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VI

Domunt's Bericht dauerte nicht lange; denn die Geschichte war kurz und alltäglich. Nur das Ende war ein ungewöhnliches. Die Erzählung lautete folgendermaßen:

Eine begüterte, zur Schlachta gehörige Familie, ein ziemlich breites Leben, in welchem kein Luxus, aber reichlicher Ueberfluß herrschte, ein altes, bequemes Wohnhaus und etwa anderthalbtausend Morgen mäßig fruchtbaren Bodens. Der alte Domunt, Haupt der Familie und Eigentümer des Gutes, konnte für einen ziemlich vermögenden Mann gelten, aber für vier Söhne und drei Töchter reichte dieser Besitz zu einem bequemen Leben nicht hin; und zu Bauern wollten sie sich nicht degradiren lassen. Es wurde daher beschlossen, daß die Söhne in die Welt geschickt werden sollten, um zu studiren und – Carrière zu machen. Die Sache war einfach und alltäglich, und niemand konnte weder den handelnden Personen, noch den Zuschauern irgend einen Vorwurf machen. Im Gegentheile. Die jungen Leute fühlten sich berechtigt, für ihre Energie und Ausdauer Beifall zu verlangen, und wurde ihnen derselbe auch nicht versagt. So weit war die Sache recht schön. Nur gab einer der Söhne anfänglich Anlaß zur Unzufriedenheit. War sein Naturell stürmischer als das der Anderen, seine geistige Veranlagung nicht so systematisch, oder besaß er weniger Ausdauer, der Grund bleibt dahingestellt, Thatsache war jedoch, daß er auf der Universität mehrmals umsattelte, und sich keineswegs zu der Wahl eines Berufes entschließen konnte. Ja, einmal sogar blieb er, inmitten der Studien, ein ganzes Jahr zu Hause. Dieser Umstand gab Anlaß zu ernstlicher Besorgniß. An sein Bleiben in Kaniówka dachte niemand. Sollte er dem Vater, der noch rüstig und ziemlich despotisch war, als Oberknecht dienen, oder auf einem kleinen Vorwerk sich selbständig niederlassen? Beides war nicht rathsam, denn es wäre schade, einen Jungen, der gute Fähigkeiten besaß, seiner Jugendthorheiten halber verbauern zu lassen. Der Vorschlag, zum Handel oder Gewerbe zu greifen, wurde mit Entrüstung zurückgewiesen. Das – hieß es – sei gut für Idioten und Leute, denen kein anderer Ausweg offen steht. Casio jedoch ist mit vorzüglichen Fähigkeiten begabt und soll Carrière machen.

In einer der Hauptstädte Europas hatten die Domunts einen Verwandten, der, an der Spitze mehrerer finanzieller Unternehmungen stehend, für einen glänzenden Kopf galt und bereits ein Vermögen von einigen Millionen erworben hatte. Zu diesem Verwandten sollte Casimir geschickt werden. Zwar verlautete es hin und wieder, diese leuchtende Sonne sei nicht ohne häßliche, dunkle Flecken. Doch das war von keiner Bedeutung. Der Mann hatte Millionen erworben; Casimir, als sein Schüler und Gehilfe würde dasselbe thun. Und was die Flecke anbetrifft, so sind dieselben zwar eine Krankheit, aber muß denn jede Krankheit gleich ansteckend sein? Casimir wird sich schon in Acht zu nehmen wissen. Uebrigens, wer weiß, ob diese in leisem Flüstertone erzählten Geschichten auch wahr sind? Ist es doch bekannt, wie gern die Verleumdung sich an die Fersen von Leuten heftet, denen alles, was sie unternehmen, gelingt.

Die Perspective, in einer Großstadt zu wohnen und sich binnen kurzem Vermögen zu machen, war für einen jungen Mann äußerst verlockend. Man schrieb an den Verwandten. Die Antwort lautete herzlich und Casimir machte sich auf den Weg, den Kopf voller Träume, die gleich zu Anfang sich in Wirklichkeit verwandelten.

