weil ihm das saure Lächeln zuwider war, das der Alte seinen scherzhaften Bemerkungen entgegensetzte. Es kam aber ziemlich häufig vor, daß der Fabrikant Benthoff bei ihr saß, mit dem er sich ja bei Hagenbach so gut angefreundet hatte. Dann begrüßte er diesen sehr herzlich und spielte den dritten Mann. Benthoff war kein Konversationskünstler, und obwohl sie damals allerlei Ulk miteinander getrieben hatten, verfügte er auch nicht über schlagfertigen Humor. Er ließ ten Holten bereitwillig das Feld für seine Späße, die dieser dann, wie es Hedwig scheinen wollte, mit besonderem Eifer vom Stapel ließ.

August Einhorn war nicht allzuoft auf der Ausstellung zu sehen. Wie er ten Holten sagte, und wie dieser begreiflich fand, war er mit den Vorbereitungen für seinen neuen Auftrag sehr beschäftigt. Dagegen trieb sich Herstall viel bei den jungen Damen herum. ten Holten erfuhr nun eines Abends in der Stammkneipe, daß Einhorn sowohl wie Herstall eifrig hinter Mäxchen Stichacker her seien. Man sprach die Meinung aus, Mäxchen sei ein schlauer Racker und könnte es diesmal, da es sich um Bewerber handle, die beide aus wohlhabendem Hause seien, recht wohl auf ein solideres Ziel anlegen als bisher, indem es beide solange an der Nase 51 herumführe, bis vielleicht einer von Leidenschaft so erhitzt sei, daß er ihr den höchsten Preis für ihre Gunst, ein Heiratsversprechen, biete. Man war allgemein der Ansicht, daß dies Herstall jedenfalls nicht sein dürfte. ten Holten beschloß, bei nächster Gelegenheit August Einhorn auszuforschen. Er tat dies in der Form, daß er zum Freunde sagte: »Dieser Herstall ist doch en usjelernter Stropp. In der Ausstellung draußen zieht er von einem Ende bis zum anderen und komplementiert und parliert sich bei die Mächers reihenweise durch. Wenn er dann wieder in die Stadt kommt, ist er hinter dem Mäxchen Stichacker her.«

»Weiß ich,« antwortete August. »Aber er erreicht nichts beim Mäxchen. Das ist nicht so mir nichts dir nichts zur Kurzweil zu haben, wie er sich einbildet.«

»Na, für besonders spröde halte ich das Mäxchen nicht,« bemerkte jetzt ten Holten.

August erwiderte in einem Ton, aus dem die Absicht der Verteidigung mit deutlicher Wärme herausklang: »Sie ist ganz sich selbst überlassen und weiß mit der Zeit nichts anzufangen, als möglichst herumzubummeln. Auf diese Weise ist sie einigermaßen zweideutig geworden. Das stimmt. Aber sie wirft sich nicht an einen Menschen wie Herstall weg, dessen Absichten sie recht wohl durchschaut.«

»Du kennst sie ja sehr genau,« bemerkte ten Holten jetzt.

»Ich komme auch häufig mit ihr zusammen,« lautete die Antwort, »und zu mir spricht sie sich sehr offen aus. Im Grunde ist sie ein herzensgutes Ding, das eben in traurigen Verhältnissen steckt, an denen es keine Schuld hat.«

»Nu hör mal, mein lieber August,« sagte jetzt ten Holten, »du wirst ja beinahe sentimental. Bisher war das nicht 52 deine Art. Ich meine vielmehr, du hättest Herstall, was die Weiberfrage angeht, nichts vorzuwerfen.«

»Bitte sehr,« warf August ein, »ich habe immer andere Anschauungen gehabt als Herstall. Ich bin eine leidenschaftliche Natur, er ist frivol.«

»Und beide wollt ihr das Mäxchen haben,« sagte ten Holten trocken.

August bemerkte jetzt ganz mürrisch: »Du hast mehr als einmal zu mir gesagt, ich sollte dich mit meinen Weibergeschichten verschonen. Warum interessierst du dich denn auf einmal für dergleichen?«

»Tue ich gar nicht,« entgegnete ten Holten. »Ich habe ja zunächst nur von Herstall gesprochen.«

»Und ich sage dir nochmals, Herstall bemüht sich vergebens,« rief August jetzt mit lautem Nachdruck.

