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VI. Von der »großen Rinne« bis 87° 6' nördlicher Breite

siehe Bildunterschrift

Anfertigung von Schlittenkufen

Die Nacht zum 2. April war schön, bis der Himmel sich gegen Morgen überzog. (Es war dunkel, als wir aufbrachen, und drohend, und ein beißender Wind wehte gerade vom Pol her, sprang aber später nach Westen um. Das Eis war in das schattenlose Licht, das diesen Gegenden eigentümlich ist, getaucht, und es war fast unmöglich, Hensons Fährte zu sehen. Ich entdeckte, daß die Scholle, auf der wir lagerten, eine Insel war, die durch einen breiten Streifen von jungem Eis von dem älteren getrennt wurde. Nachdem wir zwei oder drei schmälere Streifen von jungem Eis passiert hatten, lag das Gebiet, in dem die letzten Tage die stärksten Zerstörungen angerichtet hatten, hinter uns, und wir befanden uns auf schwerem, altem Eis, wo der Schnee tiefer und lockerer lag als südlich der »großen Rinne«. Eis vom letzten Winter fand sich nirgends, und neue durch Pressungen entstandene Unebenheiten waren selten. Wir erreichten Hensons Igloo, wo seine Aufzeichnungen berichteten, welchen anstrengenden Marsch alle gehabt, wie müde sie wären usw. Die Sonne, die jetzt beständig über dem Horizont stand, schien noch eine Zeitlang, als wir uns schon gelagert hatten.

siehe Bildunterschrift

Bohren der Löcher für die Stricke.
Eskimos bei der Anfertigung von Schlitten an Bord der »Roosevelt«.

Nebel und Nordwind die ganze Nacht, die auch anhielten, als wir am 4. aufbrachen. Das diffuse Licht erschwerte es sehr, der beinahe verwehten Spur zu folgen, häufige Schneeböen von Norden und Westen erhöhten die Schwierigkeit. Um Mittag fing es an aufzuklären, und als wir Hensons Igloo erreichten, hatte sich der Wind gelegt, und die Sonne versuchte durchzubrechen. Auf dem Marsch kreuzten wir etwas Eis vom letzten Winter und zwei schmale Rinnen mit neugebildetem Eis. Der Rest des Weges ging über schwere alte Schollen, einige von der blauen Art, die die Eishügel (hummocks) bildet, und auf diesen war das Vorwärtskommen leicht, desto mehr Schwierigkeiten boten aber alte Sprünge und Gürtel von Eisgeröll. Diese Stellen fingen allen Schnee, der von den unebenen Flächen weggeweht wurde, auf, und so bildeten sich hier tiefe und lockere Schneewehen. Es war eine Bahn, die eine gewöhnliche Expedition sehr entmutigt hätte, aber meine kleinen braunen Kinder des Eises trieben ihre Schlitten munter hindurch mit der Geschicklichkeit einer lebenslänglichen Erfahrung und Gewohnheit.

siehe Bildunterschrift

Lachsforellen aus dem Hazensee.           Im Hazensee fischende Eskimofrau.

siehe Bildunterschrift

Im Hazensee fischende Eskimos.

Der Wind und das trübe Wetter kamen in der Nacht zum 5. wieder und hielten an. Wir brachen um 3.30 nachts auf; bei dem diffusen Licht war das Verfolgen der Spur sehr schwer und konnte nur durch beständige Aufmerksamkeit und Anstrengung der Augen ermöglicht werden. Das war äußerst ermüdend, und wenn man noch den niederdrückenden Einfluß des Wetters hinzunimmt, eine Anspannung, die ich so weit wie möglich in Zukunft zu vermeiden beschloß, indem ich mir vornahm, nur in Fällen, wo es nicht zu umgehen wäre, bei trübem Wetter weiterzuziehen. Die ersten zwei Stunden kamen wir durch ein Gebiet voller Eisblöcke und Spalten mit tiefem Schnee; dann folgten alte Schollen mit blauen Eishügeln, die von alten Spalten unterbrochen wurden. Einige dieser Schollen waren massiver als alle, die ich bisher gesehen.