Es geschieht nicht oft, daß im Herzen eines Midas, dem alles, was er angreift, zu Gold wird, eine kleine, aber unsterbliche Saite existirt, die, berührt, in einem reinen, herzlichen Ton erklingt. Aber hin und wieder geschieht es doch. Der Millionär empfing seinen Schutzbefohlenen mit offenen Armen. Er fand, derselbe sehe einer in der Jugend geliebten Cousine ähnlich. Casimir mußte bei ihm wohnen und wurde vom ersten Augenblicke an wie ein Mitglied der Familie behandelt. Seine Ankunft fiel in die Zeit der Gründung eines bedeutenden finanziellen Unternehmens. Domunt trat gleichzeitig als Beamter und Compagnon ein. Nach dem Tode des Vaters ließ er sich von Marcel seinen Antheil an Kaniówka auszahlen und begann, der Führung des Midas sich anvertrauend, mit dem Gelde zu arbeiten. Sein Vermögen wuchs mit rasender Geschwindigkeit. Es geschah dies nicht ohne anstrengende Arbeit, die manchmal sogar einen Theil der Nächte in Anspruch nahm. Doch arbeitete Casimir gern und in seiner freien Zeit genoß er das Leben in vollen Zügen.

Sein Verwandter blieb ihm nach wie vor wohlgesinnt und lagen dieser Sympathie außer ideellen auch praktische Ursachen zu Grunde.

Der junge, lebhafte Mann mit dem einnehmenden, Vertrauen erweckenden Aeußeren war ein für die Pläne des Midas sehr nützliches Werkzeug. Sein Vertrauen war so aufrichtig und grenzenlos, daß er Andere mit demselben ansteckte. Dieses Vertrauen fußte auf Mangel an Erfahrung und inniger Dankbarkeit. War es nicht natürlich, daß er für das viele Gute, für das genußreiche Leben, das er jetzt führte, seinem Wohlthäter sich dankbar erweisen wollte? Und dies gelang ihm auch. Nicht nur, daß er selbst und häufig über seine Kräfte arbeitete, er führte dem Altar, dem er diente, immer neue Opfer zu. Dank ihm strömte in die Casse des Midas eine schmale, aber ununterbrochen fließende Goldquelle. Nicht lange und diese Quelle verwandelt sich in einen reißenden Strom, aus dem alle Opfernden in vollen Zügen trinken werden. Dieses Ergebniß wäre das Werk Casimir's gewesen und gleichzeitig hätte er dem Midas einen großen Dienst geleistet.

Wenn er jetzt die Augen schließend, an die in der Schmiede des Midas verlebten Jahre zurückdenkt, ziehen eigenthümliche Bilder vor seinem Geiste vorüber.

Er sieht einen unbegrenzten, kugelförmigen, von elektrischem Lichte überflutheten Raum, in welchem eine Unzahl winziger, goldener Tropfen einen ewigen Kreistanz vollführen. In dieser künstlichen Helle, inmitten des durch die Tropfen gebildeten beweglichen Nebels, in welchem Düfte von Blumen, Wein, Parfüms und Ruß sich erheben, erblickt er reichgeputzte Frauen mit entblößten Schultern, Männer, deren Brust mit Ordenssternen bedeckt ist, in die Luft emporgehobene Weinkelche, Gestalten mit über Schreibtischen in Halbkreisform gebeugten Rücken, Füße, die auf den Theaterbrettern mit der Leichtigkeit von Schmetterlingen hin und her flattern, er hört das Geflüster verschiedener Stimmen, das Rauschen seidener Kleider, Musik, Wagengerassel, sieht reichgedeckte Tafeln, Kartentische oder solche, die mit Papieren bedeckt sind, auf denen nichts als Ziffern stehen. – Ach, diese Ziffern! Die sind überall! Auf den Gesichtern und Kleidern, den entblößten Schultern, den Fächern und Blumen, den gebeugten Rücken, in den flammenden Pupillen, auf den grauen Haaren und dem eisernen Geldschranke des Midas. Man sieht und hört sie; sie fliegen im Raum, bedecken Himmel und Erde, bilden endlos lange, dem menschlichen Begriffe nicht mehr zugängliche Zahlenreihen.

Es genügt Casimir, die Augen zu schließen, um diese ganze, tolle Sarabande vor sich zu sehen. Das leuchtet, glänzt, tanzt, duftet, springt und rast!

Ein Moloch, der das Menschengeschlecht verzehrt, die Bestie der Apokalypse.

Es war nicht schwer zu erkennen, daß der Mann, der, die Augen mit der Hand bedeckend, über diese krankhaften Visionen klagte, unsäglich litt.

»Lass' gut sein, Casio,« sagte Roman, »wozu diese trüben, das Herz vergiftenden Erinnerungen!«

Wie aus einem Traume geweckt, blickte Domunt um sich.

Die Sonne war dem Untergange nahe; der Hof und die Felder standen in zwar klarem, aber doch schon ein wenig gedämpftem Lichte. Von dem Flüßchen, an dem die Freunde saßen, wehte es frisch herauf; unmittelbar vor ihnen blühten ganze Büschel verspäteter Vergißmeinnicht, und in einiger Entfernung flogen Schwalben, auf den Blättern riesengroßer Wasserlilien Futter suchend. Rosenrothe, goldig umsäumte Wölkchen glänzten am Himmel.