»Meinetwegen!« bemerkte ten Holten darauf sehr kühl. »Mir ist's auch nicht um die Tugend des Fräulein Stichacker zu tun, sondern darum, daß du keine Biesterei machst.«

»Das sind meine Sachen!« antwortete August ihm unwillig.

»Schön, also Schluß,« sagte ten Holten und wußte gerade genug.

Am letzten Sonntag des Juli und den folgenden Montag war in seinem Heimatdorfe Kirmes. Da hatte er noch nie gefehlt. Am Abend des Samstag traf er zu Hause ein. Zu beiden Seiten der Landstraße, die das Dorf durchquerte, zogen sich die Häuser mit den Gärten hin. Die Wirtschaftsgebäude lagen meist nach rückwärts, aber große Tore neben den Wohnhäusern wiesen auf sie hin. Ungetünchte Backsteinbauten mit grünen Fensterläden 53 waren es gewöhnlich, die besseren sauber mit weißer Farbe ausgefugt. Die allerfeinsten aber waren noch mit gelben Blendsteinen um Fenster und Türen ausgeziert. Das ten Holtensche Gasthaus und Handelsgeschäft war sogar mit weißgrauem Ölanstrich versehen, nur der anstoßende langgestreckte Saal war in der Art der sonstigen Häuser ein weißgefugter und mit Blendziegeln an den Fenstern geschmückter Backsteinbau. Ganz neumodisch, wie eine Villa, stand dem ten Holtenschen Besitz gegenüber die Bürgermeisterei da, aus Bruchsteinen mit Fachwerkgiebel und Erkertürmchen. An der Bürgermeisterei bog die Kirchstraße mit einigen niederen Häuschen ein. Vom ten Holtenschen Hause sah man gerade auf den Friedhof und die Pfarrkirche darin, auf deren breiten viereckigen Turmbau man seinerzeit wohl aus Geldmangel das Schieferdach mit endlos lang verlaufender Spitze um einige Meter zu früh aufgesetzt hatte. Vor dem Friedhof lag ein nicht großer, mit noch jungen Akazien bepflanzter Platz mit der Pfarrwohnung, »die Pastorat«, wie es hierzulande hieß, und einem kleinen Wirtshaus gegenüber, das trotz seiner größeren Nähe dem ten Holtenschen Geschäft, in das man auf dem Nachhausewege von der Kirche geradezu hineinrannte, keine ernstliche Konkurrenz bereitete. Abseits von der Landstraße, an schmalen unregelmäßig verlaufenden Gäßchen lagen noch einige kleinere Häuser und Gärten ärmerer Leute. In der Hauptsache bildete die lange Häuserzeile an der Straße das ganze Dorf. Es lagen aber noch in allernächster Umgebung verschiedene große Gehöfte über das flache Land verstreut, die zum Dorf in enger Beziehung standen.

