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Einleitung

Roman Darnowski, ein junger im Staatsdienste stehender Beamter, gehörte zu der Kategorie von Leuten, die, trotzdem ihnen alles nach Wunsch geht, sich niemals zufrieden fühlen. Die Natur hatte ihn recht freigebig bedacht; die äußeren Umstände seines Lebens, anfänglich nicht günstig, hatten bald eine andere Wendung genommen. In keiner Hinsicht ein Phänomen, besaß er indessen gute Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, die Universitätsstudien glänzend zu absolviren und ein angenehmes Aeußeres, dem er seine bedeutenden gesellschaftlichen Erfolge verdankte.

Vor zehn Jahren war er in die große Stadt gekommen und hatte in diesem Walde sofort einen Baum gefunden, der ihm Schutz vor Sturm und Ungewitter gewährte. Es war dies das Haus seiner Verwandten, die vor Jahren ein bescheidenes und fast armes, junges Mädchen, gegenwärtig die reiche Frau Baronin Lamoni war. Der Fall war ein ziemlich seltener. Ein hübsches, gefallsüchtiges Mädchen aus einem bescheidenen Landedelhofe, war die Gattin eines reichen, eine hohe Stellung einnehmenden Mannes geworden und hatte sich in eine Weltdame verwandelt, die in der großen Stadt ein gastfreies, fröhliches, mit allem erdenklichen Luxus ausgestattetes Haus führte.

Roman hatte sie in früherer Zeit nicht gekannt und führte sich daher mit einem Empfehlungsschreiben ein, welches ihm sein Onkel von seinen Nachbarn, den Domunts, verschafft hatte, mit denen die Baronin bedeutend näher verwandt war als mit den Darnowskis.

Die nicht mehr junge, aber immerhin noch schöne Frau machte einen tiefen Eindruck auf den Jüngling und der Luxus, welcher sie umgab, schien ihm geradezu feenhaft. Ein Kind bescheidener Verhältnisse, konnte er sich lange Zeit an den Herrlichkeiten dieser neuen Welt, deren Beherrscherin ihm so gütig entgegenkam, nicht sättigen. Bisher hatte Roman nur sein Vaterhaus gekannt, in dem er bis zu seinem zwölften Jahre gelebt, die Erinnerung an dasselbe suchte er jedoch, so oft sie sich ihm aufdrängte, mit aller Kraft zu verscheuchen; das Haus seines Onkels, bedeutend bescheidener und stiller als jenes; die Häuser mehrerer Gutsnachbarn und das ziemlich schmutzige und sehr arme Städtchen, wo er die Schule besucht hatte.

Sein Ideal aller Weiblichkeit war bis nun Irene gewesen, ein drei Jahre jüngeres Mädchen mit bleichen Gesichtszügen, grauen Augen und einem über die Schultern hinabhängenden dicken, schwarzen Zopf. In den Ferien und auch an allen Feiertagen traf er mit ihr im Hause des Onkels zusammen; sie tanzten miteinander oder unterhielten sich über die Aufgaben und Pflichten, welche das Leben der Frau, dem Manne und dem Menschen überhaupt auferlegt. Denn in den letzten Jahren seines Schulbesuches gehörte Roman zu einer Gruppe von beredten, eifernden Raisonneurs; die jungen Leute kritisirten alles, was ihnen schlecht und unbedeutend schien, errichteten Altäre für alles, was ihnen Liebe und Verehrung einflößte; in ihren Träumereien und Streitigkeiten stießen sie die Welt vorwärts, vervollkommneten sie, lenkten sie in andere bessere Bahnen. Irene war Mitglied dieses schwärmenden, phrasenreichen Kreises; sie sprach und stritt weniger als die anderen, doch lauschte sie mit solcher Andacht, mit so leuchtenden Augen, als wenn sie den ganzen Enthusiasmus, das selbstlose Streben dieser Jugend in sich aufnähme. War ihr etwas unverständlich, so wandte sie sich später an Roman und bat ihn um Aufklärung; nur ihn, sonst niemanden. Roman sah darin einerseits einen Beweis von Sympathie, andererseits eine Anerkennung seines geistigen Höherstehens und beides beglückte ihn unendlich. Er setzte auseinander, erzählte, lehrte, dann bat er die Tante, sie möchte doch einen Walzer spielen und tanzte nun mit der reizenden Cousine in dem nicht großen Empfangszimmer bis zum Schwindel und zur Athemlosigkeit. Vor dem Hause wuchs eine alte breitästige Linde; dort saßen die Beiden häufig und lasen; manchmal Gedichte, manchmal jedoch – den Plutarch. Dieses Buch hatte Stephan Darnowski in der Hausbibliothek aufgestöbert, und während der letzten Ferien las Roman es zusammen mit Irene. Häufig ließ das junge Mädchen bei der Lectüre ihre Arbeit auf die Knie sinken und blickte flammenden Auges in die Ferne. Bei den Gedichten wiederum glänzten Thränen nicht nur in ihren Augen, sondern fielen häufig auf ihre bleichen, wie ein Lilienblatt zarten Wangen. Dann unternahmen sie weite Spaziergänge in Feld und Wald, während welchen sie fröhlichen Sinnes waren wie Kinder.

