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IV. Die »lange Nacht« an den Ufern des zentralen Polarmeeres

Der Winter zeigte im wesentlichen dieselben Eis- und Witterungsverhältnisse wie der Herbst. Ich bezeichne mit Winter aus Bequemlichkeitsgründen die Zeit vom 1. November bis zum 7. Februar, an welchem Tage die letzte Jagdgesellschaft zurückkehrte. Natürlich war die Kälte höher und das Licht fehlte fast ganz.

Allen Wechselfällen und allen Gefahren, mit denen Wind und Eis sie bedrohte, Trotz bietend, klammerte sich die »Roosevelt« mit ihrem Kettenanker an den Eisfuß und bildete so einen ausgeprägten Gegensatz zu den üblichen Bildern von arktischen Schiffen im Winterquartier. Da wir keine Marsstengen in Sicherheit zu bringen hatten, so ragten die schlanken Masten und das leichte aber kräftige Takelwerk gerade wie im Sommer empor. Und da die Decks ungedeckt und nur die Deckshäuser mit Schnee eingedämmt waren, machte das Schiff aus einer geringen Entfernung und bei dem trüben Licht beinahe den Eindruck, als ob es flott wäre. Höchst eigenartig und charakteristisch wirkte die Lampe in der Kambüse, das sogenannte »Auge der Roosevelt«, die Tag und Nacht von Anfang Oktober, wo die Sonne uns verließ, bis Anfang März, wo sie wiederkam, durch das Kambüsenfenster schien, das Hauptdeck erleuchtete und auf beiden Seiten des Bugs die Dunkelheit, den fallenden Schnee, den Nebel ein gutes Stück durchdrang. Dieser gelbe Lichtstrahl war deutlich von dem Gipfel des Ausguckhügels zu sehen, den einer von uns jeden Tag, wo es tunlich war, bestieg, und wurde auch von allen Leuten, die von Hecla oder den Jagdgebieten im Innern zurückkehrten, erblickt, sobald sie um Kap Sheridan herumkamen. Für jeden, der zu einem Glauben an solche Dinge neigte, gab es in der Lage des Schiffes eine Reihe günstiger Wahrzeichen. Die Nase der »Roosevelt« zeigte hartnäckig beinahe gerade nach Norden, das strahlende gelbe Auge blickte unverwandt nordwärts, und die gebahnte Schlittenbahn vom Schiff nach allen Verkehrspunkten führte nördlich am Eisfuß entlang.

Die Südwinde stellten sich noch immer häufig ein und nahmen an Heftigkeit zu, je weiter der Winter fortschritt. Das Eis war fast ununterbrochen in Bewegung, die bei jeder Springflut sehr stark wurde, und das Brüllen des Packeises wurde lauter und unheimlicher, je mehr das sich neu bildende Eis an Dicke und Härte zunahm.

Diese Bewegung im Eis erreichte ihren Höhepunkt am Weihnachtsabend, wo sie das Eis vom Eisfuß und der Steuerbordseite der »Roosevelt« losriß, und so weit man das in der Dunkelheit bestimmen konnte, das an die Küste stoßende und in der Einfahrt zum Robeson-Kanal befindliche Packeis vollständig zersprengte. Diese Zersprengung erstreckte sich wahrscheinlich über den ganzen Teil des Lincoln-Meeres von Kap Joseph Henry bis Kap Bryant und vermutlich darüber hinaus.

siehe Bildunterschrift

Die »Roosevelt« unmittelbar nach der Ankunft bei Kap Sheridan.

Mit ziemlicher Regelmäßigkeit bildete sich auch offenes Wasser, teils in Gestalt von Rinnen, teils von Seen.

Wiederholt war die »Roosevelt« Pressungen ausgesetzt; keine von besonderer Heftigkeit, aber doch stark genug, um uns die ganze Zeit auf dem qui vive zu halten. Der Schnee auf dem Land und längs des Eisfußes, der im Anfang den Gebrauch von Schneeschuhen erforderlich machte, wurde schließlich von den regelmäßig wiederkehrenden Winden so zusammengepreßt, daß er das Gewicht eines Mannes zu tragen vermochte. Beinahe alle Verhältnisse standen so ziemlich im direkten Gegensatz zu den Erfahrungen, die dreißig Jahre früher die britische Expedition in der gleichen Gegend gemacht hatte. Die Wintermonde auf dieser hohen Breite waren von langer Dauer, und wenn nicht durch schlechtes Wetter verdunkelt, von großem Glanz.