54 Am Sonntag, sobald die ersten Menschen nach dem beendeten Gottesdienst aus dem Friedhof heraustraten, setzten die am Kirchplatz aufgebauten Karussells mit ihren Orgeltönen ein, und die festlich gekleidete Jugend beiderlei Geschlechts vom vierten bis vierundzwanzigsten Jahre bemächtigte sich der Pferdchen und Wagen. Die halbwüchsigen Burschen bevorzugten zumeist eine Schiffsschaukel. Da die Kirchstraße zu schmal war, zerfiel der Kirmesmarkt in zwei Teile. Die Buden mit Spielwaren und Leckereien reihten sich die große Straße entlang. Wo in südlicher Richtung die Häuser aufhörten, waren dann noch auf einer Wiese die zwei Wanderwagen einer Seiltänzergesellschaft aufgestellt, wenige Schritte vom ten Holtenschen Gasthause entfernt. Die Gesellschaft sollte ihre Künste am Abend um acht Uhr zeigen, wie ein Reiter, immer aufs neue sich mit einem Trompetenstoße ankündigend, an der Straße entlang ausrief. Das rechte Leben setzte erst am Nachmittag ein, als der Festbraten in allen Familien verdaut war und der Zuzug aus den Nachbarorten herankam. Peter ten Holten schlenderte am Kirchplatz bei den Karussells und auf der Hauptstraße herum und wechselte mit Männlein und Weiblein Händedrücke und Begrüßungen, setzte sich auch zu einer Flasche unter Jugendfreunden in den väterlichen Saal. Der Saal war voll, und die beiden aus Wesel berufenen Kellner gerieten in hellen Schweiß bei der Mühe, die Gäste schnell genug zu bedienen. Nur Wein wurde getrunken, die billigste Flasche zu zwei Mark. Wer einigermaßen aus sich hielt, bestellte eine um drei oder um vier Mark. Bier war am Kirmes so gut wie verpönt. Man tut Geld in seinen Beutel, wenn am Niederrhein Kirmes 55 ist, man hat es dazu, und wenn auch in dieser Gegend nirgendwo ein Rebstock stand, so wohnte man doch an den Ufern des Rheins, so gut wie die Leute zwischen Rüdesheim und dem Drachenfels. Die Kölner Händler, die den Kirmeswein lieferten, wußten wohl, daß ein solcher für die Gegend kein allzu zartes Getränk sein durfte, sondern gleich feurig durch die Kehle rinnen mußte. ten Holten kannte diesen Geschmack seiner Landsleute und war vorsichtig. Als er den Gespielen der Kindheit vorläufig genug Bescheid getan zu haben glaubte, trat er wieder ins Freie. Die Sonne war untergegangen, lichte Abenddämmerung lag über dem Dorfe. Am Karussell-Lärm vorbei längs der Kirchhofmauer schritt er langsam dahin. Gemüsegärten, eine Strecke hohen, der Schnittreife nahen Roggens, dann ging der leidlich gut gangbare Gemeindeweg durch ein kleines Gehölz und weiter in Wiesenland hinein. Ein Viertelstündchen war Peter so dahingeschlendert, dann stand er vor dem Strome. Ähnlich war das Bild wie bei Düsseldorf, und doch holte es andere noch viel stärkere Stimmung aus dem Gemüte. Man ahnte die Stadt nicht in der Nähe. Herrliche große Einsamkeit waltete und lautlose Stille, die ersten Sterne flimmerten am Himmel, von dem zarteste Bläue über die Landschaft niederging, die Farben des Tages auswischend, aber Helle und Dunkelheit scharf voneinander scheidend. Bläulich behaucht, an mancher Stelle ins Schwarze sinkend, trieb der Strom seine stille Bahn in die Nacht hinein und zog das Auge lockend mit sich. In ziellose Weiten schweiften Gedanken, Sehnsüchte stiegen auf, und fragend suchte die Seele im Weiten herum, war dann wieder gebannt ans Nahe, das vor den Füßen lag, und der Strom, 56 der erst gelockt hatte: »Komm mit!«, raunte: »Ich kann nicht rasten, du bleibe, bleib' im Land.« So köstlich behaglich war es heute im Elternhause gewesen, die ganze Familie beisammen. Was hat man von den feinen Damen und Herren in Düsseldorf? Das geben sie nicht, was so ein Kirmes-Essen daheim bedeutet. Man kommt nicht zu dem köstlichen warmen Behagen bei ihnen. »Minge Lück!« »Meine Leute«, das ist doch ein Wort von ganz besonderer Bedeutung, bei dem das Blut wärmer wird und die Brust in einer stolzen Zärtlichkeit sich wölbt.

Nach einiger Zeit kehrte Peter dem Strom mit langsamer zögernder Wendung, und sich noch einmal zu kurzem Rückblick drehend, den Rücken, um wieder den Kirmessaal aufzusuchen, in dem sich jetzt wohl auch schon die Familie eingefunden haben mochte, die ihn erst allein hatte ziehen lassen, weil man seine Art kannte, und die Kindheitsfreunde zu begrüßen. Wie er nun so dem Dorfe zuschritt, da lösten sich die Gefühle wie Nebeldunst auf, und im Gehirn saß auf einmal ein grübelnder Geselle, der also räsonnierte: »Das ist alles gut und schön, aber praktischen Wert hat es gar keinen. Gefühlsduselei ist es. Du mußt dich davon losmachen, Pitter, sonst versumpfst du, du mußt aus Düsseldorf heraus. Das ist nicht der richtige Platz für deine Entwickelung. Das hast du nicht nur aus Paris mitgebracht, das fühlst du auch in der Ausstellung, so oft du die Münchener und ihre vollsaftige, frisch zugreifende Kunst siehst. Diese Düsseldorfer Kunst ist vornehme, saubere, solide Arbeit, so recht für die Stuben wohlhabender, feingesitteter Leute, die nichts Lautes, Verwegenes um sich haben wollen. Aber es fehlt 57 an Blut. Das könnte schon, hat nur den Mut nicht zum Starken, packt die Natur nicht mit beiden Händen ungestüm begehrend an, sondern betastet, streichelt sie nur, beriecht die Rose, aber pflückt sie nicht. Was ist dir Düsseldorf? Hängst nur daran, weil dort auch Rheinwasser vorbeifließt, wie am Heimatdorfe. Du bist nun einmal ein Künstler geworden, und der kann nicht in einem Dorfe kleben bleiben. Du mußt ein Mann sein und mit diesen Empfindsamkeiten aufräumen, wenn etwas aus dir werden soll.«