Aus der Thür des Hauses traten zwei halbwüchsige Mädchen, schritten über den Hof und ließen sich auf den hochaufgeschichteten, weißen Holzspänen nieder. Bronia schlug ein Buch auf; Domunt's Schwester schlang ihren Arm um die Freundin. Die Kinder waren mit ihrer wirthschaftlichen Thätigkeit fertig, hatten auch schon eine ganze Menge Nüsse gesammelt und vertieften sich nun mit großem Interesse in ihr Buch.

»Lunia,« rief Domunt, »komm' zu mir.«

Die Kleine eilte herbei.

»Küss' mich!« sagte der Bruder, die Augen emporhebend, ohne jedoch seine Stellung zu verändern.

Lunia neigte sich über ihn und drückte einen herzlichen Kuß auf seine Stirn.

»Was sonst?« fragte sie.

»Nichts. Geh' zu Deiner Freundin zurück.«

Lächelnd lief sie davon.

»Als ich verreiste, war sie vier Jahre alt und wunderbar schön. Ich liebte sie ungemein und die Mutter meinte scherzend, ich würde sie mit meinen Küssen erdrücken. In der Entfernung dachte ich viel häufiger an sie als an die Anderen. Kein Wunder. Es ist nur natürlich, daß man seine Schwester liebt, und nun gar eine Schwester, die so bedeutend jünger. Aber das Eigenthümliche ist, daß ich, heimgekehrt, lange Zeit nicht wagte, sie zu küssen. Ich fühlte mich dessen unwerth, fürchtete, mein Kuß könne sie beflecken.«

Denn als das Gebäude des Midas zusammenstürzte, entquoll dem Schutt ein Strom von Schmutz und diese stinkende, schwarze Flüssigkeit begoß nicht nur den Baumeister, sondern auch dessen Gehilfen. Der Krug geht so lange zum Wasser, bis der Henkel bricht. Der Henkel brach; aus dem zerschlagenen Krug kamen Betrügereien zum Vorschein, die, wenngleich auf äußerst umsichtige Weise eingefädelt, das Einschleichen eines Irrthums nicht hatten verhindern können. Dieser Irrthum wurde dem Midas verderblich.

Kurz vor der Katastrophe begann dem eifrigsten seiner Gehilfen eine Ahnung der Wahrheit aufzusteigen. Doch suchte er den Gedanken an Betrug von sich fortzuscheuchen. Er fürchtete, seinen Wohlthäter zu beleidigen, und es mangelte ihm die Kraft, den goldenen Faden des heiteren, sorglosen Lebens gewaltsam zu zerreißen.

Als das Entsetzliche geschah, als er es, von Licht überströmt, in seiner ganzen Nacktheit erblickte, alle Ursachen und Wirkungen übersah, ward ihm zu Muthe, als ginge die Welt unter.

An seinen eigenen Ruin dachte er nicht mehr. Angesichts des unendlichen Elends, das ihn umgab und das er mit herbeigeführt zu haben sich bewußt war, stand er geblendet. Nicht nur seinen Besitz, sein Leben hätte er mit Freuden dahingegeben, wären ihm die fürchterlichen Auftritte erspart worden, die seiner Gefangennahme vorausgingen.

Großer Gott! Heute noch glaubt er den blutüberströmten Schädel des kleinen Beamten, der seinem Leben durch einen Revolverschuß ein jähes Ende bereitete, vor sich zu sehen, das Jammern und laute Weinen der Kinder zu hören. Und das war nur scheinbar das Schrecklichste. Anderes, weniger ungewöhnlich, barg unter der einfachen Hülle einen Abgrund von Unglück und Schmerz.

Der Fluch der Menschen, den er verdient, den er durch sein eigenes Thun herbeigeführt, hatte sich in seinem Hirn festgesetzt, gleich einer Mücke, die in das Ohr eines Schlafenden eingedrungen, denselben durch ihr Summen dem Wahnsinn nahe bringt. Und nicht eine, viele, viele solcher Mücken summten in seinem Hirn. Mit Klagen, Vorwürfen und Drohungen drangen die Leute, die durch ihr Vertrauen in seine und des Midas Ehrlichkeit um ihr Letztes gekommen waren, haufenweise in Casimir's Wohnung ein. Anfänglich suchte er sein Gewissen zu beschwichtigen. Hatte er das gewollt? Wenn er die Verhältnisse gekannt, wäre er ihnen doch nicht selber zum Opfer gefallen? Aber allmählich begann er klarer zu sehen und immer schwerer wurde die Last, die auf sein Herz sich wälzte. Als endlich die Thür des Gefängnisses hinter ihm ins Schloß fiel, beugte er schuldbeladen sein Haupt und fühlte, daß die Strafe gerecht war.