Die übliche Eintönigkeit eines arktischen Winters war für uns, abgesehen von der beständigen Erregung, in die uns die Bewegung des Eises versetzte, dadurch gehoben, daß unser Horizont durch meine Niederlassungen im Innern wesentlich erweitert war. Die größte dieser Ansiedelungen lag an den südlichen Abhängen der Vereinigten Staaten-Kette im Norden vom Hazen-See; eine andere in der Nähe des vorderen Endes vom Hazen-See, und eine dritte am Ruggles-Fluß, und längs des Pfades zwischen den Niederlassungen und dem Schiff gab es Schneehütten als Zwischenstationen.

Von diesen Ansiedelungen kamen bei jedem Neumond Schlitten, die Ladungen von Moschusochsenfleisch und Nachrichten von der Jagd der vorhergehenden Wochen brachten. Diese Schlitten blieben einige Tage beim Schiff, dann wurden sie wieder ausgerüstet und kehrten mit anderen Eskimofamilien zurück, die die Zeit bis zum nächsten Mond im Innern verbringen sollten. Auf diese Weise hatten wir beständig etwas, wovon wir reden und worauf wir warten konnten.

Die Vorbereitungen für die Schlittenreise im Frühling wurden andauernd fortgesetzt, noch mehrere Schlitten gebaut, und Zelte, Geschirre, Handschlitten, Pelzkleider verfertigt. Die Eskimofrauen erwiesen sich als unschätzbar bei jeder Arbeit, wo es auf Nähen ankam. Unter der Oberaufsicht des Steuermanns Bartlett wurde der Pemmikan aus den Kisten genommen und in handliche Pakete, die sich auf den Schlitten gut verstauen ließen, verpackt und mit Nummern versehen. Meine eigene Zeit war vollständig damit ausgefüllt, Pläne zu schmieden, das Ganze zu beaufsichtigen und allerhand Verbesserungen der Ausrüstung zu ersinnen.

Ich für mein Teil habe nie einen Winter in den arktischen Gegenden so frei von Beschwerden und Unannehmlichkeiten in körperlicher wie geistiger Hinsicht verbracht. Die Mitglieder der Expedition waren umgänglich, heiter, energisch und hatten Interesse für das Unternehmen. Die Schiffsleute waren interessiert und willig, und das Moment der Reibung, das so oft ein äußerst unangenehmer Faktor des arktischen Winterlebens ist, fehlte hier völlig.

Kapitän Bartlett nahm mir alle ins einzelne gehende Sorge um das Schiff ab, indem er die allgemeinen Anweisungen, die er von mir bekam, mit großer Energie und großem Verständnis ausführte. Ich fühlte, daß das körperliche Wohlbefinden der Teilnehmer in den Händen von Dr. Wolf gut aufgehoben war, Marvin befreite mich von der mechanischen Arbeit des Beobachtens und war mir auch sonst behilflich. Dazu kam, daß der Steward Percy unermüdlich um mein leibliches Wohlergehen besorgt war.

siehe Bildunterschrift

Steinpyramide der »Alert« am Floeberg-Strand.

Es gibt indessen so viele Trümpfe, die gegen einen, der ein ernstes Werk auf den höchsten Breitengraden auszuführen versucht, ausgespielt werden können, daß sich immer etwas Wichtiges findet, das trotz aller Sorge und Umsicht das Ganze aufs Spiel zu setzen droht.

siehe Bildunterschrift

Petersens Grab aus dem Floeberg-Strand.

Der vorliegende Fall war keine Ausnahme von der Regel. Zu der Sorge um die »Roosevelt« gesellte sich nämlich als das größere Übel die ständige Angst um meine Hunde. Jede aus dem Innern kommende Abteilung berichtete von neuen Todesfällen, bis ihre Zahl auf die kritische Grenze herabsank, die, falls sie überschritten wurde, mich an der Ausführung wesentlicher Teile meiner Frühjahrsexpedition hindern mußte.

Aber trotz dieser Sorgen ließ mir das Fehlen von kleineren Verdrießlichkeiten Zeit und Stimmung, neue Methoden des Vorwärtsdringens und Vervollkommnungen der Ausrüstung zu ersinnen, die uns später von großem Nutzen waren. Unter den letzteren befand sich ein schnell heizbarer Spiritusofen, der nach einem neuen Prinzip konstruiert war; unter den ersteren ein Feldzugsplan und eine Methode des Vorrückens, die schätzenswerte Vorteile bot. Sie hätte es uns ermöglicht, das Ziel der Expedition zu erreichen, wenn die Eisverhältnisse in diesem Jahr nicht ungewöhnliche gewesen wären, und namentlich das Packeis nicht durch den Aprilsturm zersprengt worden wäre.