Dem gar so klugen Burschen war nun freilich entgegenzuhalten, daß die Dinge in Düsseldorf sich ausgezeichnet anließen, seit er bei Hagenbach in die Gesellschaft eingeführt worden war. Das Atelier war jetzt völlig aufgeräumt, und er hatte darin mehr Bilder stehen gehabt, als ihm lieb gewesen war. Da fragte es sich nun doch, ob es gar so klug sei, solche Erfolge zu übersehen und auf fremdem Boden von vorne anzufangen. Das hatte er schon mehrmals gehört, daß, was das Geldverdienen angehe, die Lage in Düsseldorf günstiger sei als in München. Mit dem Geldverdienen faßte man aber recht festen Boden in der feinen Gesellschaft, und das war's gerade, was er gar nicht gleichgültig nahm, was ihm mit dem künstlerischen Ansehen eng zusammenhing. Da konnte man in ein paar Jahren daran denken, ein Mädchen aus gutem Hause zu heiraten, so was wie die Hedwig Einhorn . . . Seine künstlerische Entwicklung war die Hauptsache, gewiß. Aber ins Abenteuerliche wollte er sich damit nicht begeben. Das war nicht niederrheinische Art, lag einem ten Holten nicht im Blute.

58 Im Saal saßen schon am langgestreckten Tisch der besseren Gäste seine Angehörigen und bei ihnen der Gutsbesitzer Westhöfer, dessen schöne Besitzung zwanzig Minuten ostwärts vom Dorfe lag, mit dem ältesten Sohn, der Tochter Settchen und dem zweiten Sohn, der in Straßburg bei den Ulanen diente und auf Urlaub gekommen war. Zwischen den ten Holtens und den Westhöfers bestand eine alte vertraute Freundschaft. Peter wurde daher auch, namentlich von Vater Westhöfer und Settchen, mit heiterer Herzlichkeit begrüßt. Settchen war ein zwanzigjähriges Mädchen von demselben Schlage, wie die meisten im Saal, blond, blauäugig, das Gesicht stark gerötet, mit kräftigem Busen und strammen Oberarmen. Sie trug eine elegante hellgrüne Seidenbluse mit Spitzenkragen und ein goldenes Kettchen mit nicht ganz gewöhnlichem Medaillon am Halse. Zwei Jahre war sie drüben in Holland bei den Nonnen gewesen und hatte andere Haltung und andere Sprechweise, als die Bauernmädchen.