»Eines für das andere!« dachte er. Lieber hätte er sein Leben dafür hingegeben. Aber niemand dachte daran, ihn dessen zu berauben. Daß er diese Schande, die tausendfach ärger als der Tod, erleiden mußte, schien ihm eine Art Sühne. Mit dem Blute seines Herzens sollte er für das Unrecht büßen, das er Anderen gethan. Vielleicht war er sich dieses Begriffes anfänglich nicht klar bewußt. Aber in der Einsamkeit und Oede des Gefängnisses, während der Kreuz- und Querfragen der Untersuchung, da angesichts der ganzen Residenz das Urtheil über seine Ehre und seine Zukunft gefällt werden sollte, immer mußte er sich wiederholen: Dir widerfährt nur Gerechtigkeit! Das schwerste Leid, das er ertrug, senkte sich linderndem Balsam gleich auf die am heftigsten blutende Wunde seines Herzens.

Erst in dem Augenblicke, da er das Wort vernahm: »Nicht schuldig!« da er als freier, achtbarer Mensch in die Gesellschaft zurückkehren durfte, erst in diesem Augenblicke fühlte er sich grenzenlos, trostlos unglücklich!

Casimir hielt inne. Er war müde. Nach einer Weile hob er den Blick zu dem Antlitze des Jugendgefährten empor.

»Was ist das, Romek?« rief er. »Du hast Thränen in den Augen! Wende Dich nicht weg, es hilft nichts, ich habe sie bereits gesehen. O, Du mein lieber, alter Freund!«

»Hol' der Teufel,« rief Roman, seine Erregung niederzukämpfen suchend, »alle Räuber, Betrüger und Speculanten! Das Eine jedoch sage ich Dir: In diesem Falle saß ein Mann großen Herzens auf der Anklagebank.«

»Wer? Ich? Ich soll dieser Großherzige sein? O, Gott! Nichts derartiges. Unendlich elend war ich, und langsam erst kehren mir die Kräfte wieder. In diesem weltvergessenen Winkel giebt es balsamträufelnde Kräuter. Als ich schon den Entschluß gefaßt hatte, mich in Casimirówka niederzulassen, schüttelte Herr Romuald, seiner Gewohnheit gemäß, kläglich das Haupt: »Aber,« rief er empört, »was fällt Dir nur ein? Wirst Du denn in diesem Loche auch nur das kleinste Stückchen einer Pastete finden? Deine feuchten Augen, Deine treue Freundschaft, wie – ist das nicht ein Trost, eine unsagbare Freude?«

Denn Casimir hatte aufgehört, an Mitgefühl, an Reinheit des Herzens und der Gesinnung zu glauben. Vor der Katastrophe hatte ihn die Sympathie der Menschen gefreut und er war stolz auf dieselbe gewesen. Er hatte keine Ahnung davon, daß er in geborgtem, vom Midas ausgehenden Lichte strahle, sondern glaubte, seine persönlichen Eigenschaften entfachten in den Herzen der Menschen die Funken der Liebe und Freundschaft. Nach der Katastrophe überzeugte er sich, daß er nur eine Ziffer gewesen, die man zur Vervollständigung einer Summe für nothwendig erachtet hatte. Wenn er anstatt guter, lauter schlechte Eigenschaften gehabt hätte, man würde ihn ebenso auf Händen getragen haben. Nun die Hauptsumme verschwunden, wurde die Ziffer gestrichen, das Benehmen der Menschen gegen ihn ein von Grund aus verändertes. Und doch war er derselbe, der er gewesen, nur – mit noch größerem Anspruch auf Liebe. Denn weist nicht Gott durch das allgemeine Elend deutlich hin darauf, daß das Unglück der Menschen ein Grund sein soll, sie zu lieben? Aber in der Welt geht es gerade umgekehrt zu. Die Glücklichen liebt man; den Unglücklichen giebt man ein Almosen, wenn sie darum bitten und wenn sie dies nicht thun, sucht man sie zu vergessen. Und das thun Leute, die sich Christen nennen, die auf der höchsten Stufe der Civilisation zu stehen behaupten. Gleichzeitig – und dies ist einer der vielen ironischen Pinselstriche auf dem Bilde der Menschheit – ist niemand so liebebedürftig, als eben der Unglückliche. Es macht den Eindruck, als stoße man mit dem Herzen an Mauern; häufig schwindet das Herz dabei dahin und wo dies nicht der Fall, verliert es den Glauben an die Menschen und an sich und wird bis über den Rand mit Gift gefüllt.