Er liebte ihren schlanken Wuchs, ihre grauen Augen, ihren dicken, schwarzen Zopf, ihr Sinnen beim Lesen des Plutarch, ihre Thränen bei den Gedichten, ihr leichtes Tanzen, ihre kindliche Fröhlichkeit im Walde, mit einem Worte, er liebte alles was sie selber, ihre Seele und ihr Körper war und er glaubte sogar sie wahnsinnig und für ewig zu lieben. Es war eine Idylle, frisch und voller Anmuth, vielleicht nicht ganz alltäglich, immerhin jedoch – eine Idylle.

Kein Wunder daher, daß in der großen Stadt, unter dem Protectorate seiner reichen, glänzenden Verwandten das neue Leben ihm die Verwirklichung eines wunderbaren Traumes dünkte, und daß die Farben der Idylle verblaßten, bis ihm dieselbe schließlich nur mehr ein kindisches Spiel schien. Sein männliches, reifes Leben hatte eigentlich doch jetzt erst begonnen. Jetzt erst lernte er die reale Welt, ihre Wege, Ressourcen und Genüsse kennen; die Welt, in der es nicht leicht war, einen bequemen Platz zu erobern, und doch die einzige, in der zu leben es sich verlohnte. Jetzt erst verstand und entschuldigte Roman seinen Vater, den er bisher im Stillen sehr streng beurtheilt hatte. Derselbe war leidenschaftlich und verschwenderisch gewesen und hatte die Freuden und Genüsse des Lebens über alles geliebt. Er hatte sein Vermögen durchgebracht und wäre – wenn sein Bruder ihm nicht rechtzeitig zu Hilfe geeilt – nicht nur der Armuth, sondern auch der Schande verfallen. Dieser Bruder nahm sich auch seines einzigen Kindes an.

Roman hatte die Trauer und Verzweiflung seiner Kindheit nicht vergessen; er hatte viele beschämende, schmerzende, demüthigende Erinnerungen bewahrt. Jetzt jedoch begann er seinen Vater zu verstehen und ihn nachsichtiger zu beurtheilen. Was hatte er schließlich gethan? Er hatte das Leben genießen wollen. Roman verstand jetzt, daß man das Getränk erst erobern und dann trinken solle; nicht in zu großen Zügen, mäßig, um so lange zu trinken als nur möglich. Täglich sah er zahlreiche Beispiele dieser Lebensauffassung; es war ein fortwährender Anschauungsunterricht, dessen der junge Student in dem Hause der Baronin theilhaftig wurde und in dem glänzenden Kreise, in den sie ihn mit mütterlicher Güte, zu der eine Beimischung eines anderen Gefühles sich gesellte, eingeführt hatte.

Als sie ihn das erstemal erblickt hatte, war er ein schlank gewachsener, hübscher Junge mit regelmäßigen Gesichtszügen, einem hellen Schnurrbart über der kirschrothen Lippe, dichtem Haare und einer Stirn, die glatt und klar wie die eines Kindes. In seinen dunkelblauen Augen war eine Mischung von Schwärmerei und Wissbegierde, von Schüchternheit und Energie. Ein gewisses Ungeschick, mit dem er sich in der ihm fremden Welt bewegte, machte den Eindruck von Frische und war für Augen, die nur an künstliche Blumen gewöhnt, ganz besonders anziehend.

Die Baronin Lamoni, die das vierzigste Lebensjahr bereits überschritten, an den Genüssen des Lebens übersättigt und gleichzeitig ihrer nimmer satt war, hatte den jugendlichen Verwandten sofort in die Reihe ihrer Verehrer aufgenommen und ihn mit Gunstbezeugungen überhäuft, die ihm gleich einem berauschenden Getränke zu Kopfe stiegen.

Dies dauerte jedoch nicht lange und bald gab er sich mit vollem Eifer dem Studium hin. Erstens liebte er das Wissen und dann wußte er auch, daß ihm, einem mittellosen Jüngling, nur auf diesem Wege die Möglichkeit gegeben war, das Bürgerrecht in einer Sphäre zu erringen, die er jetzt schon als die seinige betrachtete. Dieser zweite Grund gewann binnen kurzem derart die Oberhand, daß, wenn man Roman die Frage würde vorgelegt haben, »warum er lerne?« er nicht mehr hätte antworten können, »aus Liebe zum Wissen«, da dies nur ein Theil der Wahrheit gewesen wäre, und zwar ein immer kleinerer Theil.

Wohl interessirten ihn die Vorträge und auch die von den Professoren angerathenen Bücher; er lernte, las, notirte; manchmal Tage und Nächte hintereinander.