Es wurde mit der Zeit schwül im Saal. Settchen fächelte sich anhaltend mit dem Taschentuch. Da und dort gingen junge Leute hinaus ins Freie. Peter sah sich endlich auch veranlaßt, Settchen zu fragen, ob es vielleicht einen kleinen Spaziergang machen wolle. Sie war sofort damit einverstanden. Man stand in Gruppen vor dem Gasthaus und ging dann paarweise die Dorfstraße auf und nieder, zweigte auch nach dem Kirchplatz und den Karussells ab. Settchen sagte nach einer Weile, als Peter von seinen jüngsten Erfolgen und weiteren Hoffnungen gesprochen hatte, sie trage sich mit dem Gedanken, nach Düsseldorf oder Köln in eine Stelle als »Stütze« zu gehen. Da Peter meinte, das hätte sie doch 59 nicht nötig, und sie mache sich wohl keine richtige Vorstellung von einer solchen Stelle, klagte sie über die unerträgliche Einförmigkeit ihres Daseins. Peter wußte recht wohl, daß die Westhöferschen Familienverhältnisse nicht sehr erquicklich, wenn auch nicht gerade unglücklich waren. Seit vor sechs Jahren der jüngste Sohn beim Baden in einem Abwasser des Rheins ertrunken war, hatte sich die Mutter einer übertriebenen Frömmigkeit hingegeben, die sie gänzlich teilnahmslos für alles Weltliche machte. Dadurch war der Vater, im Grunde ein sehr tüchtiger Landwirt, dazu gekommen, sich unter allerlei geschäftlichen Vorwänden in benachbarten Städten, Wesel oder Cleve, herumzutreiben, auch dann und wann Ausflüge nach Köln, wo es so amüsierlich war, zu machen. Der älteste Bruder war ein schwerfälliger, mundfauler Mensch von geringem Verstande, der jüngere war, ehe er diente, auswärts in der Forstlehre gewesen und sollte nach der Militärzeit beim Grafen Hoensbroech in Geldern oder bei der fürstlich Arenbergschen Forstverwaltung Stellung finden. Da blieb für Settchen nicht viel Lebensfreude übrig. Aber Peter stellte ihr weiter vor, daß sie doch den ganzen Haushalt besorgen müsse und Vater und Bruder nicht im Stiche lassen dürfe. Sie meinte, das müsse sie ja doch, wenn sie heirate, und das könne sie in der Stadt eher, als hier auf dem Lande, wo es nur wenig passende Männer für sie gebe. Sie klagte weiter und wischte sich sogar die Augen mit dem Taschentuch. Dabei waren sie vom Kirchplatz weggekommen und gingen hinter dem Dorfe längs den Heckenzäunen der Gärten dahin. Peter hatte das gar nicht beachtet, sondern sich von dem Mädchen führen 60 lassen, dem er beinahe gedankenlos den Arm um die Schultern gelegt hatte, es leise an sich drückend. Sie schmiegte sich noch dichter an ihn mit einer Neigung zur Seite, weil er etwas kleiner war als sie. Die Nacht war lau, er fühlte, daß sich das junge rheinische Blut in dem kräftigen Mädchen rührte, und seine Hand drückte das volle Fleisch ihrer Oberarme, tastete in die Gegend der Brust. Sie litt es gern und seufzte dazu. Er küßte sie, sie küßte wieder. Juli war's und Kirmes dazu. Die Hecken hörten auf. Im hochstehenden Roggenfelde raschelte es und klang's wie Gemurmel unterdrückter Stimmen. Sie kehrten um.

Der Kirmessonntag war wohl der Tag des Hauptzulaufes, aber der Montag bot erst des Festes feineren Teil, den Ball. Der Verabredung zufolge war Peter am Nachmittag zu den Westhöfers Kaffeetrinken gegangen, was ein paar gute Flaschen und einen kräftigen Imbiß in sich schloß, dann gegen acht zog die ganze Gesellschaft wieder nach dem ten Holtenschen Gasthaus zum Ball. Da knallten am Tisch der »Besseren« die Sektpfropfen, und Peter, der unentwegt tanzte, goß nach jedem Tanz den schäumenden Trank mit fröhlicher Begierde hinunter. Als die große Pause kam, hatte er gerade mit Settchen einen Rheinländer getanzt. So kam es, daß er auch mit ihr zur Kühlung auf die Straße trat. Es kam wie gestern, nur ging der Weg diesmal in der Richtung zum Strome und zum Gehölz, das davor lag. Settchen hatte auch Sekt getrunken und war lustig und herzhaft zutunlich geworden. Nur einmal im Jahr war Kirmes, und dann war wieder alles so öde. Kühl wehte es vom Strome her, Das tat wohl. Etliche Paare gingen 61 voraus auf das Gehölz zu. Settchen wollte mit ihnen nicht zusammentreffen. Sie selber bog hinter den Gemüsegärten in den schmalen Wiesenpfad ein. Der führte in die äußerste Ecke des Gehölzes an einen jungen Kiefernschlag.

