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V

Am folgenden Morgen war Roman zu sehr früher Stunde auf der Wiese. Er stand am Ufer des Flüßchens, dort, wo dasselbe einem schmalen Silberbande gleich unter den Sträuchern hervorströmte. Das Plätschern des Wassers war weit und breit der einzige vernehmbare Klang. Nur hin und wieder rauschten die Blätter in den Bäumen des Waldes; hin und wieder ertönte das Krächzen einer Krähe oder der Pfiff eines Sperbers, dann lagerte wieder tiefe Stille über der Landschaft.

In seinem hocheleganten Morgenanzug, den Paletot über dem Arme, den Hut auf dem Kopfe, machte Roman von weitem den Eindruck einer aus einer Modezeitung ausgeschnittenen Figur. In der Nähe jedoch sah man, daß sein Antlitz die Spuren einer durchwachten Nacht trug.

Er war so in Sinnen versunken, daß er das Nahen eines jugendlichen Schrittes überhörte, und erst ein lautes Klatschen in die Hände schreckte ihn aus seinem Nachdenken auf.

»Guten Morgen, Roman!« erklang es gleichzeitig. »Heute bist Du aber ein Frühaufsteher!«

Es war Bronia, die sich unendlich freute, ihn so plötzlich und unerwartet überrascht und vielleicht gar erschreckt zu haben.

Roman reichte der Kleinen die Hand, aber sein Blick schweifte in die Weite. An einem Hügelabhang stand Irene, von Fichten und Farrenkräutern umgeben. Einen Strohhut, dessen breite Ränder ihr Gesicht beschatteten, auf dem Kopfe, einen Korb am Arme, schien sie unsicher, welchen Weg einzuschlagen.

Roman errieth dies aus ihrer Haltung und griff an seinen Hut, um sie aus der Ferne zu grüßen. Höflichkeit und Gastfreundschaft trugen den Sieg über die Abneigung davon. Irene hatte bereits die Wiese betreten und näherte sich dem Cousin. Sie begrüßten einander förmlich und kühl.

Plötzlich wurden Irenens Züge durch einen Ausdruck von Besorgniß getrübt.

»Was ist Dir, Cousin? Du siehst so bleich aus? Bist Du krank?«

Der Ton der Frage war so warm und herzlich, daß Roman – er wußte selber nicht warum und wieso – Irenens Hand an seine Lippen zog.

»Ich danke Dir, Cousine, ich bin wirklich krank; aber von diesem Leiden kann man nur vermittelst festen Willens genesen.«

Mit einer hastigen Bewegung, obgleich mit leuchtenden Augen, hatte ihm Irene ihre Hand entzogen und fragte nun:

»Wie heißt dieses Leiden, Cousin?«

»Grillen,« antwortete er, »nichts als Grillen.« Und den Blick auf die Quelle geheftet, fuhr er langsam zu sprechen fort: »Der Mensch jagt einem Schatten nach und dieser wesenlose Schemen scheint ihm schön, sobald er ihn jedoch erhascht hat, erkennt er, daß es nur ein Trugbild gewesen und grämt sich darob, daß er es nicht mehr haben will; er sehnt sich nach etwas, doch wonach – das weiß er selber nicht recht.«

Irene hatte ihm aufmerksam zugehört.

»Das ist wirklich ein launenhafter Mensch,« erwiderte sie lächelnd. »Mir ist kein solcher bekannt.«

»So lerne ihn jetzt kennen, Cousine,« sagte Roman, sich scherzhaft verneigend.

»Das thut mir leid,« entgegnete Irene, seine Verbeugung auf ebenso scherzhafte Art erwidernd.

»Einen solchen Menschen kennen zu lernen?«

»Freilich. Denn er kann weder mit der Welt, noch die Welt mit ihm zufrieden sein.«

»O, o! Die Welt mit ihm? Welches ist seine Schuld gegenüber der Welt?«

»Vielleicht dieses,« entgegnete Irene zögernd und mit leiser Stimme, »daß er die Welt nur als eine Art Beilage betrachtet.«

»Als Beilage?«

»Ja, zu seiner Person.«

Roman war erstaunt.

