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Erstes Kapitel.

Die Zeit.

Wenn wir uns den Verlauf der Zeit vergegenwärtigen, so kann dies auf zwei grundsätzlich verschiedene weisen geschehen, die in den bildlichen Ausdrücken vom Rad oder Kreislauf der Zeit und vom Strom der Zeit ihren Ausdruck finden. Das Wort vom Strom der Zeit soll bezeichnen, daß die Zeit etwas Fortlaufendes, einer Linie Ähnliches ist, wie denn auch in den alten Mythologien, sowohl den griechischen wie den germanischen, der Ablauf der Zeit veranschaulicht wird in dem Spinnen eines Fadens durch die Parzen oder durch die Nornen. Auch in unsern Kalendern, welche die Einteilung und den Verlauf der Zeit kennzeichnen, sehen wir diesen fortschreitenden Charakter dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die aufeinander folgenden Tage mit fortlaufenden Nummern versehen sind, welche die verschiedenen Monatstage voneinander unterscheiden, daß die Monate in bestimmter Reihe aufeinander folgen, und daß schließlich auch das ganze Jahr mit seiner eigenen, bestimmten Nummer versehen ist, die in jedem folgenden Jahre um eine Einheit vergrößert wird.

Alle diese Darstellungen zeigen, daß die Zeit sicher etwas Fortschreitendes ist, und bringen diese Besonderheit zum anschaulichen Ausdruck, daß niemals etwas, was einmal geschehen ist, in ganz derselben Weise wiederkehrt, sondern daß die Welt unaufhörlich anders wird. Wenn Schiller behauptet: »Alles wiederholt sich nur im Leben«, so ist das ein poetischer Ausdruck, der durchaus nicht die wesentliche Seite des Tatbestandes zum Ausdruck bringt, sondern nur eine gewisse Nebenseite, und diese nach dichterischer Gepflogenheit übertreibt.

Andererseits können wir doch nicht leugnen, daß die Darstellungsweise der Zeit als einer beständigen Wiederkehr gewisser Vorgänge eine unzweifelbare Bedeutung hat. Ein jeder Blick auf irgendeine Uhr zeigt uns ja diese Beschaffenheit. Das Zifferblatt jeder Uhr wird durch einen Kreis dargestellt, über welchen die beiden Zeiger hinlaufen, die alle zwölf Stunden wieder genau dieselben gegenseitigen Stellungen einnehmen und welche demgemäß den einseitig fortschreitenden Verlauf der Zeit durch eine entsprechende Anzahl immer wiederkehrender Erscheinungen darstellen, hierdurch wird die Zeit im Gegensatz zu der erst geschilderten Beschaffenheit als etwas Wiederkehrendes oder Periodisches gekennzeichnet. Und daß, diese periodische Wiederkehr nicht nur ein mechanisches Hilfsmittel ist, um die technische Schwierigkeit etwa eines unbegrenzt langen Fadens oder Landes, das nur die Zeit im ersten Sinne messen würde, überwinden zu lassen, das geht ja aus der Tatsache hervor, daß auch unabhängig von uns durch die Bewegungen der Erde um ihre Achse und um die Sonne eine zweifache periodische Erscheinung, die des Tages und die des Jahres unsere fortschreitende Zeit in immer wieder gleiche Abschnitte zerlegt wird.

Allerdings ist es mit der Gleichheit dieser Abschnitte auch nicht in aller Strenge so bestellt; denn wir wissen ja ganz genau, daß, wen n auch die mittlere Länge eines astronomischen Sonnentages konstant ist, doch die wirkliche Länge des Tages, nämlich die Zeit zwischen einem höchsten Stand der Sonne und dem nächsten, von dieser mittleren Tageslänge um eine wandelbare Größe verschieden ist. Ebenso ändert sich außer der Länge des Tages auch seine übrige Beschaffenheit. Denn der eine Tag ist trüb und regnerisch, der andere hell und sonnig; an dem einen Tag steht die Sonne nur kurze Zeit über dem Horizont, an dem andern Tag leuchtet sie sehr viel länger. Und ebenso wissen wir, daß, die Jahre verschieden sind, wenn auch ihre Länge theoretisch gleich gemacht wird. Es stimmt nämlich die Einteilung der Zeit in Tage mit der im Jahre nicht völlig überein, wir müssen deshalb alle vier Jahre einen Tag in das Jahr einschalten, damit wir mit unserem Kalender gegenüber den Bewegungen der Sonne nicht in Fehler geraten, und müssen diese Korrektur nochmals alle Jahrhunderte verbessern.