Und doch drängte sich ihm immer häufiger die Frage auf, ob er wohl praktisch verfahren, daß er diesen und nicht einen anderen Zweig der Wissenschaft gewählt? Ob er auf anderem Wege nicht rascher zum Ziele, das heißt zu einer unabhängigen Stellung und glänzenden Zukunft gelangt wäre? Die Antwort, die bald bejahend, bald verneinend lautete, blieb längere Zeit von Einfluß auf seinen Lerneifer. Wie dem auch sei, er lernte, arbeitete und blieb in Folge dessen längere Zeit entfernt von dem Hause und dem Kreise seiner reichen und gütigen Beschützerin. Doch kehrte er immer wieder zu ihm zurück. Teilweise aus Anstand und Dankbarkeit, theilweise weil er sich an diese Welt gewöhnt hatte und ihre Eleganz nicht missen wollte. Und doch verstand er manches zu entbehren, wenn der Besitz mit seinen Gefühlen und Grundsätzen nicht übereinstimmte. Von Natur verschwenderisch, für ihn ganz besonders freigebig, hätte die Baronin sein bescheidenes Studentenzimmer gern in eine bequeme, luxuriöse Wohnung verwandelt. Roman widersetzte sich dem; es kam zum erstenmale zwischen Ihnen zu einem scharfen Wortwechsel, dessen Folge war, daß er mehrere Monate hindurch das Haus der Baronin mied. Doch kam er wieder. Während dieses freiwilligen Ostracismus hatte er sich, von Beschämung, Gewissensbissen und Sehnsucht getrieben, zu seinen früheren, eine ganz andere Lebensweise führenden Collegen gewandt. Er konnte sich jedoch nicht mehr mit ihrer Armuth befreunden, mit ihrer Einfachheit, die manchmal in Derbheit ausartete, mit der Strenge ihrer Grundsätze, der Breite ihrer Anschauungen. Sie wiederum verschonten ihn nicht mit ihrer Kritik, ihren Spässen, mit Anzüglichkeiten und Spottnamen. Nach ziemlich langen, vergeblichen Annäherungsversuchen verließ er die Kameraden mit Bitterkeit in seinem Herzen, und diese Bitterkeit empfand er sowohl gegen die Collegen wie gegen sich selbst.

»Grobiane und Pedanten,« dies war sein Urtheil über die einstigen Freunde. »Ein kurzsichtiger Salonheld!« dasjenige seiner Freunde über ihn. Er fühlte eine herannahende Kurzsichtigkeit. Den Ideen, Theorien und Fragen, welche die Gedanken und Phantasie eines Studenten beschäftigen, konnte er nicht mehr so weit folgen wie sonst, und empfand er auch gegen das tiefere Forschen keinen directen Widerwillen, so verlor er doch stufenweise die Lust dazu. Wie häufig hatte er gehört, dieses Forschen sei nutzlos, gefährlich, ja sogar langweilig hatte man es genannt. Und diese Urtheile verfehlten nicht, im Geiste und Temperament des Jünglings eine Spur zurückzulassen. Die Rückkehr in die luxuriösen Gemächer seiner Verwandten wurde ihm um so leichter, als die Baronin während seiner Entfernung an freundlichen, wiederholten Einladungen es nicht hatte fehlen lassen.

Trotzdem er sich jedoch mit immer größerer Leichtigkeit und Gewandtheit auf den Parquetböden der vornehmen Welt bewegte, lernte Roman jetzt sehr fleißig, da das Studium seinem Ende entgegen ging und die Frage der Zukunft an ihn herantrat. Bisher hatten die Zinsen des kleinen Capitales, das er seinem Onkel abgenommen und bei einem Freunde der Baronin vortheilhafter placirt hatte, hingereicht, um die Bedürfnisse, welche das Leben in einer vornehmen Sphäre mit sich brachte, zu befriedigen, und dies um so leichter, als die an einen Studenten gestellten Anforderungen keineswegs bedeutend waren. Aber was nun beginnen? Wo den Anfang eines neuen Lebens finden? Sollte er in seine heimatliche Gegend zurückkehren? Oder hier bleiben in der großen Stadt, aus der in alle Richtungen zahlreiche Wege und Stege führten?

Diese Frage wurde von der Baronin und ihren Freunden sofort entschieden. Heimkehren? Welch ein Einfall! Sich in die Provinz, in irgend ein elendes Nest vergraben? Den schönsten Hoffnungen freiwillig entsagen? Das wäre ja ein Selbstmord! Welch eine Stellung kann ein junger Rechtsanwalt dort einnehmen? Soll er seine besten Kräfte und Fähigkeiten der Interessenvertretung von Bauern und Kleinbürgern widmen? Er würde mit den kleinen Sorgen, der Enge der Provinzverhältnisse, der Langeweile, ja vielleicht mit dem Mangel im ewigen Kampfe sein. Das darf nicht stattfinden. Roman verdient Besseres und seine Freunde werden ihm zum Erreichen desselben behilflich sein; in erster Reihe die Baronin Lamoni, die schon jetzt alles Mögliche aufbietet, um ihrem jugendlichen Verwandten eine vortheilhafte Anstellung zu verschaffen.