»Also Egoismus, Cousine?«

»Ungefähr,« lachte sie. »Ich, meiner, mir, mich, für mich, über mich, neben mir, und so fort lautet diese Declination.«

In diesem Augenblicke kam Bronia mit einem großen Blumenstrauß herbeigerannt und rief schon von weitem:

»Irus, komme doch schon! Wenn wir es so treiben, wird es Nacht, bis wir Casimirówka erreichen. Erst haben wir uns in Wolinka aufgehalten.«

Sie wies mit der Hand in die Richtung des Waldes, aus dem sie vorhin hinausgetreten waren.

»Die Damen gehen nach Casimirówka,« rief Roman, »ich ebenfalls!«

»In diesem Falle kehre ich nach Hause zurück,« sagte Irene.

»Um in Gesellschaft eines launenhaften Menschen nicht traurig zu werden?«

»Theilweise deshalb, aber eigentlich weil ich nur Bronia hinbegleiten wollte.«

»Was hat denn Bronia in Casimirówka zu thun?«

»Lunia wird den heutigen Tag dort zubringen,« erklärte die Kleine.

»Wer ist denn Lunia?«

Bronia brach in helles Lachen aus.

»Und da sage noch Einer, daß Du kein Australier bist! In fünf Minuten zehn Fragen! Lunia ist ja Herrn Casimir's jüngste Schwester, und Bronia's Altersgenossin und liebste Freundin. Sie kommt sehr oft auf das neue Vorwerk; erstens um dort ein bißchen zu wirthschaften, und dann – um ihrem Bruder ein Vergnügen zu bereiten. Auch heute soll sie in Casimirówka sein, und da hat Irene versprochen, sie würde Bronia hinbringen, damit die beiden Mädchen den Tag über beisammen bleiben könnten.«

»Da Du aber hingehst, Cousin, übergebe ich die Kleine Deiner Obhut, und kehre nach Hause zurück. Heute ist der Tag, an welchem für die ganze Woche Brot gebacken und unter das Gesinde getheilt wird. Da muß ich dabei sein.«

»Ich hätte gern gefragt, warum? Doch fürchte ich mich vor Bronia.«

»Komme schon,« sagte die Kleine, »Lunia wartet auf mich.«

Doch Roman hatte keine Eile. Wie gern hätte er der Cousine gesagt: »Kehre nicht um, komme mit mir!«

Doch brachte er kein Wort über die Lippen, da aus Irenens Zügen jede Spur von Herzlichkeit und vertraulicher Heiterkeit verschwunden war.

»Auf Wiedersehen. Ich übergebe Dir die Kleine. Bringe sie zurück, wenn Du selbst nach Hause kommst.«

Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging sie mit einem kurzen Kopfnicken davon.

Roman blickte ihr nach. Ihr Gang war so gleichmäßig und elastisch, als schritte sie nicht auf unebenem Waldboden, sondern auf glattem Parquet dahin. Ihre Erscheinung athmete die Kraft und Gesundheit, die man nur im fortwährenden Verkehre mit der Natur gewinnt. Er würde wohl noch lange unbeweglich an derselben Stelle verharrt haben, wenn nicht Bronia energisch seinen Arm ergriffen hätte.

Was brauchte er nur so lange Irene nachzuschauen? Sie geht nach Hause, weil sie Arbeit hat. Und für sie Beide ist es die höchste Zeit, den Weg nach Casimirówka fortzusetzen. Irene und sie sind heute dieses Ausfluges halber eine ganze Stunde früher als sonst aufgestanden, nur waren sie erst in Wolinka.

»Was ist denn das Wolinka?«

»Was soll es denn sein? Ein Dorf.«

»Ja, richtig. Jetzt erinnere ich mich dessen. Ein großes Dorf, das einst zu Darnówka gehörte. Wozu seid Ihr denn hingegangen?«

»Eine schöne Frage! Der Sohn von der Kondratkowa ist ja sehr krank.«

Die Ueberzeugung der Kleinen, daß jeder von der Existenz der Kondratkowa wissen und die Ursache des Besuches in Wolinka kennen müsse, war so komisch, daß Roman lachte.

»Wer ist denn aber die Kondratkowa?« fragte er, um Bronia ein wenig zu necken. Er hatte auch seinen Zweck erreicht.

»Nun, sagte ich es nicht, daß Du ein Australier bist!« rief die Kleine lachend, aber auch ein wenig ärgerlich, und bald darauf erzählte sie ihm mit großer Lebhaftigkeit die Lebensgeschichte der Kondratkowa und aller Mitglieder ihrer Familie.

