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III

Bei den Eltern

 

1

Wir kennen Dürer als Kind aus seiner eigenen Schilderung. Als Dreizehnjähriger hat er sich einmal mit dem Silberstift gezeichnet und später auf dem Blatt vermerkt: »Das hab ich aus eim Spiegell nach mir selbs kunterfeit im 1484 Jor, do ich noch ein Kind was.« Wenn man streng sein will, kann man kleine Verzeichnungen bei der Hand vermerken und die Starrheit der Pupillen, die er bei der gewählten Richtung nicht nach dem Spiegel zu zeichnen vermochte. Das Ungekonnte aber kommt nicht in Betracht gegen das, was schon gekonnt ist. Die Durchgestaltung des Gesichtes, Gewand und Haarbehandlung sind ganz überraschend gut. Das Wesentliche bleibt der Ausdruck des Gesichtes. Ein stilles, fragendes Knabenantlitz ist da aus dem Spiegel herausgeholt. Trotz des offenen Blickes ist es ein wenig scheu. Man möchte wohl die nähere Umgebung kennen, in die der Knabe blickte.

Ein Elternpaar war um ihn, ungleich nach seinem Alter, aber gleich in einem Wesen, das alles eher als Frohnatur war. Die Mutter eine schüchterne gedrückte Frau, in steter Sorge um ihr täglich Brot und um das Seelenheil der Kinder. »Geh in den Nomen Christi« war, ob eins der Kinder kam oder ging, »allweg ihr Sprichwort.« Der Vater ein Mann von wenig Worten, geduldig und ergeben, kein Freund der Geselligkeit und weltlicher Freude. Auch seine »täglich Sprach« zu den Kindern war, daß sie »Gott lieb sollten haben und treulich gegen ihren Nächsten handeln«. Ein ehrenfestes Paar in Treu und Glauben, nur bar des Frohsinns, der einem Kind so not tut. Man versteht doch wohl den unfreien Ausdruck im Gesicht des Dreizehnjährigen, wenn man sein Vaterhaus kennt und den steten Ernst der Kinderstube.

Von Dürers Hand besitzen wir eine »Familienchronik«, nach Aufzeichnungen des Vaters zusammengestellt, die uns die Vorgeschichte erzählen. »Als man gezählt hat nach Christi Geburt 1455 Johr«, kam der Vater, damals ein junger Goldschmiedegesell, nach Nürnberg. Aus Ungarn war er gebürtig, selbst eines Goldschmieds Sohn, hatte die Wanderjahre in Deutschland und den Niederlanden zugebracht und kam nun um die Mittsommerzeit (am 25. Juni) in die alte Frankenstadt. Es ging gerade hoch her. Einer aus der Patrizierschaft, Herr Philipp Pirkheimer, hielt Hochzeit. »Und es war ein großer Tanz unter der großen Linden.« Pracht und Glanz war entfaltet: hier schien die rechte Stätte für einen Goldschmied, sein Brot zu erwerben.

Er hatte Glück. Ein Wohlangesehener aus seiner Zunft, Meister Hieronymus Holper, nahm ihn auf. Zwölf Jahre war er bei ihm in Diensten. Seine stille Tüchtigkeit gewann den Meister so sehr, daß er ihm seine Tochter Barbara zur Ehe bestimmte. Es war im Jahre 1467. Der Eidam Holpers zählte damals vierzig Jahre, die Tochter, »eine hübsche grade Jungfrau«, fünfzehn.

Ein halbes Kind noch, ward sie einem den besten Jahren schon entwachsenen Manne anvertraut. Es scheint uns abstoßende Unnatur, was damals doch als selbstverständlich hingenommen wurde. Die Ehe war noch keine Sache, die unter den Ehebereiten selbst ausgemacht zu werden pflegte, und bei der die ältere Verwandtschaft nur ihre Zustimmung zu geben hatte. Das Alter traf die Auswahl für die Jugend, denn die Ehe war ein »Bund zweier Familien«, mit Verpflichtungen verknüpft, die über die Ehegatten hinaus bindend waren für die beiderseitigen Geschlechter. Nicht die Leidenschaft vermochte zu erkennen, was alles hier zu regeln und in eins zu fügen war. Das konnte nur weise Erfahrung, und so gab auch die Jugend sich willig in eine Entscheidung, die doch ihr ganzes Leben richtete.