Roman theilte die Ansicht seiner Freunde. Das Leben in der Provinz lockte ihn nicht; der Kreis, in dem er nun schon mehrere Jahre zubrachte, war ihm sympathisch.

Ein tieferes Gefühl verband ihn mit niemandem, aber die Macht der Gewohnheit und der Wunsch des Lebensgenusses. Auch war ihm der Begriff, daß es für ihn überhaupt eine andere Daseinssphäre geben könne, vollkommen abhanden gekommen.

Gütige Feen, deren Liebling er zu sein schien, ebneten ihm den Weg; die Mühe der Baronin war vom besten Erfolge gekrönt.

Fünf Jahre waren seither in ungetrübtem Glücke verflossen. Und doch war Roman Darnowski nicht zufrieden. Im Gegentheile. Viel unzufriedener als beim Beginne seiner Laufbahn.

Der Winterabend neigte seinem Ende entgegen, aber in der großen Welt sollte er erst beginnen, als Roman vor dem Verlassen seiner Junggesellenwohnung in Frack und weißer Cravatte noch einmal vor den Spiegel trat. Der Spiegel warf die Gestalt eines jungen Mannes wieder, dessen angenehme, regelmäßige Gesichtszüge durch dichtes, schwarzes Haar verdunkelt, durch große, kornblumenblaue Augen erhellt wurden. Vielleicht eher umflort als erhellt, denn der Ausdruck dieser Augen war ein düsterer. Auf der Stirn sah man – für neunundzwanzig Jahre noch zu früh – die Spuren der ersten Runzeln. Die Lippen, immer noch blühend frisch, umspielte kein fröhliches Lächeln. Ein apathischer, launenhafter Ausdruck lagerte um die Mundwinkel. Mit einer trägen Bewegung zog Roman die weißen Handschuhe über seine Hände.

Es ist heute Gesellschaft bei der Baronin und er muß hingehen, obgleich er keine Lust dazu hat. Er hat schon wieder einen jener Spleenanfälle, denen er in der letzten Zeit immer häufiger unterliegt und wäre viel lieber zu Hause geblieben, um jenes Buch zu lesen, dessen weiße Blätter zwischen den Bronze- und Malachitnippsachen auf seinem Schreibtische so verlockend glänzen. Es passirt ihm jetzt so selten, ein interessantes Buch zu finden, und dieses ist gerade ein solches.

Es enthält eine neue Theorie, neue Ansichten über das psychische und physische Wesen des Menschen; das weckt das Interesse und auch die Hoffnung, daß es doch auf Erden etwas Frischeres, Vernünftigeres geben kann als das bis nun Bestehende. Seit längerer Zeit schon findet Roman nur dann einen Augenblick der Ruhe und Zufriedenheit, wenn er in vollkommener Abgeschiedenheit liest, forscht und denkt. Aber je mehr er nachdenkt, desto entfernter, desto unerforschlicher scheint ihm der Urgrund der Dinge. Es ist dies nichts Ungewöhnliches bei Menschen, die viel gedacht, viel erfahren und beobachtet haben; aber traurig und entmutigend ist diese Wahrnehmung.

Und doch würde Roman heute lieber zu Hause lesen, als in Gesellschaft gehen. Er kennt die Leute, die sich bei der Baronin zu versammeln pflegen wie seine fünf Finger, ja vielleicht noch besser. Wenn er schon das Haus verläßt, so ginge er am liebsten in jenes Local, wo seit zwei Monaten die tolle Irma, eine Chansonnettensängerin, die Zuhörer ergötzt. Das ist gar keine Frau, das ist Feuer! Eine Harfe, deren Saiten in grenzen- und ruheloser Leidenschaft vibrirend, rasende Tänze ausführen. Und reizend ist sie. Schalkhaft, neckisch, pikant wie hundert Teufel. Uebrigens auch ein gutes Mädchen. Nun, gut ist vielleicht zu viel gesagt für die kleine Hexe, aber aufrichtig. Ueberhaupt scheint ihm die Welt, zu der Irma gehört, besser und sogar angenehmer als die sogenannte große, weil sie ehrlicher ist.

Hier zeigt jeder seine wahre Gestalt und kein Schleier wirkt störend auf Heiterkeit und Frohsinn. Dort ist alles verhüllt und in Folge dessen noch langweilig obendrein. Glücklich, wer nicht scharfsichtig genug ist, um wahrzunehmen, was hinter den schönen und glänzenden Schleiern verborgen.

Vor kurzem hatte Roman Carlyle's Abhandlung über die moralische und gesellschaftliche Bedeutung der Kleidung gelesen. In Gesellschaft dieses Buches hatte er mehrere, sehr angenehme Abende verbracht. Die meisten Menschen ahnen nicht, von welcher Wichtigkeit die scheinbar so geringfügige Kleiderfrage ist.