Als sie zu Ende war, sagte Roman:

»Nun, wenn ich schon ein Australier bin, so mußt Du mich mit den fremden Ländern bekannt machen. Willst Du das thun, Bronia?«

Die blauen Augen des Kindes blickten erstaunt zu ihm empor.

»Wozu? In einigen Tagen fährst Du fort und wer weiß, ob Du jemals wiederkehrst.«

Roman schwieg, doch dachte er, das Kind hat recht; wozu? Dann schweifte sein Gedanke wieder zu Irene zurück. Wie war ihr nur diese amusante Declination eingefallen? Ich, meiner, mir, mich, für mich, neben mir, in mir, und so fort?

Wie läßt sich nur diese Philosophie mit der Aufsicht über das Backen und Verteilen des Brotes vereinen? Nun, im Grunde doch recht gut; dieses Brot ist weder »ich«, noch »meines«, nicht »für mich«, noch »von mir«.

Roman erinnerte sich, daß in früheren Jahren die Tante selbst das Brot unter die Leute zu theilen pflegte. So große, dunkle Brote, deren Geruch er in diesem Augenblicke zu spüren meint. Ja, die Besitzer von Darnówka hatten lange und schwer arbeiten müssen, um die Schulden, die auf dem Gute lasteten, abzutragen. Und Roman muß wieder an den Ursprung dieser Schulden denken. Nun ist die Tante schon zu schwach zur Arbeit. Folglich wird sie von Irene ersetzt. Anstatt in Gesellschaft der Baronin Lamoni Vergnügungen und Reisen zu genießen, steht das junge Mädchen in der Gesindestube am Backofen. Freilich, das war nicht die Declination, von der sie früher gesprochen, das war ihr diametraler Gegensatz. Was steigt dort jenseits des Hügels mit hellem Lichte auf und blendet Roman's Augen? Ist es die Morgenröthe?

Sie hatten eine Biegung der Wiese erreicht, und das Bild, das sich ihren Blicken darbot, war dasselbe, welches man von Stephan's Fenster aus sah.

Roman blieb stehen.

»Siehe, Bronia, siehe! Das ist der Palast der Olowieckis! Von jedem Punkte der Gegend ist er zu sehen. Und dort ist die Kirche in Zawróæ, nicht wahr? Wie weiß dieser Buchweizen ist! Wie Schnee!«

»Ja, das ist die Kirche in Zawróæ,« sagte Bronia, »und dort,« fuhr sie mit ausgestrecktem Zeigefinger fort, »wo Du ein kleines, winziges Endchen eines Gartens siehst, ist das Wohnhaus der Besitzer.«

»Ich weiß, ich weiß, ich kenne Zawróæ.«

»Den ganzen Hof kannst Du nicht sehen, die Kirche und ein Eichenwäldchen verdecken ihn. Jenes Dorf dort weiter unten heißt Žwirówka und das nähere Horniczka. Unsere Wolinka sieht man nicht von diesem Punkte, aber dort, Roman, dort, wo der Rauch aufsteigt, weit, weit, zwischen dem großen und dem kleinen Walde liegt Wolinka.«

»Und dort wohnt die Kondratkowa?«

Doch die Kleine achtete in ihrem Eifer der Unterbrechung nicht.

»Auch Casimirówka sieht man von hier. Rathe doch, Romek, wo ist die Casimirówka?«

»Vielleicht ist es jene Baumgruppe am Ufer des Flüßchens?«

»Richtig. Der Weg über die Wiese ist näher, aber das Flüßchen schneidet die Wiese durch. Und wenn man auch über den Brückensteg gehen kann, so ziehen wir es vor, einen kleinen Umweg zu machen. Denn hier ist es gerade am hübschesten, hier sieht man die ganze Wiese und Górowo und Zawróæ und so viel Feld. Ach, so viel von unserem lieben, lieben Feld!«

Roman betrachtete die Kleine mit steigendem Interesse. Großer Gott! Das Kind liebt wirklich diese Felder!

»Welchen Weg werden wir jetzt einschlagen?« fragte er.

»Erst gehen wir dort neben dem Buchweizen und dann den Feldrain entlang, der so blau von der Cichorie schimmert.«

»Siehst Du, Bronia, Du bist besser als es den Anschein hat. Erst wolltest Du mich mit gar nichts bekannt machen und jetzt nennst Du mir nicht nur die Namen der Orte, sondern auch diejenigen der Pflanzen.«

Die Kleine war verlegen.