Und ebenso wie an den einzelnen Tagen beobachten wir Verschiedenheiten in der Wetterbeschaffenheit der Jahre, denn wir haben fruchtbare und unfruchtbare, trockene und feuchte Jahre; wir haben Jahre mit kalten und solche mit milden Wintern, also ebenfalls Verschiedenheiten, die nicht unter das Gesetz der Periodizität fallen, sondern eine davon unabhängige Beschaffenheit haben.

Wie ist es nun möglich, daß dasselbe Ding, die Zeit, so entgegengesetzte Eigenschaften offenbart?

Die Antwort ist, daß, keine von diesen beiden Eigenschaften ausschließlich der Zeit zukommt. Zwar ist die Zeit zweifellos dem Wesen der Sache nach fortschreitend und die Behauptung, daß niemals die verflossene Zeit wiederkehrt, ist durchaus berechtigt und haltbar. Aber wenn auch niemals die ganze Zeit wiederkehrt, d. h. wenn auch niemals Ereignisse wiederkehren, welche vollkommen und in jeder Beziehung mit den vergangenen Ereignissen übereinstimmen, so wissen wir doch, daß eine teilweise Wiederkehr außerordentlich häufig ist. So stellen die Perioden der Tage wie der Jahre durchaus eine teilweise Wiederkehr dar. Deshalb können wir die Zeit mit der Uhr, die eine vollkommene Wiederkehr darstellt, messen, indem wir uns diese wiederkehrenden Stücke aneinandergesetzt denken, so daß sie doch in ihrer Gesamtheit den fortlaufenden Charakter der Zeit haben.

Dieser eigentümliche Doppelcharakter der Zeit kommt bereits bei den ältesten philosophischen Bemühungen um die Erfassung der Gesamtheit alles Geschehens zum Ausdruck. Unsere wissenschaftlichen Vorstellungen, die wir von der Entstehung und der Entwicklung des Weltalls haben, arbeiten durchaus mit einer solchen fortschreitenden Zeit. Vor ungezählten Jahrmillionen soll nach diesen Vorstellungen unser Erdball als solcher noch nicht existiert haben, sondern wir nehmen für das ganze Sonnensystem etwa die Beschaffenheit eines großen Gas- oder Nebelballs an. In diesem hat dann die Zusammenballung zu einer zentralen Masse stattgefunden, die dann ihrerseits durch ihren heftigen Umschwung Stücke von ihrer Peripherie abgeschleudert hat, aus denen die Planeten geworden sind. Diese abgeschleuderten Stücke haben sich dann wiederum infolge der inneren Gravitationskräfte zu Kugeln geordnet, die von kleineren Stücken, den Monden, im Umschwung begleitet wurden.