An einigen Stellen waren die Schollen flach, stellenweise ganz frei von Schnee und wundervoll blau. Etwas Eis vom letzten Winter und zwei oder drei schmale Rinnen oder eher Ritzen wurden passiert. Ich war nicht überrascht, als ich nach sechs Stunden auf Henson stieß, der sich mit seinen Leuten gelagert hatte. »Zu trübe, um weiterzuziehen.« Alle waren mehr oder weniger mißgestimmt wegen der Länge des Marsches, der Schwierigkeit des Weiterkommens usw. Ich ließ meine Leute einen Igloo bauen und hoffte, die Sonne würde, wie am Tage zuvor, das trübe Wetter verscheuchen und einen baldigen Aufbruch ermöglichen. Während mein Igloo gebaut ward, öffnete sich mit lautem Getöse eine Spalte, die sich fast um unsern ganzen Lagerplatz herumzog, was Sipsus empfindliche Nerven höchlich erschreckte. Später trat dichter Schneefall ein, und der Wind nahm zu. Aus Unvorsichtigkeit erfror ich auf diesem Marsch meine ganze linke Backe, und ich sah voraus, daß das mir wegen meines dichten Bartes manche Unannehmlichkeiten bereiten würde. Der Igloo war fertig und meine Leute unterzogen ihre Schlitten einer gründlichen Besichtigung und Ausbesserung. Die ganze Nacht schneite es fort, der Westwind hielt an und im Laufe der Nacht, wahrscheinlich durch die aufkommende Flut, schlossen sich die Ritzen mit einem heftigen Lärm, der mit zwei lauten Donnerschlägen endete, als unsere Scholle ringsherum eingefroren war.

Am Morgen fing die Bewegung von neuem an. Hensons Igloo, der etwas näher an der Spalte lag wie der meinige, wurde zertrümmert; seine Leute bauten einen andern in der Mitte der Scholle und siedelten dahin über. Die Springfluten des Aprilvollmondes waren jetzt im Steigen und würden wahrscheinlich im Verein mit dem Wind den Hudson River wieder öffnen. Aber Marvin, und hoffentlich auch Clark, waren dann wohl schon glücklich mit ihren Vorräten hinüber und auf dem Weg hierher. Ich hoffte, daß dieser Sturm den dichten Nebel vertreiben und uns eine zweite Folge von schönen Tagen bringen würde, in denen wir etwas ausrichten konnten.

Wir waren durch die zehntägige Verzögerung, die Hensons Abteilung und die siebentägige, die meine eigene bei schönem Wetter erfahren hatte, sehr zurückgebracht. Wenn sie nicht gewesen wäre, würden wir jetzt längst über den höchsten Punkt von Abruzzi hinaus sein. In Wirklichkeit war ich zwei Grad höher als vor vier Jahren, als ich von Kap Hecla aufbrach.

Der Wind und der Schneefall hielten die ganze Nacht zum 6. und den ganzen Vormittag des 7. an; dann brach die Sonne hindurch und zeigte, daß es nicht mehr schneite, wenn auch der Wind, begleitet von ungestümem Schneetreiben, das alles verdunkelte, noch ungeschwächt weiter wehte.

An diesem Datum erreichte Nansen seinen höchsten Punkt, und wenn die verfluchte Rinne nicht gewesen wäre, würde ich jetzt weiter sein als er. Wie die Dinge lagen, war ich hinter ihm zurück und saß von neuem fest. In der Nacht stellte sich wieder Nebel ein, und der Wind fuhr ohne Unterlaß fort zu wehen und den Schnee zusammenzutreiben. Es mußte sich ja wohl einmal wieder aufklären, aber noch nichts war davon zu merken.