Meister Holper hatte sich in seinem Eidam nicht getäuscht. Zu irdischen Schätzen zwar brachte er es nicht. Sein einziger Erfolg in dieser Hinsicht war, daß er im Mai 1475 aus dem Hinterhaus, das er bis dahin bewohnt, übersiedeln konnte in ein eigenes Haus unter der Vesten, der Straße, die zur kaiserlichen Burg hinanführte, und daß er 1430 einen Laden am Rathaus aufmachte. Große äußere Erfolge hat er nie gehabt. Er hat »sein Leben mit großer Mühe und schwerer, harter Arbeit zugebracht und von nichten anders Nahrung gehabt, dann was er vor sich, sein Weib und Kind mit seiner Hand gewunnen hat. Darum hat er gar wenig gehabt. Er hat auch mancherlei Betrübung, Anfechtung und Widerwärtigkeit gehabt«. Trotz alledem: er hatte doch »gut Lob« von allen, die ihn kannten, wurde 1482 geschworener Meister der Goldschmiedezunft und »Gassenhauptmann«, Vorsteher seines Stadtbezirks. In ihm also hatte Holper schon seinen rechten Mann gefunden. Ob freilich auch sein Kind, die Tochter Barbara?

Ein Bild nur haben wir von ihr, eine Zeichnung Dürers kurz vor ihrem Tode. Es ist ein erschütterndes Blatt, dieses ganz hoffnungslose, ins Nichts hinstarrende Gesicht. Und der Eindruck, der uns gebannt hält, spricht die Wahrheit. »Diese meine frumme Mutter«, sagt Dürer in seinem Gedenkbuch, »hat 18 Kind tragen und erzogen, hat oft die Pestilenz gehabt, viel andrer schwerer merkliche Krankheit, hat große Armut gelitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Wort, Schrecken und große Widerwärtigkeit, noch ist sie nie rochselig gewest.«

*

Von der Geburt Albrechts, dem dritten der achtzehn Geschwister, meldet die Familienchronik: »Item nach Christi Geburt 1471 Jahr in der sechsten Stund an St. Prudentien Tag, an einem Erichtag (21. Mai, Dienstag) in der Kreuzwochen gebar mir mein Hausfrau Barbara mein andern Sohn, zu dem war Gevatter Anthoni Koburger, und nannt ihme Albrecht nach mir.«

Die beiden Zuvorgeborenen scheinen bald weggestorben zu sein (im ganzen haben nur drei von den achtzehn Kindern die Eltern überlebt). Was der Vater an Erziehungsplänen in sich hatte, konnte er zunächst an Albrecht proben. Es schlug zum Guten. Der Junge war geweckt und »fleißig in der Übung zum lernen«. Er ging zur Schule, lernte, was damals schon viel war, Schreiben und Lesen, vielleicht auch ein wenig Latein. (Als er in seinen venezianischen Briefen später zum Scherz gelegentlich italienisch schreibt, ersetzt er ihm unbekannte italienische Worte durch die entsprechenden lateinischen.) Dann kam er zum Vater in die Lehre. Wahrscheinlich geschah das in seinem dreizehnten Lebensjahr, also eben der Zeit, der die geschilderte erste Zeichnung entstammt.

Auch in der Werkstatt zeigt er sich anstellig. Der Vater, der immer schon »ein sonderlich Gefallen an ihm hat«, freut sich seiner »säuberlichen« Arbeit. Da tritt, nach fast dreijähriger Lehrzeit, der junge Dürer vor ihn hin und erklärt, daß ihn seine »Lust mehr zu der Malerei hintrüge dann zum Goldschmiedwerk«.

Der Vater war es »nit wohl zufrieden«. Es reut ihn die vertane Zeit. Aber der Sohn bleibt dabei, und schließlich gibt der Alte, endgültig vielleicht bestimmt vom Paten Koburger, seine Einwilligung. »Da man zählt nach Christi Geburt 1486 am St. Enderstag«, den letzten November, verspricht Albrecht Dürer der Ältere seinen Sohn dem Maler Michael Wohlgemut in die Lehre, auf daß er ihm drei Jahre diene.

