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II

Roman stand in dem Zimmer, das man ihm eingeräumt hatte und grübelte. Er verstand seine Verwandten nicht. Sein Onkel, rüstig noch und thätig, hatte ihn mit herzlicher Gastfreundschaft willkommen geheißen und sein Vorgehen in der Welt gelobt, so wie auch seine Pläne für die Zukunft. Das war es eben. Zu sehr gelobt. Diese übertriebenen Lobsprüche reizten Roman, ärgerten ihn und weckten sein Mißtrauen. Doch am Ende mochte diese Art und Weise eine Eigenthümlichkeit eines älteren Mannes sein, den das Landleben vereinfacht hatte. Denn sympathisch war der Onkel sehr. Anders Stephan. Der war ihm vollkommen unbegreiflich, und sein Benehmen verletzte Roman sogar.

Nach dem Nachtmahle war Stephan nämlich wieder in gleichgiltiges Schweigen versunken und hatte an einem abseits stehenden Tischchen in einem Buche geblättert, bis ihn sein Vater aufforderte, den Gast in das für denselben bestimmte Zimmer zu begleiten.

Er war dem Verlangen sofort nachgekommen, und bald betraten die jungen Männer ein niedriges, aber ziemlich geräumiges Zimmer, durch dessen weitgeöffnete Fenster Blumenduft und der Geruch frisch gemähten Grases hereinströmten.

Stephan stellte die in einem altmodischen Bronzeleuchter steckende Kerze auf den Tisch und blickte im Zimmer umher. Das Bett mit den blüthenweißen Kissen, auf dem Tische neben der Lampe eine Wasserkaraffe, ein Krug Milch, mehrere Gläser, einige Bücher, alles deutete darauf, daß eine sorgende Hand hier gewaltet und alles, was der Gast brauchen konnte, vorbereitet hatte.

»Gute Nacht,« sagte Stephan, und war eben im Begriffe sich zu entfernen, als Roman mit einer lebhaften Bewegung von dem Fenster, wo er zum sternenhellen Himmel hinaufgesehen, sich wegwandte und ausrief:

»Du gehst schon, Stephan?«

»Kann ich Dir irgendwie behilflich sein?« fragte Stephan, stehen bleibend, kühl aber höflich.

»Ich dachte, wir würden ein wenig miteinander plaudern. Es ist noch früh und wir haben uns so lange nicht gesehen.«

»Ich bin gern bereit dazu.«

Er setzte sich auf einen der um den Tisch stehenden Sessel und schwieg.

Roman reichte ihm sein geöffnetes, elfenbeinernes Cigarettenetui, das mit einem fein ciselirten Monogramm des Besitzers versehen war.

»Ich danke,« erwiderte Stephan, »ich rauche nicht viel und ausschließlich eine Sorte Tabak.«

»Denkst Du noch, wie wir im Gymnasium während der Pause die Rauchwolken durch das offene Fenster bliesen, und wie uns der Pedell dabei ertappte?« fragte Roman lachend, indem er an das Auspacken seiner Koffer ging. Die Kleider, die er denselben entnahm – alle in Stoff und Schnitt nach der neuesten Mode – und die zahlreichen eleganten Kleinigkeiten – Reisespiegel, Kasten, Kästchen, Krystallflacons, große und kleine Bürsten, gestickte Handtücher, Taschentücher mit Monogramm und Krone – hatten bald den kleinen und mehr als die Hälfte des großen Tisches bedeckt. Während des Auspackens richtete Roman hin und wieder eine Frage an Stephan, die derselbe ziemlich lakonisch beantwortete. Er schien vollkommen gleichgiltig; sowohl gegenüber dem Gaste, wie der Eleganz und Vornehmheit desselben.

Roman empfand dies, und auch er wurde kühler und düsterer. Plötzlich blieb er lauschend stehen. Scharfe, summende Klänge – halb ein Singen, halb ein Zwitschern – drangen an sein Ohr.

»Was ist das?« fragte er.

»Die Grillen zirpen im Grase,« erwiderte Stephan ruhig.

Roman lachte.