Man konnte ihm nicht vorwerfen, daß er Settchen Westhöfer verführt habe. Aber die heißen Regungen des armen, einsamen Mädchens hatte er ausgenutzt. Das war nicht schön, das verdarb den Nachklang all der traulichen Stimmungen, deren Erinnerung er gern nach Düsseldorf mitgenommen hätte, wenigstens einige Tage davon zu zehren. Peter ten Holten war sehr unzufrieden mit sich selber. Gegen die Heimat hatte er sich versündigt und mit törichter Roheit ein Heiligtum des eigenen Gemütes beschädigt. Während der einsamen Arbeit lenkten sich seine Gedanken immer wieder auf diese Begebenheit, die sich nun einmal nicht behandeln ließ, wie bei einem jener Düsseldorfer Mädchen, die mit den jungen Malern herumschäkerten und auf eine kaum ernst gemeinte Einladung gleich ins Atelier gehupft kamen. Das konnte sich dahin wenden, daß er vor die Frage kam, das Settchen zu heiraten oder in der Heimat unmöglich zu werden. Das Settchen heiraten . . . Man brauchte sich nicht gerade zu schämen mit ihr, aber in das Haus des Kommerzienrats Hagenbach hätte sie doch nicht gepaßt, ein Hemmnis wäre es gewesen für die Zukunft, eine höchst verhängnisvolle Sache. So etwas tut ein leidenschaftlich Verliebter, und er war doch nicht verliebt in das Mädchen. Sonst war er immer im Spätherbst auf ein paar Wochen heimgefahren und hatte draußen gemalt. Sollte er sich diesmal, wie er es schon öfter geplant hatte, ein anderes Studienfeld aussuchen? Oder war es 62 vielleicht am besten, gleich Stellung zu nehmen, und ihr deutlich zu machen, daß seine Wege solche seien, auf denen sie ihn nicht geleiten könne? So ruhig hatte er bisher nur seiner Kunst gelebt und hatte nichts an sich herankommen lassen, was störend, ablenkend wirken konnte. Torheit war es ihm gewesen, wie August Einhorn und andere sich verzettelten. Jetzt saß er selber in einer Verwickelung, die ihn empfindlich bei der Arbeit störte. Und das einer Kirmesstimmung halber. Das konnte so nicht weiter fortgehen. Er lebte sich in brutale Gedankengänge ein, die ihn mit Zorn gegen dieses Settchen Westhöfer erfüllten, das dumme Ding, das mit seiner losgelassenen Lebensgier ihn zu einem Verhalten getrieben hatte, an das er diesmal ebenso wenig gedacht hätte wie an anderen Kirmestagen, die er mitgemacht hatte. Wenn sich so ein strammes Weibsbild an einen drückt und mit seinem heißen Atem sagt, was sich nicht in Worten sagen läßt, dann ist man eben auch ein Mann. Aber es waren ja genug andere da. Ihn brauchte sie nicht gerade auszusuchen. Indessen kam ihm in der Stammkneipe die Nachricht zu Ohren, daß Herstall sich mit einer jungen Berlinerin aus sehr reichem Hause verlobt habe, die längere Zeit bei Düsseldorfer Verwandten zu Besuch gewesen war. Er hatte Einladungen zu einem Feste in einer der vornehmsten Weinstuben ergehen lassen, und zu den Gelagen gehörte eine Auslese von drei Mitgliedern der Stammkneipe. ten Holten war nicht unter diesen dreien, wohl aber August Einhorn. Darüber fielen boshafte Bemerkungen, und nebenbei wurde erzählt, man habe vor noch nicht langer Zeit Herstall mit Mäxchen in Köln gesehen. Es war eine beliebte Gewohnheit der 63 Düsseldorfer Liebesleute, sich in Köln drüben zu treffen, wo es viel bessere Verstecke gab als daheim. Nur ein Zufall war es eben gewesen, daß der betreffende Zeuge, der Herstall mit Mäxchen gesehen hatte, gerade in dem entlegenen Stadtteile, in den sonst Auswärtige selten kamen, Verwandte wohnen hatte, die er in besonderer Angelegenheit besuchte.

Der Bildhauer Habegast, ein armer Teufel, sagte:

»Das war zu erwarten. Die Leute, wie Herstall, heiraten Geld zu Geld oder so etwas, was wir Proletarier nicht zur Frau haben möchten.«

»Vom Mäxchen hat er sich aber doch nicht leimen lassen.«

»Jetzt hat Einhorn freie Bahn,« wurde gesagt.