Sie sind ihm nicht leicht geworden, die drei Jahre bei Meister Wohlgemut. Zum ersten Male war er außer Hause. Die Zurückgezogenheit des Vaters und seine eigene sinnierende Art ließen ihn nur schwer unter fremden Menschen sich zurechtfinden. Er vermerkt in der Chronik, daß er von Wohlgemuts Knechten »viel leiden mußte«. Das ist für ihn ein hartes Wort und läßt auf trübe Stunden schließen, die ihn der Übermut der Kameraden kosten ließ. Aber er hält durch. »Gott verliehe ihm Fleiß«, daß er wohl lernte. Ende 1489 ist er frei, und Ostern danach kann er die Wanderschaft antreten. –

So weit das äußere Leben des Künstlers bis nah an die Zwanzig. Wir halten ein, uns umzusehen, welches zur gleichen Zeit die Schicksale seiner Kunst gewesen sind.

2

Als Goldschmied fing Dürer an, in der Werkstatt seines Vaters. Es wäre für uns wertvoll, Genaueres von der künstlerischen Tätigkeit des alten Dürer zu wissen. Aber wir haben nichts in Händen. Kaum Mittelbares. Aus einer Urkunde geht hervor, daß die Goldschmiede Dürer und Hans Krug 1489 für Kaiser Friedrich III. einen Auftrag auszuführen hatten. Der Nürnberger Rat wird angewiesen, »bei dem Hans Krug und Albrecht Türer Fleiß zu thun, daß sie der kaiserlichen Majestät seine angedingte Trinkgefeß fürderlich verfertigen«. Und dann ist da noch ein Brief, den der Vater von einer Reise aus Linz an seine liebe Barbara schrieb. Sein »gnädiger Herr« habe nach ihm in die Herberge geschickt, da habe er ihm »die Bilder« gebracht, die ihm sehr wohl gefielen. Beim Abschied bekommt er ein paar Gulden mit der Weisung: »mein Goldschmied, ge in die Herberg und tu dir gütlich.« Der Brief stammt aus dem Jahre 1492, als der Sohn schon zwei Jahre auf der Wanderschaft war. Die »Bilder« können getriebene Goldschmiedearbeiten sein aus der Werkstatt des älteren Dürer. Ebensogut aber auch wirkliche Bilder, deren Verkauf der Vater nur vermittelte. Für den zweiten Fall besteht die Wahrscheinlichkeit, daß es Werke des eigenen Sohnes waren. Wir haben aus dessen Wanderzeit mittel- und unmittelbare Zeugnisse von Ölbildern, die auf Pergament gemalt waren, so daß sie sich leicht rollen und verschicken ließen. Eines (ein Selbstbildnis) hat mit ziemlicher Sicherheit den Weg von Straßburg zum Vater nach Nürnberg gefunden. Dürer kannte die bedrängte Lage zu Hause. Er kann gut öfters solche Sendungen gemacht haben, den Eltern das Geldverdienen ein wenig zu erleichtern.

Studie nach einem Reisigen (1498) – Wiener Albertina

Indessen, es bleibt eine Sache für sich, wie man die Stelle deuten will. Irgendeinen Hinweis auf die Tätigkeit des Vaters enthält sie jedenfalls nicht, und wir müssen auf anderem Wege nach genaueren Vorstellungen suchen, was in der Werkstatt des alten Dürer gearbeitet wurde, welche Umwelt also den Sohn damals umgab. Zweierlei Arbeiten konnten den Goldschmied beschäftigen: kirchliche und weltliche. Innerhalb der kirchlichen Stücke ließe sich noch eine besondere, kulturgeschichtlich sehr bemerkenswerte Gruppe ausscheiden. Jener Geist des Spottes und verkappten Widerspruchs, der die Steinmetzen der Gotik oft recht derbe »Architektenscherze« in das Bauwerk einschmuggeln ließ, zeigt sich auch in der gleichzeitigen Goldschmiedekunst bei unaufdringlichem, aber wohl bemerktem Beiwerk. Grade dem Nürnberger Witz lag diese Art. Dem kernfrommen alten Dürer aber war sie ohne Zweifel so wenig entsprechend, daß sie hier nicht in Frage kommt.