Mitten in dieser Arbeit, diesen Projekten und Sorgen blieb Zeit für Gedanken und Stimmungen, von denen einige hier wiedergegeben werden sollen, wenn sie auch vielleicht niemand als mich selbst interessieren mögen; sie bilden aber einen ebenso selbstverständlichen Bestandteil der Polarnacht wie das Eis, die Dunkelheit und die Kälte. Augenblicke des Frohlockens und der Niedergeschlagenheit. Augenblicke ungestümer Ungeduld, wo ich wünschte, der Tag des Aufbruches nach dem Norden möchte morgen sein. Augenblicke unheilvoller Vorahnungen, wo ich mich vor seinem Eintritt fürchtete. Augenblicke sanguinischer Hoffnungen, und andere voll der düstersten Zweifel. Gedanken und Erinnerungen an die Heimat, Träume und Pläne für die Zukunft. Bisweilen schienen die Tage mit der Schnelligkeit der Flut hinter Sheridan vorbeizujagen, und dann wieder schleppten sie sich hin, als wären sie an einen Felsen gekettet. In allen diesen Zeiten war die Pianola, das großartige Geschenk des Herrn Benedict, unschätzbar. Manche Stunde hat sie mich meine Sorge vergessen lassen, so daß ich mit neuer Kraft und Energie zu meiner Arbeit zurückkehren konnte. Um mich von dem beständigen Denken an die Frühjahrsexpedition zu erholen, fing ich an, Pläne für ein neues Schiff von der Größe und Gestalt der »Roosevelt« zu entwerfen, das auch nord- oder südpolaren Zwecken dienen sollte, und dabei suchte ich Verbesserungen und kleine Änderungen anzubringen, die ich meinen an der »Roosevelt« gemachten Erfahrungen entnahm.

Am 1. November stellte ich ein selbstregistrierendes Minimumthermometer auf dem Gipfel eines Hügels auf, der 410 Fuß hoch war und ungefähr eine Meile vom Schiff entfernt lag. Am 2. November wurde unter anderem mitgeführtes Heu ausgepackt, das in den Schneehütten an Land verwendet werden sollte. Sein Geruch rief einen Strom von Erinnerungen wach. Welch ein Gegensatz! Diese eisige, nachtumhüllte Schneelandschaft und Getreidefelder an einem warmen Sommertag in der Heimat. Man sollte nicht denken, daß sich beides auf demselben Planeten befindet.

Am 8. kamen vier Eskimofamilien vom Ruggles-Fluß zurück. Sie waren siebenundzwanzig Tage auf der Jagd gewesen und hatten ungefähr fünfundsiebzig Moschusochsen, dreißig bis vierzig Hasen und zwanzig bis fünfundzwanzig Füchse erlegt. Außer dem Fleisch der Moschusochsen brachten sie ungefähr hundert Pfund der unvergleichlichen Lachsforellen des Hazen-Sees mit.

Am 15. beobachtete ich ein Nordlicht in einer Reihe von mehreren schwachglänzenden Lichterscheinungen, das sich in mancher Hinsicht von allen, die ich bisher gesehen hatte, unterschied. Es befand sich im Osten gerade über einigen Wassertümpeln und stand so niedrig, daß es dem Wasser auszuströmen schien. In regelmäßigen Zwischenräumen verschwanden die schwachen Nordlichtflecke gänzlich, um einen Augenblick später von einem einzelnen strahlenden Fleck ersetzt zu werden, der wie eine blasse Nebensonne dicht über der Wasserfläche stand. Dann und wann erschien an ihrer Stelle ein strahlender, schmaler, senkrechter Lichtstreifen. Am 16. wurden wir durch ein starkes Fallen des Barometers überrascht. Gleichzeitig ging die Temperatur in die Höhe und es traten heftige Südwinde ein, die einen ungefähr eine Meile breiten Wassergürtel im Eis bildeten, der jenseits von Kap Rawson beginnend, am Schiff und Kap Sheridan vorbei, nordwärts in der Richtung nach Kap Henry verlief, so weit man in dem unsicheren Mondlicht sehen konnte.