Bettelarm kehrte Casimir Domunt nach Hause zurück. Neue Qualen harrten hier des Argonauten, der statt des goldenen Vlieses, Schande, Elend und Krankheit heimbrachte. Das alte Haus verfiel immer mehr, es verdorrten die Bäume im Garten. Die Mutter seufzte leise, die Schwestern welkten dahin wie Blumen, denen es an Sonnenschein mangelt. Die jüngste Schwester, Lunia, erkannte den Bruder nicht. Das Gut war verpachtet, überall herrschte Oede und Stille. Aber nicht die Stille, die über wogenden Feldern lagert, sondern die Ruhe eines Friedhofes, wo nichts mehr zu verrichten ist, denn die Todten schlafen und die Lebenden sind fortgegangen.

Warum war das so? Warum? Wo waren diejenigen, deren Herzen, Köpfe, Stimmen und Hände der Stätte, die sie geboren, Leben verleihen sollten? Dort, wo er gewesen. Widmen ihr Leben den Zwecken, denen er das seine gewidmet. Lauschen der Fanfare, deren Klängen er gelauscht. Und warum war er heimgekehrt? Weil das Glück von ihm gewichen und er ein auf einen Kehrichthaufen hinausgeworfener Lappen geworden. Und ein Anderer wieder wird heimkehren, wann das Alter ihn arbeits- und leistungsunfähig gemacht haben wird.

Also bildet diese Erde, diese Luft, dieser Himmel nur einen Haufen, auf den alles fällt, was anderwärts befleckt und zerrissen wurde, der von allem, was frisch und kräftig, verlassen wird!

Diese Gedanken erweckten in Casimir's Seele bittere Selbstvorwürfe. Indessen konnte er jetzt nichts mehr thun, denn nichts mehr gehörte hier ihm.

Nach mehreren, unendlich langen Wochen, die er in vollkommener Einsamkeit und ohne jegliche Thätigkeit zubrachte, hatte seine Verzweiflung ihren Höhepunkt erreicht und er beschloß, den ihn verfolgenden Gespenstern zu entfliehen, und wär' es auch durch das Thor des Todes.

Seine jüngste Schwester schmiegte sich liebevoll an ihn, erinnerte ihn an seine einstige Güte, war froh, wenn sie ihm kleine Dienste leisten konnte. Doch er suchte sich vor dem Kinde zu verbergen, trug eine angenommene Gleichgiltigkeit zur Schau. Mit dem Blut und Schmutz, die an ihm klebten, durfte diese Unschuld nicht in Berührung kommen.

Lunia grämte sich ob Casimir's Gleichgiltigkeit. In der Phantasie des in der Einsamkeit erzogenen, zur Schwärmerei neigenden Kindes waren die Brüder zu angebeteten Heldengestalten geworden, denen die Kleine alle möglichen Epitheten beilegte. Niemand enthüllte ihr die Wahrheit, am allerwenigsten die Mutter, welche die Mängel ihrer geliebten Kinder nicht nur vor Anderen, sondern vor sich selbst sogar hätte geheim halten mögen.

Eines Tages nun begann die Kleine, plötzlich lebhaft geworden, alle wunderbaren Eigenschaften ihrer Brüder an den Fingern herzuzählen. Nachdem sie mit der Beschreibung von Marcel, Adalbert und Felix fertig war, sagte sie:

»Als Vierter kommt Casio –«

Sie hielt inne. Ihr Blick blieb am Antlitze ihres Lieblingsbruders haften. Nach einer Weile rief sie:

»Casio ist gut, gut – als ich klein war, liebte und hätschelte er mich. Er ist gut und edel. Der beste, edelste Mensch, den es auf der Welt überhaupt giebt.«

Und mit diesen Worten eilte sie, beide Arme ausbreitend, auf Casimir zu.

Doch dieser, erst bleich, dann glühend roth geworden, schob seinen Sessel geräuschvoll beiseite und stürzte hinaus, ehe noch jemand ein Wort hätte sagen können. Stumm seufzend trennte sich der Familienkreis; Lunia weinte in einer dunklen Ecke.