Doch auch das ernste, streng kirchliche Kunstgewerbe dürfte im wesentlichen nicht seine Sache gewesen sein. Irgendwelche Nachrichten über Aufträge wären dann doch wohl überkommen. Da sie fehlen, können wir wohl von der Kundschaft, die im Dürerschen Kramladen am Rathaus ein und aus ging, annehmen, daß sie hauptsächlich weltliche Arbeiten dort suchte. Welcher Art die Dinge waren, auf die sich die Nachfrage richtete, zählt eine Art Verzeichnis auf unter einem Holzschnitt mit der Darstellung einer Goldschmiedewerkstatt:

Ich Goldtschmid mach köstliche ding,
Sigel und gülden petschafft Ring,
Köstlich gehang und Kleinot rein
Versetzet mit Edlem gestein,
Güldin Ketten, Halß und Arm band,
Schemen und Becher mancher hand,
Auch von Silber Schüssel und Schaln,
Wer mirs gutwillig thut bezaln.

Jede größere Sammlung zeigt uns in Beispielen, wie die Goldschmiede jener Zeit mit den mancherlei ihnen übertragenen Aufgaben fertig wurden. Das gotische Kunstgewerbe, kirchliches und weltliches, ist wie der gotische Dom selbst. Als ein Ausdruck strahlender Pracht erscheint es und verschwenderischer Fülle. Und hier, bei den kleinen Äußerungen der Gotik, kommt es uns zum erstenmal klar zum Bewußtsein, mit welchen Mitteln das erreicht wird. Es ist das gotische Ornament in seiner unerschöpflichen Triebkraft, das den ersten Eindruck bestimmt, und das auch das letzte Wort hat.

Warum nennt man es gotisch?

*

Ein italienischer Künstler, Giorgio Vasari, hat die Bezeichnung eingeführt. In seinem Munde klang es fast verächtlich. Die Begriffe gotisch und barbarisch mochten sich für ihn decken. Gewöhnt an eine kühle, antikische Klarheit, eine Kunst, deren Stimmen in wenigen, leichtfaßlichen Linien geführt wurden, hatte er keinen Sinn für die gotische Formenpolyphonie und ihre unendliche Linienmelodik. Wir verstehen es anders. Für uns ist das Gotische, wenn wir es seiner engeren kirchlichen Beziehungen entkleiden (und grade eine eindringende Betrachtung des Kunstgewerbes zwingt dazu), das Nordische selbst, nur wenig abgewandelt durch die Mundart einer bestimmten Zeit.

Klar unterschieden von der nordischen Ornamentbehandlung ist die des Südens. Die südliche reiht nebeneinander, die nordische bindet. Bei seinem perlschnurartigen Aufreihen ist es der Süden zufrieden, immer die nämlichen Glieder unverändert zu wiederholen. Im Norden dagegen, wo eins aus dem andern herauswächst, bleibt kein Glied dem andern gleich. Die Erfindung kann sich nicht genug tun, immer Neues hier hervorzuholen, das Auge mit immer anderen Wendungen und Windungen zu überraschen. Bis tief in die Bronzezeit, gut 1500 Jahre vor unserer Zeitrechnung, geht das zurück. In folgerechter Entwicklung setzt es sich fort durch alle Zeiten. In der Gotik hat es den Gipfel erreicht. Nie vorher, und auch nachher nicht ward jene Polyphonie fürs Auge so sicher und so vielgestaltig behandelt. Gleichviel, ob wir an einem kirchlichen Weihrauchbehälter oder einem weltlichen Pokal die Formung prüfen: es ist die nämliche Vollendung in beiden, ein Höhepunkt künstlerischer Entwicklung.

Gotische Formgebilde haben Dürers erste künstlerische Eindrücke bestimmt. Mehr als das: die in solchen Formen wirkende Kraft lag ihm im Blute, sie hatte ein Wort mitzusprechen bei allem, was er sann und bildete. Eine Darstellung der Kunst Albrecht Dürers ließe sich denken, die ihren Gegenstand behandelte wie ein Musiker die Aufgabe Tema con variazioni. Die Gotik und der ihr innewohnende Formwille ist das gegebene Thema, dem immer neue Abwandlungen geschaffen werden. Der Unterschied ist nur, daß bei einer Variationenfolge die Stücke gleichwertig nebeneinanderstehen und ihrer keins das Thema zu verleugnen sucht. Bei Dürer hingegen ist es ein stetes Darüberhinauswollen, ein ewiger Kampf mit der Gotik. Deutschlands größester Künstler hat zeitlebens gerungen mit Deutschlands ältesten Kunstüberlieferungen: das ist eine Erscheinung, die wohl besonnen und wohl ergründet werden will. Was wollte die Gotik? Was wollte Dürer?