»Ach, ja! Daß ich das nicht gleich erkannte. Wenn Deine Schwester Bronia hier wäre. Richtig! Grillen! Ich hatte ganz vergessen! Jetzt erinnere ich mich ihrer!«

»Du erinnerst Dich?« fragte Stephan. Die Frage klang einfach, fast zerstreut, und doch hörte Roman zu sprechen auf und heftete einen beobachtenden Blick auf seinen Cousin. Nach einer Weile des Schweigens sagte er nicht ohne Empfindlichkeit:

»Du beschuldigst mich der Vergeßlichkeit? Ich glaube, daß ich eher berechtigt wäre, Dir diesen Vorwurf zu machen.«

»Mir? Warum?«

»Weil Du unsere einstige Freundschaft, unsere gemeinsam verlebten Jahre vergessen hast, unsere Freuden, unsere Träume.«

Ueber Stephan's Antlitz zuckte es. Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort; dann sagte er mit einem Zittern der Stimme, das er jedoch sofort unterdrückte:

»Das Gedächtniß ist verschieden. Jeder hat ein anderes. Es ist sehr gütig von Dir, daß Du unsere einstige Freundschaft nicht vergessen hast. Auch ich habe aus jener Zeit manches in Erinnerung behalten –«

»Was ich vergessen habe?« unterbrach Roman.

»Das wirst Du selber am besten wissen,« erwiderte Stephan.

Er erhob sich.

»Der Vater wird ärgerlich sein, daß ich Dich so spät nicht schlafen lasse, und für mich ist es auch Zeit, mich zur Ruhe zu begeben.«

»Nach der Arbeit, bei der ich Dich auf der Wiese sah.« Er hielt inne, aber nach kurzem Zögern rief er: »Entschuldige, aber es geht mir gar zu nahe! Warum thut Ihr das?«

Zum erstenmale während ihrer Unterredung lächelte Stephan fast heiter.

»Warum sollten wir das denn nicht thun? Was ist denn dabei?«

Roman trat auf ihn zu und ihm unverwandt in die Augen blickend, fragte er mit gedämpfter Stimme:

»Seid Ihr ruinirt? Ist Darnówka nicht mehr ganz in Euerem Besitze? Ich weiß, daß der Onkel Schulden hatte und auch den Ursprung dieser Schulden habe ich nicht vergessen.«

In seinen Worten klang ein warmer, aufrichtiger Ton und zum erstenmale nahmen Stephan's Züge einen wohlwollenden Ausdruck an.

»Aber nicht doch!« sagte er. »In dieser Beziehung kannst Du ganz unbesorgt sein. Der Vater hat seit längerer Zeit schon alle seine Schulden bezahlt. Uebrigens waren dieselben nie sehr bedeutend, und der Grund, warum er sie einst machte, erfüllt mich mit beglückender Liebe und Achtung für ihn.«

»Ich danke Dir, Stephan,« erwiderte Roman gerührt.

»Was Darnówka anbetrifft, so gehört uns das Gut nach wie vor und ist – wenn auch kein großer – jedenfalls aber auch kein kleiner Besitz.«

»Also warum? Aus welchem Grunde diese Lebensweise?« fragte Roman.

Stephan lächelte.

»Es ist gut, daß Bronia, dieser Uebermuth, nicht hier ist. Sie würde mich wieder einen Australier nennen. Ich frage und frage aber auch in einem fort! Was Wunder? Bin ich doch so lange fort gewesen.«

»Und ich, um Deine Fragen zu beantworten, müßte von der Sintfluth anfangen. Das würde Dich langweilen und Dir auch wenig nützen. Du kennst doch das Sprichwort: »Jeder singe, daß Ihr es wißt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.« Was mich anbetrifft, so möchte ich es nicht versuchen, Zeisige in Stieglitze umzuwandeln oder sonst Derartiges vorzunehmen.«

»Du findest also Dein und mein Lied so verschieden voneinander?«

»Geradezu entgegengesetzt. Ein längerer Aufenthalt wird Dich selber davon überzeugen. Doch jetzt: Gute Nacht. Ist Dir vielleicht die Lampe lieber als eine Kerze? Ich zünde sie sofort an. Morgen werden wir uns erst in den Abendstunden sehen. Früh Morgens fahre ich auf ein Vorwerk hinaus und dann auf eine ziemlich entfernte Wiese.«

Von der Schwelle wendete er sich nochmals um.