Mittlerweile ging Casimir in einem entfernten Theile des Gartens auf und ab. »Gott! Gott! Was das Kind zusammenredet! Vier Helden: der Eine bringt ein riesengroßes Vermögen zusammen; in den Zweiten verlieben sich alle Mädchen; der Dritte bekleidet immer höhere Aemter; der Vierte, er, Casimir, ist der beste und edelste der Menschen – ha, ha, ha, ha! Warum hat sie nicht lieber gesagt: ein Elender, ein Räuber, ein aus der Haft Entlassener. – O, unseliges Kind, dessen Phantasie durch Träume von solchen Helden gewiegt, zum Fluge sich anschickt!«

In dem Garten befand sich ein großer Teich, der einst klar und durchsichtig wie eine Krystallscheibe, jetzt jedoch von grünlichem Schimmel bedeckt war. Unter den am Ufer dieses Teiches wachsenden Bäumen sah man vier Schwarzpappeln, deren jede den Namen eines der Domunt'schen Söhne trug. Es herrschte nämlich bei manchen Familien der Schlachta noch der alte Brauch, daß der Vater bei Geburt eines Sohnes eigenhändig einen Baum pflanzen mußte.

Casimir blieb bei seiner Schwarzpappel stehen und sie mit beiden Armen umschlingend, drückte er seine kalte Stirn an ihren Stamm.

Es war ein herrlicher Frühlingsabend. Die Luft von der Feuchtigkeit frischgefallenen Regens getränkt, am Himmel flogen weiße Wölkchen dahin; die Bäume rauschten, die Sterne flimmerten, als begrüßten sie die nach langem Winterschlaf zu neuem Leben erwachende Natur. Streng und noch etwas umwölkt, nichtsdestoweniger jedoch in unendlicher Schönheit stand die Welt da.

Casimir sah und hörte nichts von alledem. Noch ein kurzer Augenblick, und alles – sowohl das Schöne wie das Häßliche – wird für ihn zu existiren aufhören. Auf immer. Indessen ist er weder verzweifelt noch traurig. Sein Herz ist ebenso eiskalt wie seine Hände und sein Körper. Nichts bindet ihn an diese Welt. Er glaubte an Gott und damit auch an das Dasein des Guten und der Barmherzigkeit, die er auf Erden nicht gefunden. Vielleicht wird sie ihm dort zutheil, dort, jenseits. Ach, wie sehnte er sich nach Erbarmen!

Und doch – ohne daß er sich dessen bewußt war – lebte in ihm noch ein irdisches Gefühl. Er liebte seine Schwarzpappel. Sie war noch ein junges Bäumchen und er ein Kind, das kaum zu gehen vermochte, da hatte ihn seine Mutter hergeführt und gesagt: »Siehst Du, das ist Deine Schwarzpappel. Die drei anderen gehören Marcel, Adalbert und Felix, aber diese ist Dein.« Dann, als halbwüchsiger Knabe, hatte er seinen Kahn an das dünne Stämmchen gebunden, in dessen Schatten seine ersten Bücher gelesen, die ersten Zukunftsträume geträumt.

Diese Schwarzpappel war sein Eigen, das einzige, was er auf Erden besaß. Sie wußte nichts von allem, was mit ihm vorgegangen, sie wird ihn aufnehmen in ihre Arme und mit ihren großen, fleischigen Blättern wie mit Flügeln über seinem Haupte rauschen.

Er erhob den Arm; ein fremder Körper wurde zwischen die Blätter des Baumes geworfen, und steife, kalte Finger begannen in den Zweigen eine Arbeit, die sie ohne jegliche Hast vollzogen; ruhig und entschlossen wie eine unumgängliche Nothwendigkeit.

Plötzlich wurden Casimir's Finger wie mit einem eisernen Griff umklammert, seine Gestalt von dem Baume fortgeschleudert, und eine Stimme, in der Zorn und Schreck durchklangen, sprach gedämpften Tones:

»Ja, ja! Das hatte ich vorausgesehen, das war es, was ich gefürchtet! Als ich ankam und man mir sagte, Du wandeltest seit einer Stunde im Garten auf und ab, eilte ich her, und war dessen fast gewiß, daß ich Dich so finden würde. Großer Gott! Welch schwache, elende Menschen sind das! Wirst Du uns niemals stärkere, größere geben?«

Ein schwerer Seufzer hob die Brust des Sprechenden, der in gesteigertem Zorn fortfuhr:

»Vor der Sünde bist Du nicht zurückgeschreckt, aber anstatt das Geschehene gut zu machen, ergreifst Du die Flucht. Ball spielen mit dem Leben – das gefiel Dir, aber wenn Du seine Last fühlst, willst Du davonlaufen! Und am Ende bildest Du Dir noch ein, es sei Muth, oder vielleicht gar Heldenthum, das Leben gewaltsam zu verlassen, weil es aufgehört hat, ein Genuß zu sein? Da bist Du in einem großen Irrthum begriffen. Nichts leichter als zu desertiren. Aber nur Schurken und Feiglinge verlassen den Kampfplatz beim ersten besten Schrecken. Nein, dazu hast Du kein Recht. Willst Du Deine Rechnungen mit dem Leben abschließen, so zahle Deine Schulden erst. Du hast deren genug!«

Es lag etwas Hartes und fast Erbarmungsloses in diesen Worten. Casimir versuchte dagegen anzukämpfen.