Der Wind vollführte seinen Höllenlärm hinter dem Igloo und zwischen den Hügeln an der nahegelegenen Spalte die ganze Nacht hindurch. Ich fühlte mich körperlich so wohl, daß nichts mich von seiner Höllenmusik ablenkte oder meine Gedanken von der unerträglichen Verzögerung abzog, nur fror ich noch an die Beine, wie immer, wenn ich mich nicht bewegte, oft freilich auch dann. Es kam mir vor, als hätte ich einen ganzen Monat hier verbracht. Der Wind, der etwas südlicher als genau westlich wehte, sprang noch mehr nach Süden um, das Schneetreiben war weniger dicht, gleichsam als ob die Hauptmasse des Schnees sich festgepackt hatte, und es schien mir, als habe der Wind gegen Abend an Stärke abgenommen. Ich hoffte zu Gott, daß es bald aufklären möchte. Ich war auch begierig zu sehen, ob wir infolge des fortgesetzten Windes wesentlich weiter nach Osten getrieben wären. Seit dem Morgen des 6. war kein wahrnehmbarer Aufruhr im Eis eingetreten. Das ließ sich auf zweierlei Art erklären; entweder war das Eis nach Osten hin schon so stark zusammengedrückt, daß es junges Eis dazwischen nicht mehr gab, und die alten Schollen waren zu schwer, um sich zusammenpacken und aufeinanderschichten zu lassen, oder das polare Packeis, durch die große Rinne von dem Landeis getrennt, bewegte sich als eine zusammenhängende Masse nach Osten. Indessen schien es mir undenkbar, daß im letzteren Fall die Verschiedenheiten des Winddruckes und der Widerstandsfähigkeit der Schollen nicht mehr oder weniger Bewegung oder wenigstens eine fühlbare Spannung verursachen sollten. Es würde auffallend sein, wenn der »Hudson« jetzt nicht ganz offen wäre, und ich hoffte, daß Marvin und Clark mit ihren Vorräten herüber wären und der erste nahe genug, um mich in ein oder zwei Tagemärschen von hier einzuholen. Wenn der »Hudson« offen war und sie sich auf der andern Seite befanden, so machte sich eine wesentliche Umgestaltung meiner Pläne notwendig, denn es war jetzt zu spät im Jahr, um hier auf sie zu warten. Ich mußte vorwärts mit dem, was ich hier hatte, und es auf gute Bahn, lange Märsche und die Möglichkeit, ehe ich wieder an Land käme, Hundefleisch essen zu müssen, ankommen lassen.

Der 10. April war wieder ein sehr schlechter Tag. Der Wind nicht ganz so ungestüm, aber noch immer schweres Schneetreiben, das ein Weiterziehen gänzlich ausschloß.

Zeitweilig gelang es mir wenigstens, mich nicht mehr über die Verzögerung aufzuregen, ich sehnte mich dann nur nach dem Aufhören dieser Höllenmusik und nach der Sonne und ihrem glitzern auf den Eisfeldern, wie ein bleichsüchtiger Kranker sich nach dem milden Hauch des Sommers sehnt.

Ich verbrachte möglichst viel Zeit damit, Pläne zu schmieden, was ich tun würde, wenn ich nach Hause käme, und immer rannte ich gegen die schwarze Wand an: wenn ich jetzt nicht Erfolg habe, sind alle Mühen vergebens gewesen. Der Erfolg wird ihnen Existenzberechtigung geben. Dann ging ich noch einmal durch, was ich in den verschiedenen möglichen Fällen tun wollte, wenn es je wieder klar würde, aber das nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Ich wußte, was ich in jedem erdenklichen Fall zu tun hatte.

Und durch den schwarzen Schatten des drohenden Mißerfolges schimmerte ständig das Licht, der Heimat und den Meinen um so viel Tage näher zu sein.