Der Blick vom Hügel am Abend war überwältigend. Das glänzende Mondlicht, der schwarzblaue, teilweise mit silbernen Wolken übersäte Himmel, das tote Weiß des Schnees, das tintenschwarze Wasser, die gespensterhaften Formen des Landes, der einzige kleine Streifen gelben Lichtes, der von der »Roosevelt« herkam. Hierzu gesellte sich als belebendes Element der Szenerie das Rauschen des Windes, der trotz des Schneetreibens, das er mit sich führte, doch einen Hauch von Wärme in sich zu haben schien, und die Rufe der Eskimokinder, die am Eisfuß spielten, und dazu das Geräusch der Wellen, die gegen die Ränder der Rinne schlugen, und das ferne heisere Brüllen des Packeises, das bei der Flut in den Eingang des Robeson-Kanals zurücktrieb.

Am 25. war ein besonders heftiges Ächzen und Stöhnen der »Roosevelt« und des sie umgebenden Eises zu bemerken, von dem lauten Gebrüll der schwereren Eisschollen, die an der Landzunge von Sheridan während des größeren Teils der Flut vorbeimahlten, begleitet.

Das Danksagungsfest feierten wir durch ein Mittagessen mit Plumpudding, Konfekt und Zigarren, und am Abend veranstaltete der Doktor eine Graphophonvorstellung. Am 4. Dezember, dem 1. des Mondmonats, kamen zwei Eskimos aus dem Innern zurück und berichteten, sie hätten im Laufe des Monats dreiunddreißig Moschusochsen erlegt und es seien noch zwölf bis fünfzehn Hunde gestorben. Während des Dezembermondes machte der Doktor eine Anzahl photographischer Aufnahmen vom Schiff.

Am 16. kamen Henson und sechs Eskimos mit der Meldung, seit dem letzten Bericht wären noch zwanzig weiter Moschusochsen erlegt worden. Das macht im ganzen zweiundsechzig seit dem Auszug vom Schiff Ende November. Eine sehr erfreuliche Tatsache, die aber mehr als aufgewogen ward durch die Nachricht von neuen Todesfällen unter den Hunden. An den südlichen Abhängen der Vereinigten Staaten-Kette waren zwei große Renntierböcke aufgefunden worden, deren Geweihe man so fest ineinander verschränkt fand, daß sie nicht wieder voneinander hatten loskommen können, und die daher bei ihrem Kampfe auf Leben und Tod erfroren waren.

Am 17. stöhnten bei der Springflut die »Roosevelt« und das benachbarte Eis wieder bedenklich. Am 18. ging Marvin mit vier Eskimos nach den Niederlassungen am Hazen-See, um bis zum Februarmond dortzubleiben. Die Wintersonnenwende trat am 22. Dezember ein, wo die Sonne, für uns natürlich unsichtbar, in den frühen Morgenstunden ihre größte südliche Deklination erreichte, die Mitternachtsstunde der »langen Nacht«. Von jetzt an sollte sie langsam zu uns zurückkommen. Das ist der Neujahrstag der nördlichen Halbkugel, ein Weltentag, neben dem unsere künstlichen Daten und Feste erbleichen. Nirgend anders hat er die Bedeutung wie hier in dem schwarzen Bereich der »langen Nacht«.

Um 2 Uhr morgens am Weihnachtstag fing der Wind an von Süden zu wehen und heulte bald mit der schäumenden Wut eines reißenden Gießbaches durch das Schiff. Jedes Stag und jedes Tau summte wie eine große Äolsharfe, und das Eis um uns herum krachte und stöhnte unter dem starken Druck. Der Wind war so heftig, daß das Kabinenfenster des Kapitäns eingedrückt wurde. Um 8 Uhr morgens trat wieder Ruhe ein, die Sterne funkelten hell, die Temperatur betrug -6° F, -21.1 °C und die Luft hallte wider von dem Getöse der Wogen, die gegen die uns abgekehrte Seite der breiten Wasserrinne brandeten.

Die Messen waren vom Doktor mit Fahnen geschmückt worden. Es gab Geschenke für jedermann, hauptsächlich Konfekt und andere Annehmlichkeiten des Lebens, die von Freunden zu Hause, in erster Linie von Huyler, gestiftet waren. Unter meinen Geschenken war eine Flasche vortrefflichen Champagners von den Meinen zu Hause, eine Flasche alter Tokayer von einem aufmerksamen Freund und ein Kissen wohlriechender Tannennadeln aus Eagle Island, in einem Kasten, den die blauäugige Kleine, die selbst im Bereich der »langen Nacht« geboren ist, gearbeitet hatte. Das Weihnachtsessen bildete für uns alle, Mannschaft wie Offiziere, ein besonderes Ereignis, das jedermann willkommen war.