Die Baronin Lamoni und Irma, die Chansonnettensängerin, nehmen nur darum so ganz verschiedene Stellungen ein, weil der Zufall der Geburt ihnen verschiedene Kleidung gegeben. Sonst sind sie Erscheinungen derselben Art, nur daß Irma amüsanter, weil sie aufrichtiger ist. Ehemals würde ihn dieser Vergleich empört haben, aber heute kennt er den Unterschied von Schein und Sein. Wie gern hätte er einen Theil seiner Erfahrung dahingegeben! Doch der Wunsch ist unausführbar.

Roman setzte sich auf die in einer Ecke stehende Ottomane und um sich blickend, dachte er, seine Wohnung sei gleich der Welt, in der er sich bewege, voll Truggoldes, das echtes Metall nachahmen wolle. Alles hier scheinbar farbenprächtig, schwellend, blitzend und kostspielig, ist im Grunde billiges, werthloses Zeug. Auch dies ist ein Ausfluß der Verhältnisse. Roman hatte das gethan, was alle in seinem Kreise. Würde er in dieser Beziehung originell sein wollen, er hätte auf jeden Erfolg verzichten müssen. Obendrein ist er ein Freund des Schönen und Aesthetischen, und da seine Mittel beschränkt sind, hat er alle die eleganten Gegenstände, die meistens beschädigt, verschiedenen Zufällen zu verdanken. Bald ist es ein Ausverkauf, bald eine Zeitungsannonce – widerliche langweilige Dinge! Und im Grunde eine vor sich und Anderen gespielte Komödie. Aber anders war es nicht möglich; denn der Gehalt, den er bezog, wenn auch bedeutend im Verhältnisse zu seinem Alter und seinen Verdiensten, stand gar nicht im Einklange mit seinen Bedürfnissen. Was Wunder, daß seit längerer Zeit seine Mißstimmung und sein Trübsinn im Steigen begriffen waren.

Er gab sich keine Rechenschaft davon, aber doch mußte dies der einzige Grund sein. Denn was fehlt ihm sonst? Er möchte über größere Mittel verfügen und beruhigter in die Zukunft blicken können. Fünf Jahre ist er auf einem Posten. Das ist zu lange. Obgleich er die Bureauarbeit nichts weniger als anziehend, sondern im Gegentheile trocken und langweilig findet, giebt er sich Mühe, ein musterhafter Beamter zu sein, und seine Vorgesetzten erkennen dies auch an. Und doch ist er noch nicht um einen Schritt vorwärts gekommen; das fängt an ihn zu beunruhigen. Wer weiß, wie lange noch die Armuth ihn drücken wird? Denn im Grunde führt er eine ärmliche Lebensweise.

Diese Irma zum Beispiel. Sie wirkt auf ihn wie Champagner. O, könnte er nur über größere Mittel verfügen!

Es ist dieselbe Geschichte wie voriges Jahr mit der Aurora aus dem Circus, die ihm ein ekelerregender, pockennarbiger, buckliger Millionär vor der Nase wegschnappte.

Plötzlich sprang Roman von der Ottomane empor und durchmaß das Zimmer hastigen Schrittes.

»Pfui! Was mir für Gedanken kommen! Wenn es so weiter geht, bin ich im Stande, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen, um die Welt wenigstens von einem Scheusal zu befreien!«

In diesem Augenblicke empfand er thatsächlich einen Widerwillen gegen sich, doch beruhigte er sich bald mit dem Gedanken, daß ihm im Grunde weder um Aurora noch Irma, sondern um ein sicheres Stückchen Brot und ein wenig Wohlstand zu thun sei, damit er nicht mehr so ängstlich mit jeder Ausgabe zu rechnen brauche. Sobald er in seiner Carrière steigt, kann er heiraten und das Familienleben mit seinen Pflichten wird seinem Dasein Inhalt und Freude verleihen.

Nicht zum erstenmale kamen ihm Heiratsgedanken. Er fühlte jetzt häufig das Bedürfniß, sich an jemanden ganz und innig anzuschließen. Doch bildete sein Einkommen, das kaum für Einen hinreichte, das erste Hinderniß und das zweite, daß in seiner Phantasie das Ideal einer Frau lebte, welche die ganze Liebe und Zärtlichkeit, die auf dem Grunde seines Herzens lag, an die Oberfläche bringen sollte. Dieses Ideal trug keine bestimmten Züge, aber Roman war, als habe er von einem solchen geträumt. Mädchenhaft und sanft, vernünftig und rechtschaffen; ein bleiches Antlitz mit ausdrucksvollen Zügen.

Noch war er einer solchen Frau nicht begegnet; aber wenn seine Vermögensverhältnisse sich bessern, wenn er Umschau halten wird in der weiten Welt – –

Indessen war es die höchste Zeit geworden, zur Baronin zu fahren. Dieselbe hatte vor kurzem eine Reise in ihre heimatliche Gegend gemacht, um eine Vermögensangelegenheit zu ordnen, und seit ihrer Heimkehr hatte Roman seine einstige Beschützerin noch nicht gesehen, obgleich er mehrmals in ihrem Hause vorgesprochen. Mußte sie sich doch für die zwei Monate, die sie auf dem Lande gewesen, durch allerhand Besuche und Vergnügungen entschädigen. Bei dem Gedanken an den Landaufenthalt der Baronin mußte Roman unwillkürlich lachen. Wie verzweifelt mochte sie gewesen sein! Welch tödtliche Langweile empfunden haben!