Ich zitiere aus meinem Tagebuch: Wieder ein neuer Tag, der sechste des endlosen Sturmes. Wird er denn nie aufhören? Der Wind und das Schneetreiben dauern mit ungeschwächter Heftigkeit fort. Zwei, drei Stunden stieg und kletterte ich heute draußen umher, zeitweise kroch ich sozusagen auf Händen und Füßen hin und her, quer über die kleine Scholle, auf der wir lagern.

Das machte ich teils um mir Bewegung zu machen, teils weil ich mich nicht mehr ruhig verhalten konnte, endlich auch von dem Wunsch getrieben, mit Sicherheit festzustellen, ob ich, wenn aus härterem Stoff geschaffen, nicht doch vorwärts kommen könnte. Jetzt bin ich vollkommen befriedigt. Keine Expedition könnte bei diesem Sturm vorwärtsziehen, nicht wegen der Kälte, obgleich sie auch nicht unbedeutend ist, sondern weil es physisch einfach unmöglich wäre. Gegen diesen Sturm anzukämpfen, würde selbst der stärkste Mann nicht lange aushalten, auch wenn es möglich sei, das Gesicht für mehr als einen Augenblick dem schneidenden Wind direkt auszusetzen. Ich bin auch überzeugt, daß der Sturm, wenn es je wieder klar wird, die Bahn nicht verschlechtert und auch unsere Spur von der großen Rinne bis hierher nicht verwischt hat.

All der neue Schnee und auch etwas von dem alten ist von den Schollen weggefegt und zwischen den Pressungshügeln zusammengeweht worden, und die Fährten meiner Schlitten, Hunde und Leute sind unversehrt geblieben. Heute vor sechs Jahren verließ ich Conger, um nach der Küste von Grönland aufzubrechen. –

Endlich legte sich der unerhörte Sturm, oder ließ wenigstens zeitweilig nach; sofort ließ ich alles zum Aufbruch bereit machen.

Nach Mitternacht nahm der Wind an Heftigkeit ab, und am Morgen schien die Sonne. Allerdings zog sich rings um den Horizont eine schwere Wolkenwand, und es herrschte starkes Schneetreiben.

Allmählich ließ auch dieses nach, so daß ich imstande war, einige Meridianmessungen mit dem Durchgangsfernrohr vorzunehmen. Das Schneetreiben machte die Benutzung des künstlichen Horizontes unmöglich. Die Beobachtungen ergaben eine Breite von 85º 12' und eine Länge, die nur wenig westlicher als die des Schiffes bei Sheridan war.

Ich ließ sogleich Henson mit zwei von seinen Leuten, Panikpah und Pewahtoo aufbrechen, und sandte gleichzeitig seinen andern Mann, Sipsu, und einen meiner Leute, Ahngodoblaho, aus, um Marvin entgegenzuziehen, hoffend, daß er nördlich der großen Rinne war. Wenn sie ihn nicht träfen, sollten sie die Vorräte, die wir in dem kleinen Depot diesseits der Rinne niedergelegt hatten, herbringen.

Wie ich nach den Untersuchungen vom vorhergehenden Tag voraussah, hatte der Sturm die Bahn verbessert. Auf den alten Schollen, wo er den Schnee nicht vollständig weggefegt, war er fester zusammengepackt, und das unebene Eis und die Druckrinnen waren jetzt mit so festgepreßten Schnee ausgefüllt, daß er einen Maulesel hätte tragen können. Unsere Spuren waren viel deutlicher als vor sechs Tagen. Nördlich von uns dehnte sich, so weit wir sehen konnten, ein großes Eisfeld aus.

Es war ein richtiger Apriltag, und die Gegend erinnerte mich an die Eisdecke von Grönland. Blauer Himmel mit zarten, langen, schwarzen Wolken, dann Nebelbänke, rasch vorübergehende Schneegestöber und wieder blauer Himmel, dabei ein ständiger leichter Westsüdwestwind, der kleine Schneewehen auf der Oberfläche bildete. Mehrere Stunden lang lag eine Nebelbank, die wahrscheinlich durch offene Rinnen verursacht war, vor uns.