»Wenn ich Dir damit ein Vergnügen machen kann, so thue ich es gern.«

Plötzlich schrie sie auf:

»O, Gott! Diese wunderbaren Kamillen! Sieh nur, Romek, dorthin – jene Sträucher – sie leuchten so goldig wie Sonnen! – und hier und da – und dort! Das sind Färberkamillen. Die Bäuerinnen in unserer Gegend reinigen ihre Töpfe mit Hilfe dieser Blume, daher heißt sie auch bei ihnen Topfkamille.«

»Du bist ja ein ganzer Botaniker, Bronia! Kennst die Namen aller Blumen!«

Sie gingen jetzt einen Pfad entlang, der zwei Besitzungen voneinander trennte. Von Zeit zu Zeit verließ Bronia ihren Gefährten und bei ihrer jedesmaligen Rückkehr war ihr Blumenstrauß umfangreicher geworden.

»Noch ein bißchen,« lachte Roman, »und Du wirst nicht mehr im Stande sein, die Last dieses Straußes zu tragen. Höre lieber auf, hin und her zu flattern und lass' uns beisammen bleiben, bis das Ziel unserer Wanderung erreicht ist.«

»Gut,« sagte die Kleine willig. Sie ergriff Roman's Arm und nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen, hub Roman nicht ohne Zögern an:

»So sage denn dem Australier noch das Eine: Warum wollte Cousine Irene eigentlich mit der Baronin nicht fahren?«

Die Kleine, deren derbe Beschuhung alle Augenblicke in den harten Cichorienstengeln stecken blieb, erhob das Haupt und ihre Augen hefteten sich abermals mit einem erstaunten Ausdruck auf Roman.

»Wie man nur so fragen kann?« sagte sie.

»Findest Du meine Frage so sonderbar?«

»Natürlich. Irenchen ist hier nothwendig und wo man nothwendig ist, dort bleibt man.«

»Aha! Das heißt kurz und bündig erklärt. Wem ist denn aber Irene hier nothwendig?«

Noch größeres Erstaunen Bronia's und eine energische Bewegung der kleinen, den unglaublich großen Blumenstrauß tragenden Hand. »O Gott! Aber Allen! Papa, Mama, Stefek, mir –«

»Der Kondratkowa,« schaltete Roman ein.

»Der Kondratkowa,« bestätigte die Kleine eifrig. »Ganz Garnowka, der ganzen Wolinka –«

»Nun gut, gut, ich verstehe schon. Aber jeder Mensch muß auch an sich denken –«

»Nun?«

»Das heißt, wenn Cousine Irene die Einladung der Baronin angenommen hätte, könnte sie viel glücklicher sein als jetzt.«

»Warum?«

»Jetzt werde ich Dir sagen, Bronia, daß Du eine Afrikanerin bist, denn Du fragst nach Dingen, die in Europa jedem bekannt sind. Weil sie ein Stück Welt sehen, sich vorzüglich amusiren, einen großen Gehalt beziehen und gut heiraten würde.«

Bronia war nachdenklich geworden, doch nach einer Weile schüttelte sie verneinend das Köpfchen.

»Das weiß ich nicht, aber Irene wäre dort nicht glücklich.«

»Warum nicht?«

»Weil sie uns liebt. Uns, Darnówka –«

»Die Kondratkowa,« schaltete Roman ein.

»Die Kondratkowa,« wiederholte die Kleine mit Ueberzeugung.

»Man kann sich der liebsten Menschen und Dinge entwöhnen –«

»Ich weiß nicht,« wiederholte das Kind ein wenig verwirrt. »Aber als die Frau Baronin abgereist war, hörte ich wie Irus zu Papa sagte: Ich wäre dort vor Sehnsucht und Gewissensbissen gestorben.«

Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her. Plötzlich fragte Roman:

»Kennst Du die Fortsetzung des Liedes, welches Cousine Irene gestern Abends sang? Der erste Vers lautet: »Du gehst den Berg hinauf, hinauf –«

Die Kleine hob das erhitzte Gesichtchen zu ihm empor und anstatt zu antworten, sang sie mit sehr dünner, aber ebenso lauter Stimme und selbstverständlich mit sehr vielen falschen Tönen:

»Du gehst den Berg hinauf, hinauf,
Ich muß im nieder'n Thal verbleiben,
Du blühst wie eine Rose auf,
Ich werd' Hollunderblüthen treiben!«