Gestern hatte er eine Einladung zum heutigen Abend erhalten und der Inhalt des Briefes hatte seine Neugierde wachgerufen.

»Ich habe eine wichtige und gute Nachricht für Dich, aber erfahren wirst Du sie nur in meinem kleinen Salon, auf der Dir so wohlbekannten Causeuse, hinter dem chinesischen Wandschirm, der Dir so gut gefällt. Ich hoffe, Du wirst mir danken, denn die Nachricht ist gut. Nicht lange mehr und Du wirst Dir selber so viele chinesische Wandschirme anschaffen können, wie Deine Seele nur verlangen wird!«

Erst hatte Roman gedacht: »Wahrscheinlich wieder eine Dummheit!« denn die wichtigsten Nachrichten von Clara Lamoni flößten ihm gar kein Interesse ein. »Weißt Du, wir arrangiren eine gemeinsame Schlittenfahrt mit Tanzvergnügen, zehn Werst hinter der Stadt«; oder: »in der Oper wird der berühmte Tramtadroni singen«; oder auch: »Die M. oder N. ist sterblich verliebt in Dich!« so pflegten sie gewöhnlich zu lauten.

Diesmal jedoch mußte es etwas anderes sein; wenigstens ließ sich solches aus dem Schlußsatze folgern. Plötzlich lachte Roman laut auf: Eine Seele, die nach chinesischen Wandschirmen dürstet, kam ihm gar zu komisch vor. Giebt es solche Seelen? Eigentlich ja, und wer weiß, ob dieselben nicht die lustigsten und glücklichsten sind?

Er läutete. Auf den Klang der Glocke eilte ein halbwüchsiger Bursche herbei, dem Roman den Befehl ertheilte, ihm den Pelz zu bringen und dann die Wohnung zuzusperren.

Auf der breiten, hellerleuchteten, teppichbelegten, zur Wohnung der Baronin führenden Treppe erblickte Roman zwei Damen, die, in weiße Mäntel gehüllt, langsam und gleichmäßig, als strömten sie auf einer Lichtwelle dahin, die Stufen hinaufstiegen. Im Nu war er an ihrer Seite, und das nun folgende Feuerwerk von Worten und Blicken erweckte die Vermuthung, daß die schlanke Brünette mit den ein wenig vogelähnlichen Zügen und dem Brillantstern in den nachtschwarzen Haaren zu denjenigen gehöre, von deren Verliebtsein die Baronin bereits Erwähnung gethan. Dem war auch so, und wer Roman in diesem Augenblicke sah, konnte sich darob nicht wundern.

Alle Traurigkeit, Sehnsucht, Uebersättigung hatte er in der verschlossenen Wohnung gelassen und war jetzt ein hübscher, eleganter, über das Zusammentreffen erfreuter junger Mann, dessen blühendrothe Lippen den schwarzen Augen, die so huldvoll auf ihn niederblickten, fröhlich zulächelten. Er war in diesem Augenblicke vollkommen aufrichtig.

Die deutlich zur Schau getragene Sympathie einer schönen, hochstehenden Frau bereitete ihm doppelte Freude. Er liebte es, in ihre schwarzen, feurigen Augen zu blicken, und es freute ihn, daß man wußte, sie gestatte ihm, anders in dieselben zu blicken als alle Anderen.

Vor der zu den Gemächern der Baronin führenden Thür blieb die Besitzerin der schwarzen Augen und des Brillantsternes stehen und fragte plötzlich: »Haben Sie schon die Neuigkeit gehört?« Und ohne Roman's Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Marcel Domunt, der Ingenieur, weilt seit mehreren Tagen in unserer Stadt. Wahrscheinlich werden Sie ihn bei der Baronin treffen. Gestern war er bei mir. Er ist sehr liebenswürdig. Wie es heißt, soll er ein Nabob geworden sein.«

Sie traten ins Vorzimmer.

Marcel Domunt! Roman erinnert sich seiner sehr gut. Ein einstiger Bekannter und fast ein Schulcollege, wenn auch bedeutend älter als er. Ein Nabob! Ist er so reich geworden? Ja, richtig, Roman hatte schon einmal Aehnliches gehört und war begierig, diesen Mann zu sehen, der Klugheit und Geschick genug besaß, um in verhältnismäßig kurzer Zeit ein Nabob zu werden.