Es war gut, daß ich den Verlust meiner Vorräte an der Rinne in Betracht gezogen hatte. Bald nach Mitternacht kamen meine beiden Leute mit der Meldung zurück, sie hätten jenseits des ersten Igloo südlich von uns die Spur verloren und wären durch offenes Wasser und vollständig aufgebrochenes Eis aufgehalten worden, das sich, so weit sie von den höchsten Hügeln aus sehen konnten, erstreckte.

Es war klar, daß ich nicht im geringsten mehr auf meine Hilfsabteilungen rechnen konnte, und daß alles, was geschehen sollte, mit den Leuten, der Ausrüstung und den Vorräten, die ich bei mir hatte, getan werden mußte. Unglücklicherweise war unsere Zahl größer als notwendig, denn wir waren alles in allem acht, und die Vorräte viel kleiner als wünschenswert. Ich gab den beiden Eskimos ihr Abendessen und legte mich wieder zur Ruhe, während sie sich durch einen mehrstündigen Schlaf stärkten. Ich hatte keine Veranlassung, viel zu denken und zu überlegen; ich wußte schon, was ich in dieser Lage zu tun hatte.

Früh am Morgen brachen wir auf. Wir ließen alles zurück, was wir nicht unbedingt brauchten, und ich verwandte alle Energie darauf, einen Rekordschritt anzuschlagen. Auf der Liste nicht wieder gut zu machender Schäden, die der Sturm uns hinterlassen hatte, war als einziger kleiner Nachtrag doch wenigstens etwas Gutes. Der Schnee nämlich, den der Wind nicht von der Oberfläche der Schollen weggefegt hatte, war hart und fest geworden, und der Neuschnee m die Felder von unebenem Eis und zwischen die zertrümmerten Ränder der großen Schollen hineingepreßt, so daß diese uns wenig Schwierigkeiten machten. Nördlich von Storm Camp hatten wir weder für Schneeschuhe noch für Pickel Verwendung.

Der erste zehnstündige Tagemarsch brachte uns gute dreißig Meilen weiter; meine Eskimos behaupteten vierzig. Ich schritt selber mit dem Kompaß voran, bisweilen einen Hundetrab anschlagend, und die Führer mit ihren Schlitten neben oder hinter sich, folgten im Gänsemarsch.

Am Ende des Marsches war ich ein müder Mann. Ich hatte mir an beiden Fußsohlen Blasen gelaufen, und da ich von den Tagen im Lager erschlafft war, tat mir jeder Knochen von dem raschen Marsch weh, bei dem wir nicht weniger als drei Meilen die Stunde zurückgelegt hatten. Meine Eskimos versicherten, es wären vier gewesen.

Am nächsten Tag wehte ein ziemlich heftiger Sturm von Westsüdwest mit starkem Schneetreiben. Aber wir hatten keine Zeit im Lager zu bleiben, wenn es überhaupt möglich war, vorwärtszukommen. Vier und eine halbe Stunde nach dem Aufbruch stießen wir auf Henson, der an einer geschlossenen Rinne lagerte, wo er ungefähr zwanzig Stunden gewesen war. Er und seine Leute behaupteten, sie hätte sich, gerade ehe ich kam, geschlossen. Hensons Abteilung schloß sich unserm Eilmarsch an. Wir marschierten zehn Stunden, dann lagerten wir bei trübem Wetter. Auf diesem Marsch kreuzten wir mehrere große alte, flache Schollen, die, wie meine Eskimos sogleich bemerkten, aussahen, als ob sie auch im Sommer sich nicht von der Stelle bewegten. Wir kamen an diesem Tag über elf Rinnen, die uns aber wenig störten, da immer nach einem kurzen Umweg nach der einen oder anderen Richtung eine Übergangsstelle gefunden wurde. Wir sahen mehrere eisbergähnliche Eisblöcke, die durch Sand ihre Farbe verändert hatten, und meine Eskimos meinten, diese Berge sähen aus, als ob wir uns in der Nähe des Landes befänden. Wir hatten auch an diesem Tage einen guten Schritt eingeschlagen, und sicher weitere dreißig Meilen zurückgelegt. Ich glaubte sogar, daß es noch mehr seien.