»Wenn Du irgend etwas bedürfen solltest, mein Zimmer liegt dem Deinigen gegenüber.«

»Also dasselbe, das Du bewohntest, wenn Du von den Ferien nach Hause kamst?«

»Dasselbe.«

Stephan entfernte sich und Roman ließ sich am offenen Fenster nieder. Was sind das für Menschen? dachte er. Sind sie wirklich originell oder ist diese Originalität nur scheinbar und ein Deckmantel für geistige Flachheit? Nein, das konnte er nicht glauben. Stephan war immer ein ungewöhnlich begabter Junge und einer von den stillen Enthusiasten, die, in sich gekehrt, ihre Kräfte sammeln, als ahnten sie, daß sie dereinst an der Spitze einer Schaar zu stehen kommen werden. Heute macht er den Eindruck eines Fanatikers, der kein anderes Lied duldet als nur das seine. Aber wenn auch Roman den Fanatismus überhaupt als eine Art Naivität betrachtet – denn nur naive Geister können einer Idee, die doch jedenfalls angezweifelt werden kann, mit leidenschaftlicher Liebe anhängen – so ist diese Begeisterung andererseits immer ein Kennzeichen einer hervorragenden Natur. Dabei sind sowohl Stephan's Sprache wie sein Gebaren diejenigen eines hochgebildeten Mannes, was wiederum kein Wunder, da er doch Doctor irgend einer Wissenschaft. Uebrigens, was liegt daran? Der Verlust seiner Freundschaft ist doch kein so furchtbares Unglück.

Roman ist jedenfalls froh, daß er durch sein Herkommen einer Pflicht gegen den Onkel Genüge gethan. Wer weiß, ob er ihn nicht zum letztenmale im Leben sieht? Und er verdankt ihm doch so vieles. Wie hatte er das nur vergessen können! Das Leben und die Welt hatten ihn berauscht. Die Erinnerung an die Menschen, die ihm einst theuer gewesen, war ihm erst wiedergekehrt, als er das Ziel seines Strebens erreicht hatte. Sonderbar! Trotzdem er den hohen Posten erhalten, konnte er eine Traurigkeit, eine ewige, am Herzen nagende Unzufriedenheit – zu der nichts ihn berechtigte – nicht los werden. Ehemals hatte er dieses Gefühl dem langsamen Vorwärtskommen, dem schmalen Geldbeutel, der Eintönigkeit der Beschäftigung zugeschrieben. Die günstige Wendung in seinen Verhältnissen hatte ihm anfänglich eine große Freude bereitet und der Champagner, den er bei den ihm zu Ehren veranstalteten Abschiedsfesten trank, schäumte weniger als seine überfrohe Lustigkeit. Doch dauerte dieser Zustand nicht lange und bald ergriff ihn eine Bangigkeit und Unruhe, deren Ursache er sich nicht zu erklären vermochte, die ihm jedoch am Hirn und Herzen nagten. Etwas Ungekanntes, halb Vergessenes, das durch das geräuschvolle Leben zurückgedrängt, in der Tiefe des Herzens ruhte, ließ eine ungetrübte Freude nicht aufkommen und verfolgte ihn überall. Es glich dem ununterbrochenen, in einer Muschel eingeschlossenen Summen. Aber was war das? Woher kam es? Warum gerade jetzt?

»Ich bin entnervt!« dachte er. »Das ist das Werk dieser dummen Nerven!«

Er arbeitete, bereitete sich für seine künftige Thätigkeit vor, brachte die Zeit in Gesellschaft der hübschen Dame mit dem vogelartigen Profil oder in Gesellschaft Aurora's zu, die ihm wieder ihre Gunst zugewendet – es half alles nichts. In den schlaflosen Nächten lauschte er auf das Ticken der Uhr an seinem Bette und ihm war, als höre er nicht mehr das eintönige Ticktack, sondern als sage die Uhr: ja – nein, ja – nein! Würde er glücklich sein, dort, am Ende der Welt? Ja – nein, ja – nein! Hat er richtig gewählt, daß er so weit fortgeht, vielleicht auf lange, vielleicht auf Nimmerwiedersehen? Ja – nein, ja – nein!

Und immer häufiger dachte er an Darnówka und an das, was ihm die Baronin erzählt.

Viel hatte er von ihr nicht erfahren können, da sie bald nach dem Tode des geliebten Kakadu ihres Rheumatismus halber in einen Badeort gereist war, aber das Wenige beschäftigte ihn unaufhörlich. Die hübsche Irus, das Ideal seiner Knabenjahre, wer weiß, wie sie jetzt aussehen mag? Wahrscheinlich ist sie verteufelt häßlich, wenn sie bis jetzt nicht geheiratet hat. Sähe sie so aus wie einst, er wäre vielleicht versucht, sie zu umarmen und mit ihr davonzulaufen, wo der Pfeffer wächst! Unsinn! Er wußte ja, daß ihn am Orte seiner Bestimmung nichts Bitteres erwarte. Aber warum hatte Irene mit der Baronin nicht mitfahren, kein Brillantarmband von ihr annehmen wollen? Entweder ist sie eine Wilde oder – eine reine, edle Seele, die weder nach der Welt, noch nach Brillanten fragt!