»Ja,« sagte Roman sinnend, »Berg und Thal.« Und zu sich selbst fügte er halblaut hinzu: »Nur daß man niemals mit Bestimmtheit weiß, was eigentlich Berg und was Thal ist.«

Bronia, welche die letzten Worte gehört hatte, lachte laut und herzlich:

»O, Gott!« rief sie, »das mag vielleicht in Australien der Fall sein, aber nicht bei uns. Sogar ich kann zwischen Berg und Thal unterscheiden.«

»Und wahrscheinlich besser als ich, Du mein liebes Schwesterchen!« erwiderte Roman. Lachend, wenngleich nicht ohne Rührung, blickte er in das von dem breitrandigen Strohhut beschattete Gesichtchen und drückte herzlich die kleine, braune, auf seinem Arm ruhende Hand. Wie theuer war ihm dieses frische, kluge Geschöpfchen, wie gern gab er ihm den Namen einer Schwester! Seinen Händedruck erwidernd, steckte die Kleine ihren großen Blumenbusch dicht unter Roman's Nase.

»Da,« sagte sie, »riech' d'ran! Wie er duftet! Gut! Nicht wahr?«

Der Strauß roch nach Pfefferminz, Honig und Mandeln. Aus voller Brust sog Roman die kräftigen Düfte ein. Stramm richtete er sich empor, nahm den Hut vom Kopfe, ließ den Blick in die Ferne schweifen und sagte leise:

»Gut.«

Ihm war so wohl, wie schon seit langem nicht.

In diesem Augenblicke riß Bronia ihren Arm aus dem seinen und mit dem Ausruf: »Lunia! Lunia!« stürzte sie davon.

Aus der Baumgruppe, hinter welcher ein gelbes Strohdach schimmerte, kam ein junges Mädchen, etwas größer und zarter als Bronia, den Gästen entgegen. Die bleichen, mageren, aber sehr feinen Züge ihres Antlitzes waren von dichtem schwarzem Haare umrahmt.

Die beiden Mädchen gingen miteinander fort und Roman blickte prüfend um sich.

Der Hof war klein und nur durch einen niedrigen, lückenhaften Stacketenzaun von den Feldern getrennt. Das Wohnhaus alt, aber nicht baufällig, war neuerdings vergrößert worden. Ein Stück der Mauer war schwarz, ein anderes gelb; einige Fenster alt, andere neu; das Strohdach stellenweise goldigglänzend, war an anderen Stellen mit grünlichem Moose bedeckt. Flickwerk. Noch einige größere und kleinere Wirthschaftsgebäude, ein Gemüsegarten mit jungen Obstbäumen und Bienenstöcken – sonst nichts. Die einzige Zierde und Augenweide bildeten die in der Nähe des Hauses wachsenden, dickstämmigen, breitästigen Bäume. Zwischen Eichen und Ahornbäumen leuchteten die rothen Beeren der Ebereschen; dazwischen sah man Erlen und außerhalb des Gartens ein Dickicht von Haselnußsträuchern.

In der Nähe einer Scheune, deren Dach nur zur Hälfte fertig, waren zwei Männer mit Holzsägen beschäftigt. Roman war eben im Begriffe, nach Domunt zu fragen, als einer der Arbeiter von dem Holzblock, auf dem er stand, heruntersprang und auf ihn zukam.

»Romek, wie geht's Dir? Gott vergelt's, daß Du hergekommen bist! Zwar habe ich Dich erwartet, doch niemals wär's mir in den Sinn gekommen, daß Du es über Dich gewinnen könntest, zu so früher Stunde aufzustehen. Wo ist Bronia? Wahrscheinlich mit Lunia. Das ist einmal ein glücklicher Tag! Mein liebes Schwesterchen ist hier und Du, mein alter Junge! Lach' nicht, weil ich alt sage. Ist es doch so lange her, seit wir Latein gelernt, allerlei Allotria getrieben und – goldene Zukunftsträume geträumt haben!«

Mit dem Aermel seines Leinwandrockes trocknete er sich den Schweiß von der Stirn, indessen seine zweite, von der Säge stark geröthete Hand Roman's Finger mit herzlichem Drucke umklammert hielt. Er sprach, seiner Gewohnheit gemäß, viel und rasch, und schien in vorzüglicher Laune.