Es war klar und strahlend, als wir am nächsten Morgen aufbrachen, nur wehte ein leichter von Schneegestöber begleiteter Wind. Um Mittag aber zog eine dunkle Wolkenbank von Westen zu uns herüber und der Wind nahm zu. Am Ende des Marsches wurde an einer ungefähr fünfzig Fuß breiten, offenen Rinne gelagert, die sich anscheinend nach Nordosten und Südwesten erstreckte, aber es war jetzt infolge des Schneetreibens so trübe, daß es sich nicht mit Sicherheit bestimmen ließ. Das Bauen von Igloos an diesem Lagerplatz war bei dem heftigen Wind und dem starken Schneetreiben eine wenig angenehme Arbeit. Unsere Marschgeschwindigkeit betrug an diesem Tage nicht weniger als zwei und eine halbe Meile die Stunde, und dabei mußten mehrere schmale Rinnen überschritten werden. Nach Mittag kamen wir fast die ganze Zeit über Eis, das vom letzten Winter stammte.

In diesem Lager hielten wir uns, von Wind und Schnee zurückgehalten, länger auf als gewöhnlich. Während des Aufenthaltes hier wurden sechs völlig ermattete Hunde getötet, mit denen wir die andern fütterten, um unsern kleinen Pemmikanvorrat zu schonen. Die skelettähnliche Verfassung dieser Hunde, die bei der Abhäutung zutage trat, jagte meinen Leuten für einen Augenblick einen großen Schrecken ein, denn sie meinten, die ganze Schar könnte jederzeit versagen. Sie wünschten, wir möchten hier umkehren, aber ich sagte ihnen, daß ich noch nicht zur Umkehr bereit sei, und daß wir wenigstens noch fünf Tagemärsche nach Norden zurücklegen müßten, ehe es so weit wäre.

Ich zitiere aus meinem Tagebuch: 18. April. Welche Gegensätze dieses Land bietet! Gestern die Hölle, heute beinahe der Himmel, aber nicht der Himmel, den die meisten vorzugsweise wählen würden. Der Wind legte sich im Laufe der Nacht; heute morgen war die Stellung der Sonne deutlich sichtbar. Wir brachen früh auf und hatten keine ernstlichen Schwierigkeiten beim Überschreiten der Rinne, wie ich erwartet hatte. Anfangs schwieriges Vorwärtskommen durch Spalten und gewaltige Schneewehen, dann gute Bahn für den Rest des Tages. –

siehe Bildunterschrift

Die »Roosevelt« im Winterquartier bei Mondlicht.
(Bei Vollmond drei Stunden lang exponiert; von Dr. Wolf, dem Arzt der Expedition am 12. Dezember 1905 aufgenommen.)

Das war der erste ganz ruhige Tag, seit wir die große Rinne verlassen hatten. Klar bis auf einige Streifen von Cirruswolken im Osten und Westen. Wir überschritten viel Eis vom letzten Winter und einiges, das nur wenige Tage alt war, und waren zehn Stunden unterwegs. Jetzt mußten wir dicht bei Abruzzis höchstem Punkt sein.

Unterwegs gerieten die Hunde auf einmal durch einen Geruch, den der Wind ihnen zuführte, in Aufregung, und für drei oder vier Meilen schlugen sie ein solches Tempo ein, daß ich mich, auch wenn ich rannte, nur mit Mühe an der Spitze halten konnte. Darum trat ich beiseite und ließ sie vorbeijagen. Anfangs dachte ich, es könnte ein Bär sein, und war sehr in Versuchung, mich auf die Jagd zu begeben. Später war ich sehr froh, daß ich es nicht getan hatte, da der Geruch, den die Hunde wahrnahmen, offenbar von einem Seehund in einer offenen Rinne herrührte.