Doch häufiger als an Irus, dachte Roman an den Onkel – und heute war ihm zum Bewußtsein gekommen, wann er die Redewendung: »was kann man thun?« zum erstenmale von ihm gehört hatte.

Er mochte vielleicht zehn Jahre alt gewesen sein, als das üppige, genußreiche Leben seinem leichtsinnigen Vater Vermögen und Gesundheit geraubt hatte. Da war zu rechter Zeit in das Haus, in welches Elend und Sorge ihren Einzug gehalten hatten und das von den Verwünschungen derjenigen widerhallte, die in den Ruin verwickelt worden waren, der Onkel eingetroffen und ging sofort daran, die Ehre seines Bruders herzustellen und die Zukunft seines Neffen zu sichern.

Das war nicht leicht und anfänglich schien es sogar unmöglich. Doch ließ sich Romuald Darnowski nicht abschrecken. »Was kann man thun? Was kann man thun?« wiederholte er mit umwölktem Antlitze so lange, bis es ihm endlich gelang, eine Lösung der Frage zu finden. Er belastete Darnówka, bezahlte die Schulden seines Bruders und rettete aus dem Schiffbruche eine kleine Summe, die dem verwaisten Knaben späterhin sehr zu Nutze kam. Ueber diesen Ursprung der Schulden hatte Stephan vorhin sich geäußert, daß derselbe seine Liebe und Achtung für den Vater gesteigert hätte. Das war edel gedacht und ein Beweis, daß das Innere dieses Fanatikers eine schöne Perle berge.

Und auch in späteren Jahren, als Roman im Vereine mit Stephan, Irus und den Schulcollegen weltbeglückende Pläne entrollte, hatte er häufig den Onkel sein ergrauendes Haupt sorgenvoll stützen sehen und gehört, wie er in einem fort wiederholte: »Was kann man thun? Was kann man thun?«

Die Redewendung war ihm zur Gewohnheit geworden. Nein, diese dummen Nerven! Jahrelang hatte Roman an all dies nicht gedacht. Plötzlich überkommt es ihn mit ungeahnter Kraft, treibt ihm, wenn er mit den Freunden beim Becher sitzt, das salzige Naß in die Augen, und in seinem Hirn hört er unablässig das Ticken der Uhr: »Ja? – Nein? – Ja? – Nein?«

Was ist es, das so ununterbrochen in der Tiefe der Muschel summt?

Roman hatte noch einen Monat freie Zeit. Er kündigte sich mit einem Briefe beim Onkel an und reiste nach Darnówka.

Nun war er da und hatte das, wonach er sich gesehnt, nicht gefunden. Aber wonach hatte er sich denn eigentlich gesehnt? Er wollte sich unter den Seinen fühlen und ihm war, als sei er unter Fremde gerathen. Nun, sei es darum! Wenn ihm der Aufenthalt die gewünschte Befriedigung und Beruhigung nicht gewährt, wird er nach einigen Tagen fortfahren. Wohin? Nun, seinem neuen Berufe entgegen. Der bringt ihm Arbeit genug. Aber der Zweck dieser Arbeit? »Pasteten!« Er lächelte. Der liebe, gute Onkel! Kann man denn das nicht auf andere Weise erklären? Man weiß nie, ob sein Lob ernst gemeint oder ob es Spott ist.

Roman verlöschte die Lampe, und sich zum Fenster hinausneigend, sog er mit voller Brust den frischen, duftigen Athem der stillen Sommernacht ein. Am Himmel funkelten die Sterne und beleuchteten die Blumen im Grase, diese Sterne der Erde.

Zehn Jahre war Roman nicht auf dem Lande gewesen und in der unendlichen Stille, in welcher sein Geist und sein Herz sich badeten, begann er auf die Stimmen in seinem Inneren zu lauschen, welche die Welt und die Begierde nach Genuß und Leben bisher übertönt hatten.

Sein Hirn wurde von Gedanken überfluthet, an die sich immer neue Fragen anreihen. Der Mensch ist doch ein launenhaftes, unlogisches und in Folge dessen unglückliches Wesen. Er kämpft, hascht, jagt, um sich des Erreichten – nicht zu freuen. Hatte er doch selber geglaubt, daß ihn eine höhere Stellung und eine gesicherte Zukunft ruhig, ja sogar glücklich machen würden. Und nun – nichts von alledem. Im Gegenteile. Er fühlt sich traurig und gedrückt.