»Mit welchem Rechte!« zischte er.

Doch jener hörte nicht auf ihn.

»Einmal schon,« fuhr er fort, »bist Du vor einem harten Leben davon gerannt; vor einem Leben, das aber auch ein gutes hätte werden können. Jetzt wieder willst Du Dich dem Bezahlen Deiner Schulden entziehen. Das darf man nicht. Das ist schlecht und – dumm! Damit kommst Du nur vom Regen unter die Traufe! Seit langem schon wollte ich Dir das sagen und heute bin ich dazu hergekommen. Gott sei Dank – zu rechter Zeit!«

»Mit welchem Rechte,« begann Casimir abermals, »befiehlst Du mir, was ich zu thun, und was zu unterlassen habe?«

Mit einer Hand noch immer Casimir's Finger umklammernd, die andere auf seinen Arm legend, antwortete Stephan mit schon sanfter klingender Stimme:

»Mit dem Rechte eines Bruders. Wie? Denkst Du etwa, wir seien Fremde? Wir sind Brüder und zweifach miteinander verbunden. Wenn Du niemanden hast, der Dich liebt, weil Du unglücklich und mit Schande bedeckt bist, so werde ich Dich lieben. Wenn Du ohne Stütze bist, so stütze Dich auf mich, und ich werde Dir dankbar sein, daß Du mir hilfst, den Zweck des menschlichen Lebens zu erfüllen. Einer Menschheit und einer Erde Kinder sind wir. Ich bin zweimal Dein Bruder.«

Casimir weinte. Vielleicht bedurfte er nur eines guten Bruders, um leben zu können. Und seine Brüder waren weit entfernt; er kannte sie fast nicht mehr. Und sehr sanft, wie zu einem kranken Kinde, fuhr Stephan fort:

»Knie nieder, Casio!«

Casimir zögerte; doch nur einen Augenblick.

»Knie nieder und bete! Gott, der Du mich geschaffen, Erde, aus der ich entstanden, verzeiht mir! Verzeihe, o Schöpfer, daß ich mich gegen Dein Gebot empört! In Deinem riesengroßen, für uns unbegreiflichen Weltenplan zieht sich eine lange Schmerzenslinie. Nicht kenne ich ihre Bestimmung, noch ihr Ziel, aber daß ich mein Herz und meine Kräfte von ihr abgewandt, das verzeihe mir! In dem Gebäude, das Du errichtet, und von dem wir kaum ein winzig Theilchen sehen, liegt ein schwerer Stein, genannt Unrecht. Verborgen sind mir Deine Absichten, aber – daß ich diesen Stein zugleich mit den anderen nicht tragen wollte, das, o Schöpfer, vergieb! Mein Leben soll von nun an eine Sühne und Buße sein, und ich werde meine Schuld zu tilgen suchen. Dem Teufel der Hoffart will ich entsagen, den Uebermuth der Sinne zügeln, meine Hände sollen arbeiten, meine Stirn von Schweiß bedeckt sein; mit den Leidenden will ich leiden, damit ich dazu beitrage, daß Dein Reich komme auf Erden!«

Dieses Gebet dictirte seinem verzweifelnden Gefährten der Fanatiker der Idee des Guten. Dann breitete er seine Arme aus, und schweigend – zweifach verbunden – umschlangen die Freunde einander.

Stephan fuhr an diesem Abend nicht fort. Bis spät in die Nacht sprach er mit Casimir in dessen Zimmer. Am folgenden Morgen ging er mit Lunia in den Garten.

»Du sollst Casio sehr lieb haben,« begann er, sich mit der Kleinen auf eine Bank niederlassend, »sage ihm nie, daß er der beste aller Menschen ist, aber sei viel um ihn, suche ihn zu zerstreuen und ihm zu helfen.«

»Er mag meine Liebe nicht,« klagte das Kind mit Thränen in den Augen. »Er wendet sich weg von mir und meidet meine Gesellschaft.«

»Das wird er nicht mehr thun,« versicherte Stephan. »Und eines sollst Du wissen, Lunia. Mit Deiner Liebe kannst Du Casio sehr viel Gutes thun.«

Die sonst so traurigen Augen der Kleinen leuchteten auf in Stolz und Freude. Ihr Herz schlug der Aufgabe entgegen, deren Größe sie mehr fühlte als verstand.