Weiterkommend, wurde das Eis besser, die Schollen sichtlich größer und die Spalten seltener, aber die Ritzen und die engen Rinnen nahmen zu und waren beinahe alle in Bewegung. Diese Ritzen liefen alle rechtwinklig zu unserm Kurs, und das Eis auf der nördlichen Seite bewegte sich rascher nach Osten als das auf der südlichen Seite. Unser Tempo war um so angreifender, als wir auf knappe Rationen gesetzt waren.

Die Hunde, die nicht mehr Schritt zu halten vermochten, wurden als Futter für die andern verwendet. Am 20. April gelangten wir in eine Gegend mit offenen Rinnen, die sich nach Norden und Süden erstreckten, und die Bewegung im Eis wurde stärker. Zwischen diesen Rinnen jagten wir in Eilmärschen vorwärts. Dann schliefen wir einige Stunden, brachen kurz nach Mitternacht wieder auf und eilten weiter vorwärts bis zur Mittagsstunde des 21.

Ich hatte große Lust, alles an diesem Lagerplatz zurückzulassen und für einen Tagemarsch mit einem leeren Schlitten und einem oder zwei Begleitern vorzurücken, aber wegen der Eisverhältnisse wagte ich nicht, es zu tun, und ich war im späteren Verlauf der Reise froh, daß ich es nicht versucht hatte. Ich glaube nicht, daß einer der Eskimos es überlebt hätte. Auf diesem letzten Vorstoß kreuzten wir vierzehn Ritzen und schmale Rinnen, die fast ausnahmslos in Bewegung waren.

Die Mittagshöhe ergab eine Breite von 87º 6'. Endlich hatten wir den Rekord geschlagen. Ich dankte Gott mit so zufriedenem Herzen, wie es mir möglich war, obgleich ich fühlte, daß der bloße Rekord ein leerer Tand sei, verglichen mit dem kostbaren Juwel, an das ich seit Jahren mein Herz gehängt hatte und wofür ich auf dieser Expedition mein Leben buchstäblich aufs Spiel gesetzt hatte.

Es ist vielleicht ein interessanter Beweis für die Unberechenbarkeit und Kompliziertheit der menschlichen Natur, daß meine Gefühle zu dieser Zeit alles andere waren, als Triumphgefühle, wie man das vielleicht erwartet hätte. In der Tat war es gerade umgekehrt, und die bittere Enttäuschung, verbunden vielleicht mit einem gewissen Grade von körperlicher Erschöpfung durch unseren aufreibenden Marsch bei knappen Rationen, versetzte mich in einen Zustand so tiefer Niedergeschlagenheit, wie ich ihn sonst auf der ganzen Expedition nicht gehabt habe.

Wie man sich leicht vorstellen kann, war ich mehr als begierig, den Marsch fortzusetzen, aber als ich die langen Gesichter meiner Gefährten, die skelettähnlichen Gestalten meiner wenigen überlebenden Hunde und die beinahe leeren Schlitten betrachtete, und wenn ich an das treibende Eis, worüber wir gekommen waren, und an die unbekannte Größe der großen Rinne zwischen uns und dem Land dachte, da fühlte ich, daß ich den Kreis so eng gezogen hatte, wie man billigerweise verlangen konnte. Und ich sagte meinen Leuten, daß wir hier umkehren wollten.

Meine Flaggen wurden auf dem Gipfel des höchsten Hügels in der Nähe gehißt, und ungefähr hundert Fuß davon entfernt legte ich eine Flasche nieder, die einen kurzen Bericht und ein Stück der Seidenfahne enthielt, die ich vor sechs Jahren auf der Reise um das nördliche Ende von Grönland mitgenommen hatte.

Dann brachen wir, ohne uns hier zu lagern, nach unserem letzten Igloo auf.


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