In den tageshell erleuchteten Salons, in denen es von Männern und Frauen in Balltoilette wimmelte, war das Geräusch zwar gedämpfter, aber zahlreicher Stimmen vernehmbar. Die Diener trugen riesengroße Platten mit Thee und allerlei Backwerk umher, auf verschiedenartigen Causeusen, Sesseln, Lehnstühlen und Tabourets saßen die Damen und Herren in Gruppen beisammen, und wie die Sonne in den Thautropfen auf den Blumen, so entzündete das weiße Gaslicht in den Augen der Anwesenden, in dem Golde, den Brillanten und den wunderbaren Seidenstoffen ihrer Kleidung zahlreiche blitzende Funken. Die entblößten Schultern der Frauen machten den Eindruck von weißem und rosig angehauchtem Marmor. Die von den Decken herabhängenden Lampen und Kronleuchter, durch die zahlreichen Spiegel zurückgeworfen und vervielfältigt, bildeten ein unendliches, blendendes Meer von Licht. An den mit schweren Draperien verhängten Fenstern standen blühende Hyacinthen, buntfarbige Orchideen und schneeweiße Narcissen.

An den Wänden glitt der Blick von Landschaftsbildern zu idyllischen und ritterlichen Gestalten hinüber, die hie und da in dem blendenden Lichte auftauchten. In einem der Salons war inmitten eines Beetes von Blattpflanzen eine Statue verborgen, das Werk eines berühmten Meisters. Auf den Tischen standen Vasen von Sèvreporzellan, kostbare Lampen aus Malachit, Lapis-lazuli und altem Bronze. In dem durch die vielen Stimmen verursachten Getöse, das wie in weiter Entfernung grollender Donner klang, vernahm man das rhythmische Auf- und Zuklappen von Fächern, das Klirren von Sporen, das leise Aneinanderklingen von Silber und Krystall, und hin und wieder lautes, aber kurz anhaltendes Lachen. Aus dem letzten Salon, weit, weit von diesem Licht- und Blumenmeer entfernt, erklangen die Töne eines Claviers.

An der Schwelle des ersten Salons wurden die Gäste von einer hellen Blondine empfangen, die mittelgroß und ziemlich stark, auf den ersten Blick sehr schön schien. Sie trug ein Sammtkleid und Straußfedern in ihrem fast aschfarbenen Haar. Ihr zur Seite stand ein älterer, kahlköpfiger, sehr bleicher Herr, mit der Miene eines gelangweilten Jupiters.

Als Roman sich tief – fast so tief wie bei Hofe – vor der Hausfrau verneigte, drohte ihm dieselbe unmerklich mit dem Finger. Er wußte wohl warum. Acht Tage war sie bereits in der Stadt, ohne ihn gesehen zu haben. Zweimal war er vergeblich bei ihr gewesen. Aber das hatte nichts zu sagen. Er hätte zwanzigmal kommen sollen. Einen freien Augenblick wahrnehmend, neigte sich Roman zur Hausfrau und fragte mit bedeutsamem Blicke.

»Eine Neuigkeit?«

In der Nähe betrachtet, machte das Gesicht der Baronin Lamoni den Eindruck eines weißen, mit zwei rosenrothen Röschen bemalten Porzellantellers.

»Und eine vorzügliche!« erwiderte sie, indem ein Lächeln ihre Züge verklärte. »Jetzt kann ich aber nicht – später – Mittlerweile gehe und amüsire Dich und die Anderen.«

Roman entfernte sich und dachte im Stillen, die Baronin lege jetzt entschieden zuviel Schminke auf. Sie that es schon seit längerem, aber nicht in dem Maße. Trop de zèle. Uebrigens wer weiß, wie sie ohne dieses Email aussehen würde.

Sein Nachdenken wurde durch mehrere Freunde unterbrochen, die über das kolossale Honorar eines berühmten Opernsängers in lebhaftem Gespräche begriffen waren. Ja, die Sänger, die sind jetzt die Herren der Welt und die Glücklichen dieser Erde. Viel Geld und ewiger Beifall, das ist die Lösung des Räthsels vom irdischen Glück. Roman wandte ein, daß zu diesem Glücke ja auch der erhebende Genuß gehöre, den die Kunst verschaffe; doch wurde er lachend abgewiesen. Kunst! Aber die Herren denken gar nicht an so hohe Dinge. Es ist ein Handwerk wie jedes andere auch, nur einträglicher. Uebrigens wird gegenwärtig alles zum Handwerk, und vom Ausüben der Kunst, des Wissens und derartiger Dinge Genuß zu verlangen, wäre ein Archaismus.

»Kunst und Wissen dienen auch als Deckmantel,« bemerkte Roman.

»Freilich,« hieß es allerseits, »ein Deckmantel, um die wahnsinnige Jagd nach Gold zu verhüllen. Es kann auch gar nicht anders sein. Die großen, durch die Civilisation hervorgerufenen Bedürfnisse können ja kaum durch Berge Goldes befriedigt werden. Vielleicht ist dies gut, denn diesen Verhältnissen verdankt man schließlich den Fortschritt auf allen Gebieten.«

Die Aufmerksamkeit der Teilnehmer des Gespräches wurde von neuen Gästen in Anspruch genommen. Jener kleingewachsene Mann mit der gebückten Haltung ist ein berühmter Arzt, der seinem Wissen eine halbe Million verdankt, die er in ausländischen Banken hinterlegt hat. Es lebe das Wissen!