Einige Zeit später langte ein Schreiben von Marcel an, in welchem derselbe den Bruder dringend aufforderte, so bald als möglich zu ihm zu kommen. Er wolle ihm zum Verwischen der Vergangenheit und zur ferneren Carrière nach Kräften behilflich sein.

Casimir fuhr mit dem Briefe nach Darnówka. Unweit des Hofes erblickte er Stephan, der hinter dem Pfluge einherging. Zum erstenmale sah er ihn bei dieser Arbeit.

Nachdem Stephan den Brief gelesen, fragte er ruhig:

»Du fährst?«

Casimir brauste auf.

»Nach dem, was ich durchlebt? Nach unserer Unterredung? Wie kannst Du nur fragen?«

»Komme!« sagte Stephan.

In dem bleichen Lichte der Aprilsonne zogen einige Pflüge das Feld entlang und bildeten tiefe Furchen in der schwarzen Erde. Laut schmetterten die Lerchen ihr Lied in die Luft. Die Freunde näherten sich einem der Pflüge, hinter welchem Herr Romuald einherging.

»Vater!« begann Stephan. »Nimm ihn in die Lehre. Dann werden wir ihm eines unserer Vorwerke in Pacht geben und dasselbe ihm zu Ehren »Casimirówka« benennen.«

Wenn Herr Romuald etwas that, so that er es vollständig. Roman nickte. Auch er wußte davon zu sagen.

Obgleich jedoch Casimir sich gehörig anstrengen mußte, ward ihm die Arbeit nicht lästig. Im Gegentheile. Sein Schlaf wurde ruhiger, und bald stellten sich sogar angenehme Träume ein.

Manchmal jedoch stiegen ihm Zweifel auf.

Wie? pflügen, säen, Holz hacken, sägen können auch Analphabeten. Er hatte doch Manches gelernt. Was sollte er mit diesem Ballaste nun anfangen? Sollte er ihn über alle Berge werfen? Es wäre doch schade!

Als er sich einmal zu Stephan darüber äußerte, hörte ihm dieser, seiner Gewohnheit gemäß, aufmerksam zu, dann erwiderte er:

»Mache Dir keine Sorgen, Bruderherz! Und wärest Du hundertmal weiser als Du bist, Du hättest noch lange des guten Samens nicht zu viel. Wenn in ein dunkles Zimmer eine brennende Lampe gebracht wird, werden die Insassen des Raumes heiterer, ihre Arbeit, auf die das Licht fällt, geht leichter von Statten, und gehen sie etwas zu holen, so sehen sie den Weg vor sich. Wenn wir viele solcher Lampen hätten, das gäbe einmal eine Illumination, nicht?«

Roman erhob sich vom Grase, welches der kühle Thau bereits zu befeuchten begann, und blickte um sich.

Jenseits des Hügels stand die Abendröthe am Himmel, die Dämmerung senkte sich zur Erde, und die bleiche Mondsichel kam hinter den Wolken zum Vorschein.

Roman fühlte, daß über diesem kleinen Besitz außer der scheidenden Sonne und dem aufsteigenden Monde noch das Licht der Feuersäule strahle, welche die Menschen »Ideal« benennen. So lange sie diesem Lichte folgen, gehen sie den Weg, der in das gelobte Land führt; erlischt sein Glanz, dann finden sie den rechten Pfad nicht mehr. Roman begriff dies und seine Seele schwang sich empor bis zum Gipfel der Säule, um dann in Anbetung zu ihren Füßen niederzusinken.

»Aber,« begann er, aus seinem Sinnen erwachend, »noch verstehe ich nicht, wie ihr nur so vieles ertragen, wie so vielem werdet entsagen können? Ist Stephan denn glücklich?«

In diesem Augenblicke rollte eine mit zwei Pferden bespannte Britschka in den Hof. Sie kam aus der mehrere Werst entfernten Kaniówka und war hergeschickt worden, um Lunia abzuholen.

Jetzt trat auch Bronia näher.

»Wenn Du noch Lust hast, hier zu sitzen, Roman, so gehe ich allein nach Hause.«

»Und fürchtest Du Dich nicht vor Wölfen, Mäuschen?« scherzte Roman.

»Wölfe giebt es jetzt nicht, aber wenn ich nicht werde mit Dir gehen wollen, wirst Du bis zum hellen Morgen umherirren, denn Du kennst doch weder Weg noch Steg,« erwiderte die Kleine schlagfertig.


 


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