Unsere Weihnachtsfeier fand indessen ein etwas plötzliches und gänzlich unerwartetes Ende. Nach dem Mittagessen ging ich ein paar Stunden auf dem Eisfuß auf und ab, völlig in die Fülle der Gedanken versunken, die meine Briefe und Geschenke in mir wachgerufen hatten. In meine Kabine zurückgekehrt, setzte ich mich nieder, um dem Graphophon zu lauschen, das der Doktor in der nebenan liegenden Messe aufgezogen hatte. Ein wenig später fing das Eis an zu krachen und zu stöhnen, und nach ein oder zwei Minuten wurde es mir klar, daß eine neue Note in seinem Klagen war, gänzlich verschieden von der üblichen Begleitung der steigenden Springflut. Ich ging auf das Hinterdeck hinaus, wo ich es nicht nur hörte, sondern auch fühlte, wie das Eis unter dem starken Druck leise aber unheimlich brummte und krachte. Ich rief den Kapitän, ging hinein, um meinen Mantel anzuziehen, löschte meinen Ofen und den im anstoßenden Arbeitsraum mit einem Eimer Wasser aus, löschte meine Lampe und ging durch das vordere Deckhaus hinaus auf das Hauptdeck.

Als ich hinauskam, hatte sich das Eis vom Eisfuß abgelöst. Die schwere Scholle, die uns vorigen September festgeklemmt hatte, machte sich davon und riß den Eiswall am Steuerbord des Schiffes mit sich fort, so daß die Steuerbordseite vollständig ungeschützt dalag und das schwarze Wasser gegen die Beplankung schlug.

In überraschend kurzer Zeit war das Eis in der tintenschwarzen Dunkelheit verschwunden, und in der schwarzen Wasserfläche, die sich bis ins Unendliche zu erstrecken schien, spiegelten sich die Sterne. Ein Grund zur Besorgnis lag augenblicklich nicht vor, die Gefahr würde aber kommen, wenn die Wiederkehr der Flut das Eis zurückbrachte, und nichts zwischen Eis und Schiff lag, um die Kraft des Eises zu brechen und den Stoß zu dämpfen.

Die Eskimos rannten in großer Erregung umher und brachten ihre Kinder und Hausgeräte aus den Zwischendecks herauf, und da ich für den Fall einer Gefahr nicht gern eine Menge Frauen und Kinder überall im Wege haben wollte, ließ ich den Ofen in dem großen Kistenhaus anbrennen und sandte sie alle mit ihrem Bettzeug und ihren Kleidern dort hinauf. Ein Matrose und ein Eskimo, die vorübergehend auf der Krankenliste standen, wurden ebenfalls an Land geschickt. Dann unternahm ich in Gemeinschaft mit dem Kapitän eine gründliche Besichtigung des ganzen Schiffes und seiner Umgebung, legte alle Möglichkeiten, die eintreten könnten, dar und gab Anweisungen, was getan werden sollte, um soweit als möglich allen Eventualitäten vorzubeugen. Eine vollzählige Wache wurde beibehalten, die anderen legten sich alle in ihren Kleidern nieder. Am folgenden Tag waren die Mannschaft, die Offiziere und die Eskimos eifrig damit beschäftigt, alle vorhandenen Leinen vom Backbordbug, von der Vierung, von mittschiffs und von den Sahlungen auszubringen.

Das Wetter hielt sich klar, und die Temperaturen waren sehr mäßig. Die Flut am Abend verursachte viel Bewegung und Lärm um uns herum, hatte aber keine direkte Pressung des Schiffes zur Folge.

Ich hatte keine Angst, daß die »Roosevelt« durch einen Anprall des Eises zerschmettert werden würde, aber ich fürchtete, daß sie ganz bis an den Eisfuß herangedrängt, auf die Seite geworfen und so weit aufs Ufer gestoßen würde, daß es unmöglich wäre, sie zu einer anderen Jahreszeit wieder flott zu machen. Möglich war es auch, daß ein besonders heftiger Sturm, wie sie ja hier zu allen Zeiten vorkommen können, uns von unsern Vertauungen losreißen und in das bewegliche Packeis hineintragen könnte. In einem solchen Fall war die Aussicht, daß wir imstande wären, das Schiff wieder in seine gegenwärtige Lage zurückzubringen, nur äußerst gering.