»Es ist Frühstückszeit, Kamerad!« rief er, nachdem er einen Blick auf den Himmel geworfen, seinem Arbeitsgefährten zu. »Rufe die Anderen vom Dache herunter und geht essen!«

Und zu Roman sich wendend, fuhr er fort:

»Ich bin so hungrig, daß ich einen gebratenen Wolf verspeisen könnte. Zwei Stunden arbeite ich schon.«

»Du hast gelernt, die Stunde nach dem Sonnenstande zu erkennen?«

»Wundert Dich das? Beim Sägen und Dachdecken kann man keine Uhr in der Tasche tragen.«

»Du wechselst Deine Beschäftigung. Es wird dies aus Gesundheitsrücksichten allgemein angerathen.«

Sie schritten auf das Haus zu und Domunt sagte, nachdem er seinen Gefährten mit einem prüfenden Blicke gestreift:

»Ich glaube, daß Du Dich ein wenig über mich lustig machst. Es beleidigt mich dies nicht im geringsten, aber richtiger wäre es, Du bedauertest Dich selbst und hörtest auf, Dummheiten zu denken –«

»Aber,« unterbrach ihn Roman mit Lebhaftigkeit, »ich denke, Ihr seid es, die Dummheiten machen. Denn wozu nützt das? Kannst Du nicht einen Arbeiter mehr miethen?«

»Die Wahrheit gestanden,« entgegnete Domunt, »ist in meiner gegenwärtigen Lage jeder ersparte Groschen von Bedeutung. Das zum Pachten der Casimirówka erforderliche Geld hat mir meine Mutter vorgeschossen. Aber wenn dem selbst nicht so wäre, so erkläre mir doch gütigst, warum ich denn eigentlich nicht auf diese Art arbeiten soll? Bitte, sag' mir doch; warum nicht?«

»Aber die Antwort liegt ja auf der Hand. Weil Du gelernt, Dich zu anderem vorbereitet hast und ein gebildeter, höher stehender Mensch bist.«

Das Lachen, welches bei diesen Worten Domunt's Brust sich entrang, war nicht fröhlich wie vorhin, sondern scharf und bitter.

»Ein höher stehender Mensch! Ich!«

Er ergriff Roman's Hand.

»Aber, Romek, Du machst Dich wohl über mich lustig! Nein? Nun, ich will es glauben, doch bitte ich Dich, diese Saite meines Inneren niemals mehr zu berühren. Sie verstummt während der Arbeit, doch wenn sie wieder laut wird, tausend Teufel sägte ich zusammen, nur um sie nicht zu hören. Ich, ein höherer Mensch! Lass' doch gut sein! Mir scheint, es giebt keinen Wurm –« Er hielt inne. Nach einer Weile jedoch, fuhr er, ruhiger geworden, zu sprechen fort:

»Aber auch ohne dieses – die Hoffart, mein Lieber, steht im Katechismus mit Recht an der Spitze der sieben Todsünden. Die Demuth kann ebenso Servilität und Gemeinheit, wie Vernunft und Tugend sein. Doch Du weißt all dies ebenso gut als ich, vielleicht sogar besser, und wunderst Dich nur, weil Du fremde Anschauungen in Dich aufgenommen hast. Wir müssen noch des Breiteren darüber reden. Aber nicht jetzt, denn ich bin hungrig wie ein Wolf. Du bleibst doch den ganzen Tag in Casimirówka? Was kann Dir das schaden? Hast ja jetzt nichts zu thun. Ich muß nach dem Frühstück wieder an die Arbeit, aber Du wirst mit den beiden Mädchen plaudern, lesen, ich habe einige Bücher hier, und gegen Abend setzen wir uns unter die Bäume, an das Ufer des Flüßchens und sprechen miteinander – lange, lange – ist's gut so? Ich werde Dir alles erzählen, Du mein lieber, guter, alter Junge!«

Schweigend drückte Roman des Freundes Hand. Sie standen jetzt unter einem offenen Fenster und blickten in einen Raum, wo ein helles Herdfeuer brannte und Bronia und Lunia unter Aufsicht einer älteren Frau sich geschäftig tummelten und dabei lustig plauderten.

»Casio,« sagte Lunia, die, den Bruder bemerkend, ihm ihr bleiches Gesichtchen zuwendete, »die Erdäpfel zum Frühstück sind heute gerade so, wie Du sie am liebsten magst. Ich bereite sie selbst.«

Sie sprach und bewegte sich ruhig. Der Klang ihrer Stimme war sanft und melodisch.