3

Spiralige, sich rankende Gebilde bestimmen wie die Gotik, so jede andere Formkunst nordischer Herkunft. Was war es, was dieser herrischen Ornamentik die Kraft gab, daß sie buchstäblich durch Tausende von Jahren über eine ganze Rasse Macht behielt?

In den frühesten, steinzeitlichen Anfängen ist wohl alles klar. Die Spiralgebilde der Trojaburgen ahmten den Lauf der Sonne nach; dem schamanistisch denkenden Menschen lag daran, diese zauberischen Abwehr- und Beschwörungsmittel überall und immer um sich her zu haben. Warum aber ließ der Nordländer auch dann nicht von ihnen, als der Sichtkreis des Schamanismus längst unter ihm lag?

Wir nehmen ein beliebiges, nordisch ornamentiertes Gebilde der Bronzezeit in die Hand; die Sonnenscheibe von Trundholm, eine Zierplatte, ein Hängegefäß, gleichviel was. Es ist schön, ein solches Werk, es kann »noch heute ein Auge erfreuen, das auf den größten Kunstwerken der Welt geruht hat«. Angesichts solcher Erkenntnis, die jeder voraussetzungslosen Betrachtung sich gibt, begreifen wir es wohl, was der Spiralornamentik im Norden Macht gab über alle Zeiten. Das Strahlen und Flimmern der Sonne ist gebannt in jedem Werk von Menschenhand, das dieser Ornamentik zugänglich ist; rein sinnlich, nicht nur sinnbildlich; und das um so mehr, je lebhafter und wilder die Formen sich verschlingen. Sonne wollte man haben im Land der Nebel, und Sonne schuf man sich in dieser wildwuchernden, »gegenstandslosen« Kunst. Es ist soviel Helles, Freundliches, Lachendes in ihr, und so pflegte man sie unablässig, mochte in den Gefilden des Geistes kommen und gehen, was da wollte. Die Spiralornamentik hat neusteinzeitlichen Gräbern das Düstere genommen, sie hat den heidnischen Tempel verziert wie die germanische Hauswand, sie hat ihr gutes Hausrecht bewahrt in romanischen wie in gotischen Domen, und dort am Altar wie am Portal, an der Monstranz wie am Chorrock. Ja heute noch, da sie von neuem sich regt, scheint ihre Kraft so ungebrochen wie am ersten Tag.

*

Nun aber das andere: wenn die Schling- und Rankenkunst des Nordens dem Auge so viel Sonne schenkte, was konnte der Grund sein, daß immer wieder einmal Künstler auftraten, die gegen sie waren? Was hat Dürer bestimmt zu solchem erneuten Ringen gegen die älteste Kunst seiner Rasse?

Es war mit einem Wort dieses, daß die Ornamentik des Nordens bis auf Dürers Tage hinab wohl eine schöne, doch auch eine »eifrige« Kunst war, die keine andere duldete neben sich. Hier lag eine Gefahr, und Dürer als erster hat sie erkannt in ihrer ganzen Größe. Von einer Gefräßigkeit des Ornaments kann man sprechen. Das wuchernde Ornament, das einen Gegenstand ursprünglich nur umrankt, zehrt schließlich an ihm, ja, es vermag ihn beinah restlos aufzulösen, daß nur sein eigenes Gerank noch übrigbleibt.

Nirgends läßt sich diese zweite, schlimme Eigenschaft des Ornaments klarer beobachten, als in der Behandlung aller figürlichen Gestalt in der Kunst des Nordens. Der Bildzauberglaube hatte denen im Süden schon in der älteren Steinzeit eine erstaunliche Fähigkeit gegeben, Gestalten nachzubilden. Über diese Glaubensform war der Norden längst hinaus, und damit war er auch jener Fähigkeit verlustig geworden. Als dann ein reiner, nicht mehr religiös zweckhafter Kunsttrieb das Verlangen in ihm weckte, auch Gestalten zu geben, da war es jene Gefräßigkeit des Ornaments, die ihm immer wieder das halb schon Gewonnene auflöste in Nichts. Wir sehen es an den Tonfiguren der jüngeren Steinzeit, die sich Glied für Glied bestimmten Ornamenten anpassen, anarten müssen, bis endlich die ganze Figur nur noch ornamental etwas ist. Es ist dasselbe bei den Felsenzeichnungen und -gravierungen der Bronzezeit, beim Gerät der Hallstattstufe, der Tierornamentik, nordischen Schmuckstücken wie den Brakteaten, mittelalterlichen Miniaturen. Geradezu heldenhafte Anstrengungen werden von den unbekannten Künstlern oft gewagt, eine Überlieferung zu durchbrechen, die ihnen das höchste Gebiet der Kunst verschließt. Aber die Überlieferung ist schließlich stärker: die Künstler erliegen.