Am Morgen des 28. wurde ich von einem heftigen Südwind, der durch die Ventilationslöcher meiner Kabine drang, geweckt und eilte sofort an Deck. Es war sehr klar, und ein leichter, unbeständiger Wind, der seine Kräfte zu sammeln schien, wehte aus allen Richtungen. Um 5 Uhr morgens erhob sich ein ungestümer Südwind, der an Heftigkeit zunahm, bis man vor seinem Brüllen keinen Laut mehr hören konnte, und der das Schiff vollständig in dichten Schneemassen begrub. Kurz darauf fing das Eis hinten an unsrer Steuerbordseite an zu stöhnen und gegen die Schiffsseite zu mahlen. Da wir fürchteten, daß das Eis abbrechen und im Fall, daß Schraube und Ruder darin festgefroren wären, das Heck von der Vertauung losreißen könnte, wurde jedes Stück Leine, das aufzufinden war, von Backbord ausgebracht und an dem Eisfuß befestigt. Wie bei allen diesen Stürmen war die Temperatur verhältnismäßig hoch, diesmal 7 bis 14° F. über Null. Sonst wäre die Arbeit äußerst angreifend und sogar gefährlich gewesen. Ein Mann der Besatzung stolperte über einen Spalt, der einige Yards vom Schiff entfernt war, verlor die Richtung und geriet nach einiger Zeit an die Kistenhäuser am Ufer. Einige Eskimos, die aus den Kistenhäusern nach dem Schiff gingen, verloren ihren Weg und irrten eine Zeitlang umher, ehe sie die Richtung wiederfanden. Um Mittag hatte der Wind nachgelassen, und unser Stromanker wurde an das Ende der Backbordankerkette befestigt, die wir in ein zu diesem Zweck hinter einem großen, gestrandeten Eisberg in den Eisfuß gebohrtes Loch hatten einfrieren lassen.

Im Laufe des Tages rollte die »Roosevelt« mehrere Stunden lang stark in den Dünungen, die von dem wilden Seegang im Eingang des Robeson-Kanals um Rawson herum zu uns ihren Weg fanden.

In den folgenden Tagen gab es mehr offenes Wasser in unsrer Umgebung als je seit unsrer Ankunft. Der ganze obere Teil des Robeson-Kanals war offen und alles im Nordosten und Norden von Rawson bis nach Sheridan und darüber hinaus war schwarz wie Tinte. Um 3 Uhr in der Nacht auf den 1. Januar drang das Eis mit anhaltendem Gebrüll gegen unsere Steuerbordseite, aber die »Roosevelt« wurde spielend damit fertig, und die Pressung hörte auf, ehe eine besonders schwere Scholle auf das Schiff eindrang. Ein wenig später wandte sich das Eis wieder vollständig vom Lande ab.

Die Nacht zum 6. war ein unangenehmer Gedenktag für mich. Vor sieben Jahren kämpfte ich mich in bitterer Kälte und vollständiger Dunkelheit durch die Lady Franklin-Bai und ging schließlich mit erfrorenen Füßen vor Anker.

Am 7. kam ein neues Kind im Eskimolager an, ein Mädchen, gerade wie das nördlichst Geborene aller Kinder. Am 9. war die Luft den ganzen Tag vom Stöhnen, Brüllen und Mahlen des Eises erfüllt, aber es kam zu keiner Quetschung des Schiffes.

Der Lärm und die Bewegung im Eis kehrten den ganzen Monat über unablässig wieder, jedesmal verschieden an Stärke, und die »Roosevelt« war mehr oder weniger starken Pressungen unterworfen. Eine Zeit beständiger Unruhe, wenn das Packeis bei jeder Flut längs der Küste vor- und rückwärts wogte, jeden Augenblick bereit, uns zu zermalmen. Jedermann schlief in seinen Kleidern, alle Laternen und beweglichen Lichter wurden zum augenblicklichen Gebrauch bereit gehalten und Vorkehrungen für die sofortige Löschung aller Feuer getroffen. Die willkommene Dämmerung des rückkehrenden Tages nahm stetig zu. Eine beträchtliche Anzahl der Eskimos kam im Januar aus dem Innern zum Schiff zurück, mit Briefen von Marvin, die von der Erbeutung neuer Moschusochsen berichteten. Am 7. Februar, beim ersten Licht des Februarmondes, kam Marvin selbst mit dem Rest der Eskimos und Hunde und meldete die Erlegung weiterer Moschusochsen. Damit schloß der Winterfeldzug.

siehe Bildunterschrift

Kap Sheridan und das Polarmeer.


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