»Wenn's nur rasch ist, Kleine. Wir haben einen Gast und ich bin verteufelt hungrig.«

»Wie hübsch sie ist! Nicht wahr?« fragte Domunt, während die Freunde den zum Flüßchen führenden Weg einschlugen.

»Wer? Deine Schwester? Reizend, in der That! Sie hat regelmäßige Züge, prachtvolles Haar, aber ihre Erscheinung hat etwas ungewöhnlich Zartes und fast Trauriges.«

Er blickte in die Höhe.

»Welch wunderbare Bäume!«

»Täglich segne ich den, der sie gepflanzt,« erwiderte Domunt. »Er ist mein namenloser Wohlthäter. Ich hoffe mich in ihrem Schatten wohl zu fühlen.«

»Hast Du gar kein Vermögen mehr?«

»Nicht das geringste. Meinen Antheil an Kaniówka hat mir Marcel längst schon bezahlt. Kahl wie eine Kirchenmaus bin ich heimgekehrt, und wenn mir meine gute Mutter nicht ihre letzten ersparten Groschen geborgt hätte, ich würde nicht einmal diese kleine Pacht nehmen können.«

»Und hattest Du gar keinen anderen Ausweg?«

»O ja! Marcel versprach mir goldene Berge, wenn ich zu ihm kommen würde.«

»Und Du wolltest nicht?«

»Nicht um die Welt!«

»Ich begreife es, und doch fehlt mir das richtige Verständniß dafür,« begann Roman zögernd.

»Weil Du mit fremden Anschauungen vollgespickt bist!« erwiderte Domunt.

Er blieb stehen und blickte um sich. Sein Auge schweifte über Feld und Wald, über das Flüßchen, die Bäume, den Garten.

»Physisch und geistig will ich arbeiten. Ich werde säen, pflanzen, die Erde bebauen, Licht um mich her verbreiten und den Werth des Bodens und der Menschen nach bestem Wissen und Können zu heben suchen. Eine Riesenarbeit, aber welch eine Ernte winkt mir! Noch bin ich nicht würdig, an diese Arbeit heranzutreten, aber ich thue es mit großer Demuth und mit dem Bewußtsein, daß ich eine Schuld zu zahlen habe, und daß ich sie bezahlen muß. Und auch mit Lust gehe ich an diese Thätigkeit, mit großer Lust.«

Wie er so hochaufgerichtet dastand und die in die Stirn fallenden Haare mit einer energischen Bewegung seiner Hand nach rückwärts warf, schien er Roman größer und kräftiger als bisher. Seine krankhaft weiße Gesichtshaut war bereits um einen Schatten dunkler, und das bewegliche Netz seiner Nerven schien etwas ruhiger geworden. In seinem aufwärts gerichteten Blicke leuchtete die Lust, von der er soeben gesprochen, und aus dem intelligenten Ausdrucke seiner Augen ließ sich mit Bestimmtheit schließen, daß er in der Wahl der Mittel nicht fehlgreifen würde. Roman betrachtete ihn mit durchdringendem Blicke und fragte nach einer Weile:

»Und mit alledem hat Dir Stephan den Kopf vollgepropft, nicht wahr? Er hat Dich von angenommenen Anschauungen befreit und Dich dafür –«

»Mit dem bereichert,« ergriff Domunt das Wort, »was Du begreifst, ohne jedoch das rechte Verständniß dafür zu haben. Ja, Stephan verdanke ich die Rettung von einem frühzeitigen Tode und von geistiger Umnachtung.«

»Von geistiger Umnachtung?«

»Freilich. Ich war blind für die wichtigste Wahrheit des Lebens.«

»Großer Gott!« rief Roman. »Wo ist diese? Habe ich sie denn nicht auch gesucht, nicht nach ihr geforscht? Suchen und forschen wir denn nicht Alle?«

»Das ist eine lange Geschichte, mein Lieber. Ich erzähle sie Dir, aber erst heute Abends; denn jetzt, jetzt, hörst Du?«

»Casio, Casio!« erklang durch das Fenster des Häuschens Lunia's melodische Stimme, »kommt Ihr her oder sollen wir Euch das Frühstück unter die Bäume bringen?«

»Es ist im Nu gebracht!« fügte Bronia freundlich hinzu.


 


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