Wir brauchen uns hier nicht darüber schlüssig zu werden, welches Maß von Wahrscheinlichkeit man diesen Vorstellungen zuschreiben mag. Wir wollen uns auch den Kopf nicht darüber zerbrechen, ob der durch Betrachtungen ganz anderer Art vorausgesagte schließliche Untergang der ganzen Welt, der Wärmetod infolge der ausgleichenden Tendenz zum Verschwinden aller Temperaturdifferenzen, wahrscheinlich ist. Denn wir wissen ja ganz allgemein: je weiter die Aussagen sowohl nach der Vergangenheit wie nach der Zukunft reichen sollen, um so unsicherer werden sie im Sinne der Wissenschaft und um so unbestimmter müssen die Behauptungen bleiben, die wir über den Zustand weit zurückliegender Vergangenheit und entlegener Zukunft aussprechen. Daß aber auch die andere Möglichkeit, die periodische Wiederkehr alles Geschehens, nicht außerhalb der Grenzen des Denkens und des Glaubens in einem Menschenkopfe liegt, lehrt uns beispielsweise die philosophische Theorie von der ewigen Wiederkehr alles Geschehens, dessen jüngste Fassung von Friedrich Nietzsche herrührt. Gerade die erfahrungsmäßige Tatsache, daß so vieles in unserer Wirklichkeit periodischen Charakter hat, ferner vielleicht auch noch eine gewisse metaphysische Tendenz, auf irgendeine Weise eine Unendlichkeit des Daseins einzuhandeln, haben diesen selbständigen und kühnen Denker zu der Idee gebracht, daß es tatsächlich keine eigentlich fortschreitende Zeit gibt, sondern daß alles, was wir anscheinend Fortschreitendes erleben, sich tatsächlich als Stücke einer riesigen Periode erweist, so daß nach Ablauf irgendeines sehr ausgedehnten Verlaufes schließlich wieder die Welt mit genau denselben Ereignissen und Konstellationen beginnen wird, wie sie vor Jahrmillionen einmal bestanden haben.

Wir haben keinen ausreichenden wissenschaftlichen Grund, diese Auffassung für richtig zu halten. Sie ist hier nur erwähnt worden, um zu zeigen, wie diese beiden sich einigermaßen widersprechenden Eigenschaften der Zeit sich philosophisch zur Geltung gebracht haben.

Die Auflösung dieser Schwierigkeiten und Widersprüche liegt darin, daß das, was wir schlechtweg die Zeit nennen, eigentlich ein außerordentlich zusammengesetztes Bündel sehr verschiedenartiger Zeiten ist. Da nämlich die verschiedenen Ereignisreihen, die unabhängig (oder teilweise unabhängig) voneinander nebeneinander dahinlaufen, jedes seine eigene Zeit bestimmt, so entsteht die Frage, wie hieraus überhaupt eine einheitliche Zeit zustande kommen kann. Daß diese vielen und im mannigfaltigen Nebeneinander ablaufenden Zeiten uns als eine einheitliche linear ablaufende Zeit erscheinen, liegt nur an der Beschaffenheit unseres Denkens, zufolge deren wir jederzeit immer nur einen einzelnen Gedanken, ein einzelnes Ereignis, eine bestimmte Seite von einem zusammengesetzten Geschehen im Bewußtsein gegenwärtig haben können, während die andern »gleichzeitigen« Dinge teils nur in schattenhafter Weise an unserem Bewußtsein teilhaben, teils sich ihm vollständig entziehen. Unter diesen nebeneinander verlaufenden Dingen gibt es so und so viele, welche sich dem Ideal der genauen Wiederholung mehr oder weniger vollständig annähern, und es gibt wieder andere, welche durchaus einen fortschreitenden Charakter haben. Dem Ideal der Wiederholung nähern sich beispielsweise die astronomischen Erscheinungen außerordentlich. Im Sonnensystem erfolgen die Bewegungen der Planeten um den Zentralkörper und die Bewegungen der Monde um ihre einzelnen Planeten praktisch gesprochen rein periodisch. Allerdings legen sich diese Perioden übereinander, da jeder Körper in seiner eigenen Periode schwingt, aber jede dieser Bewegungen ist für sich streng periodisch, von entgegengesetzter Beschaffenheit sind die Lebensabläufe der Pflanzen wie der Tiere. Diese sind durchaus fortschreitend. Vom einzelnen kleinsten Zellenanfang durch eine immer höher gehende Entwicklung bis zu einem bestimmten Maximum der Leistungsfähigkeit und der Lebensenergie führt die Entwicklung, worauf dann ein langsames Absinken und schließlich der Tod erfolgt.

Die Gesamtheit dieser mannigfaltigen Zeitverläufe stellt dann eben den verwickelten und schwierigen Begriff der Gesamtzeit dar, von dem wir uns durch die beiden Hauptformen, die rein fortschreitende und die rein wiederkehrende oder periodische Rechenschaft zu geben suchen.

 


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