Und doch wird er steigen. »Immer weiter, immer höher – immer weiter, immer höher –« Aber das Ziel? Ein besseres, höheres Leben. Wessen Leben? Das seinige, natürlich. Und sonst nichts?

Er blickte hinaus in die Finsterniß und seine Lippen murmelten, als ob er den Blumen da unten etwas Neuentdecktes, aber gar Trauriges anvertraue: »Nein, sonst nichts – sonst nichts.«

Was kann man denn aber noch verlangen? Eine gesicherte, bequeme, angenehme Zukunft, eine Bedeutung in der Welt!

Sein Gedanke blieb an den letzten Worten haften, und plötzlich lachte Roman laut auf. Sein Blick schweifte über das endlose Sternenmeer, über die zahllosen Milchstraßen, die in unermeßlicher Weite im Raume dahinströmten, über die mächtigen Bäume, die mit so viel winzigen Blättchen bedeckt waren wie das uferlose Firmament mit riesengroßen Welten, und Roman lachte.

Seine Bedeutung in der Welt! Was war seine Größe angesichts der Welt? Welch ein Unsinn! Von Männern wie er wimmelte es ja auf der Erde! Sie besitzen wohl eine gewisse Bedeutung – Einer gegenüber dem Anderen – aber angesichts der Welt! Höchstens, wenn mit diesem Namen eine Anzahl gleichgekleideter Menschen gemeint ist. In dieser Welt hat er es zu etwas gebracht und wird noch höher steigen. Aber es freut ihn nicht. Weiß er doch am besten, wie eng und stellenweise sogar schmutzig und geborsten die Mauern dieser Welt sind.

Der plötzliche Wechsel der physischen Umgebung hatte manche Punkte an Roman's moralischem Horizont in eine neue Beleuchtung gerückt. Er kam sich vor wie ein Taucher, der, Schweißtropfen auf der Stirn, hochklopfenden Herzens die Perle am Meeresboden sucht. Er hat die Muschel gefunden, ergriffen und nun er sie im Sonnenlichte öffnet, ist anstatt einer Perle ein Tropfen bitteren Wassers drin! Und wäre er noch bitter, dieser Tropfen; am Ende könnte man sich auch damit noch befreunden. Aber es ist etwas so Fades, Langweiliges, daß man den Pessimisten recht geben muß, welche die Vernichtung des Lebens als höchstes Glück preisen.

Und doch fühlt er sich voll Lebenslust und Energie.

Es giebt eben Menschen, welche die Pastete nicht befriedigt. Während sie dieselbe verspeisen, nagt an ihnen der Heißhunger eines Ugolino. Sollte er zu ihnen gehören? Sollte er am Ende gar ein Schwärmer sein? Unmöglich! Galt er doch stets für praktisch, und man lobte die Geschicklichkeit, mit der er sich den Verhältnissen anzupassen, in jeder Lage das Richtigste zu thun, das Beste zu ergreifen verstand. Woher nun diese quälenden Zweifel, diese Oede und Langeweile, die – er war sich dessen vollkommen bewußt – ihn auch fernerhin verfolgen würden?

Möglich, daß ihm dort irgend eine Irma oder Aurora Zerstreuung, die Kunst und das Außenleben augenblickliches Vergnügen, eine besondere Auszeichnung Zufriedenheit gewähren wird. Aber ist das Glück? Ist das ein Ziel? Nein, nein!

Wo ist aber dieses Glück zu finden? Existirt es überhaupt auf Erden? Oder ist das ganze menschliche Dasein nur ein Kompromiß zwischen dem ungestillten, fast unverstandenen Sehnen und der klaren, engen, eisernen Wirklichkeit?

In solchem Falle muß man sich mit dem Leben aussöhnen und so thun, wie eben alle Anderen auch. Anders ist es nicht möglich.

Es war schon spät als Roman einschlief. Inmitten der Nacht erwachte er und lauschte erstaunt auf scharfe, summende Klänge, die – halb ein Zwitschern, halb ein Singen – vom Garten her an sein Ohr drangen.

»Die Grillen zirpen im Grase!« sagte er leise, das Haupt wieder auf die Kissen sinken lassend. Aus dem thaubefeuchteten Grase jedoch klang das Zirpen fort und fort, und der Lauscher oben glaubte diesmal ganz deutlich zu verstehen: »Ja – nein! Ja – nein!«


 


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