Die Stufe der Gotik zeigt neben der höchsten Blüte der Ornamentik auch das Ringen in einem Augenblick äußerster Spannung. Welche unheimliche Verdauungskraft entwickelt gerade jetzt die wuchernde Form! Ganze Kirchen konnte sie verschlingen. Das kriecht die Pfeiler hinan, setzt sich fest an den Kapitellen, den Schlußsteinen, nistet im Maßwerk, verästelt Rundstäbe und Rippen, läßt keiner Strebe mehr ihren ungebrochenen Zug, und den Turm vollends hat es ganz und gar ausgezehrt und aufgelöst.

Oswolt Krell (1499) – München, Alte Pinakothek

Die Künstler, die »voller Gestalt« waren, gingen wacker dagegen an. Ihre Gebilde, tierische wie menschliche, heilige und unheilige setzten sie hinein in das Geheck, wo es am dichtesten war. Das aber ist stärkeren Triebes. Die deutsche Kunstgeschichte des 15. Jahrhunderts ist, wie im Ornamentalen ein steter Aufstieg, so im Figürlichen bis nahe ans Ende ein steter Niedergang. Eine Künstelei greift um sich, die alle mühseligen Errungenschaften bildlicher Gestaltung wieder wanken macht. Folgen wir dem Gang der Dinge, so meinen wir, nur wenige Jahrzehnte der Entwicklung damals müßten hingereicht haben, auch den letzten Rest noch zu vertilgen.

4

Das ist der Augenblick, in dem der junge Dürer einsetzt, und mit ihm eine Kraft, die nicht zu brechen ist. Von Anfang an zeigt er den unbeugsamen Willen zur Gestalt. Es beherrscht ihn wie ein Schicksal. Wo irgendein Mittel in Sicht kommt, gegen die Gefahr der Ornamentik anzugehen, da stürzt er sich drüber. Mit heißem Bemühen ergründet er, was die Kunst seiner Zeit, die nahe und ferne, an Andeutungen hergibt und baut es aus. Er geht unter die Gelehrten, wird selbst ein Gelehrter, die Gesetze des Figürlichen sich eigen zu machen. Das läßt ihn nicht los bis an sein Lebensende, hier ringt er, wie nur je ein Mensch mit einer unsichtbaren Kraft gerungen hat. »Ich lasse dich nicht!«

Dürer stand nicht allein. Es wäre unwahr, die Arbeit anderer Künstler, die Entsprechendes wollten, zu übersehen oder zu verkleinern. Allein in Nürnberg haben wir treibende Mächte wie Adam Krafft, Veit Stoß, Peter Vischer. Unabhängig von Dürer, vor allen Dingen vor ihm sind sie in die gleiche Richtung eingelenkt. In allen Kunstmittelpunkten bereitete sich um die Wende des 16. Jahrhunderts ähnliches vor. Was Dürer unterscheidet ist dieses: es wäre ihm nicht schwer geworden, eine bestimmte Renaissanceformel für sich zu gewinnen und auf ihr ein Lebenswerk zu gründen. Die anderen hielten es so. Wohin es hätte führen müssen, zeigt die flämische Malerei, die in Massys, Gossaert, und weiter Scorel und anderen dem von außen übernommenen Schönheitsideal sich so willig fügte, daß sie schließlich dem Ausland hörig wurde, eine der nordischen Art verlorene Provinz.

Das hat Dürer vermieden. Er hat sich nicht verschrieben, über dem neu Erworbenen vergaß er nicht das Gute des Überkommenen. Er ist deutsch geblieben im Empfinden und Gestalten, das Gefühl für das Herrliche der Gotik starb ihm nie dauernd ab. Das aber wurde ihm nur möglich dank jener weisen Fügung des Schicksals, die ihn zunächst in die Schule desjenigen Gewerbes gab, wo die nordischen Formen am unumschränktesten herrschten. In der Sättigung mit ihnen, in ihrer Bewältigung grub sich ihm auch deren Verständnis zutiefst in die Seele.


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