»Der wird doch hoffentlich auch nicht hereinfallen,« hieß es von anderer Seite.

ten Holten waren diese Redensarten von »auf den Leim gehen«, »hereingefallen«, eigentümlich unbequem. Er sagte wegwerfend: »Das Mäxchen ist ein leichtsinniges Balg, das gar nicht bis ans Heiraten denkt.«

»Ich traue ihr nicht,« sagte der Maler Zendorf. »Sie hält sich immer für was besseres, und wenn sie einen findet, der sie ernsthaft nimmt, dann könnte sie wohl zuschnappen. Die Mutter ist auch noch da, und das ist eine raffinierte Person. Diese ehrenwerte Familie muß mit Vorsicht behandelt werden.«

Es war einige Tage später, als August Einhorn auf dem nächtlichen Nachhauseweg zum Freunde sagte: »Eine schicke Sache war's, die Herstall da gemacht hat. Hat ihm ein ordentliches Stück Geld gekostet. Hast du seine Auserkorene schon gesehen?«

64 ten Holten verneinte gleichgültig.

»Ich schon,« fuhr August fort. »Ein langes, mageres Ding. Gerade häßlich kann man sie nicht nennen, aber wenn man bedenkt, daß er bis vor kurzem dem Mäxchen nachgestiegen ist –«

»Man hat ihn mit ihr in Köln gesehen,« warf jetzt ten Holten, von einem raschen Entschluß getrieben, hin.

»Das ist nicht wahr!« rief August Einhorn heftig.

»Man hat mir's erzählt.«

»Wer?«

»Das brauch ich nicht zu sagen. Ich wollte dir nur einen Wink geben.«

»Dummer Klatsch,« sagte Einhorn nach einer kleinen Weile. »Er hat sich erst verlobt, als er einsah, daß bei Mäxchen nichts für ihn auszurichten war.«

»Weil du ihn ausgestochen hast,« spöttelte ten Holten.

»Kann wohl sein,« lautete die Antwort.

»Nimm dich in acht!« mahnte ten Holten jetzt.

August lachte laut auf.

ten Holten war nicht wenig erstaunt, als am zweiten Tag nach diesem Gespräch mit dem Freunde auf sein »Herein!« Fräulein Stichacker das Atelier betrat.

»Ich werde Sie nicht lange belästigen, Herr ten Holten,« sagte sie in scharfem Ton. »Sie haben zu Herrn Einhorn gesagt, Sie hätten mich in Gesellschaft des Herrn Herstall in Köln gesehen.«

»Nicht ich, jemand anders,« warf ten Holten ein und trotzte den zornigen Blicken des Mädchens.

»Gleichviel,« versetzte dieses. »Es ist nicht wahr, und ich verbitte mir solche Klatschereien. Im übrigen könnte ich nach meinem Belieben nach Köln fahren. Was ginge das Sie an?«

65 »Mir persönlich wäre es sehr gleichgültig,« antwortete ten Holten, »aber ich hatte Gründe, meinen Freund Einhorn davon in Kenntnis zu setzen.«

»Und darf man wissen, was für Gründe das sind?«

Mit gehobener Stimme antwortete ten Holten: »Er soll über Sie orientiert sein!«

»Aber ich bin nicht in Köln gewesen, ich habe nichts mit Herrn Herstall gehabt, es ist nicht wahr,« sagte jetzt Mäxchen mit einer Stimme, aus der es schon wie Weinen herausklang. Plötzlich besann sie sich, und in völlig verändertem, trotzig-spöttischem Ton rief sie:

»Mit Herrn Einhorn habe ich auch nichts. Wenn er mir nachläuft und an allen Ecken auflauert, kann ich das nicht hindern. Verbieten Sie es ihm doch, wenn er nun mal unter Ihrer Vormundschaft steht!«

»Ich wünsche nur als sein Freund, daß er keine Dummheiten begeht,« sagte ten Holten darauf.

»Er soll sich nicht in mich verlieben, nicht wahr? Und zu diesem Zweck machen Sie mich schlecht bei ihm. Was habe ich Ihnen denn getan, warum sind Sie so gehässig gegen mich?«

Mäxchen war ganz nahe an ihn herangekommen, puterrot im Gesicht, und ihr Händchen umklammerte den Sonnenschirm, als wollte sie ihn sogleich als Waffe gebrauchen.

»Er ist mir zu schade,« schrie ten Holten sie wütend an, »daß er ›Ihres schönen Balges wegen‹ verludert; ich traue Ihnen aber zu, daß Sie ihn dazu bringen.«

»Sie sind ja ein ganz gemeiner Bauer,« rief Mäxchen aus und entfernte sich mit eiligen Schritten, die Tür laut hinter sich zuschlagend.

66 ten Holten ging wieder an seine Arbeit. Ihm war zumute, als hätte er seine Brust von einer drückenden Last befreit.

 


 


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