Aber die halbe Million und das Wissen neigen sich tief vor jemanden, der zwar nicht so reich, dessen Brust jedoch mit Zeichen der höchsten Würden bedeckt ist. Das ist wieder eine ganz eigenartige Laufbahn. Rasch, glänzend, phänomenal. Nichtsdestoweniger neigt sie sich mit äußerster Höflichkeit vor einem der höchsten Würdenträger des plutokratischen Reiches. Dieser wiederum ist ein einziger, riesengroßer Sack Goldes! Er versteht aber auch die wahre Kunst des Lebens. Sein Salon à la Louis XIV. kostet so viel wie ein kleiner Palast; für die Decke in seinem Treppenhaus zahlte er einem berühmten Maler eine märchenhaft klingende Summe; und so weiter, und so weiter.

Zugleich mit den Anderen beobachtete Roman die eintretenden Gäste, sah wie die Millionen vor den Titeln, die Carrièren vor den Millionen sich neigten, lächelte, lachte sogar und behauptete, es könne nicht anders sein. Dieser Zustand der Dinge befördere den Fortschritt, die Bildung, den Wohlstand, das Gewerbe. Trotz der zur Schau getragenen Heiterkeit jedoch hatte er eine Empfindung, als ringele sich eine Natter immer fester und fester um sein Herz. Unwillkürlich dachte er daran, daß er gar nicht vorwärts komme und daß er noch einen langen Weg vor sich habe, um diese Reichthümer und den Gipfel des Glückes zu erreichen, von dem Alle hier sprachen und der das Entzücken der Versammelten, aber auch ihren Neid erweckte.

Trotz dieses unablässig wiederkehrenden Gedankens amusirte er sich und auch die Anderen. In diesen Salons fühlte er sich in seinem Elemente. Nicht wenig trug zu dieser Empfindung die Besitzerin der schwarzen Augen und des Brillantsternes bei. Wohlbewandert in der Kunst des Flirts, ließ sie den Faden des Gespräches nicht fallen, und waren auch die berührten Gegenstände alltäglich, so drückten die Blicke und die Modulation der Stimme doch ganz Anderes aus als die Worte.

Indessen mußte diesem Spiele wohl etwas mangeln, denn dasselbe hinderte Roman nicht zu bemerken, daß die junge Dame zu spitze, vogelähnliche Gesichtszüge habe, daß um ihre schöngeformten, blühend frischen Lippen ein launenhafter Zug lagere, und daß in ihren Augen nur der Ausdruck von Leidenschaftlichkeit und Gefallsucht herrsche.

Eine plötzlich entstandene Bewegung benützend, entfernte er sich und dachte im Fortgehen, dies sei entschieden nicht sein weibliches Ideal; da war ihm Irma schon bedeutend lieber. Hübsch sind Beide, aber jene ist amusanter, nur – nur so theuer! Für ihn, denn sonst konnte sich hier gar mancher diesen luxuriösen Gegenstand mit Leichtigkeit verschaffen.

Zu diesen Glücklichen gehörte wahrscheinlich auch jener verspätete Gast, der soeben mit auffallender Zuvorkommenheit begrüßt wurde. Es war ein großgewachsener, kräftig gebauter Mann mit energischen Gesichtszügen und einem langen, röthlichen Bart. An seiner Brust glänzte ein kleiner, silberner Hammer mit einer Maurerkelle aus demselben Metall.

Der Eintretende war Marcel Domunt und Roman hatte ihn sofort erkannt.

Ingenieur und Unternehmer, einer der glücklichsten und kühnsten modernen Argonauten, ist er heute fast Millionär und wird binnen kurzem ein Nabob sein. Er wird so umringt, daß Roman ihn nicht begrüßen, sondern nur von weitem beobachten kann.

Marcel Domunt schien heiter und gesprächig, aber zerstreut. Es machte den Eindruck, als ob sein Blick von der Wirklichkeit in die Tiefe seines Geistes flüchte, um zu rechnen, zu messen, zu vergleichen. Uebrigens fühlte er sich als naher Verwandter der Baronin hier vollkommen zu Hause, und bewegte sich ohne Hochmuth, aber mit Sicherheit und mit dem Bewußtsein, daß er viel geleistet habe, viel bedeute, und daß ihm daher vieles gestattet sei.

Eine Gruppe von Männern, die Domunt's Ankunft sehr erfreut zu haben schien, bemächtigte sich seiner und geleitete ihn an den Kartentisch. Dem Davonschreitenden folgte ein Strom von Bemerkungen.

Welch ein glücklicher Mann! Klug, tüchtig, scharfblickend! Jeder Verlust wird ihm durch zehnfachen Gewinn ersetzt. Welch kolossale Summe hat ihm sein letztes Unternehmen eingebracht! Zwar kann man das Ende solcher Männer niemals im Voraus bestimmen. König oder Zigeuner! Aber Domunt bildet eine Ausnahme. Er ist vorsichtig. Er ist hergekommen, um zwei riesengroße Häuser zu kaufen, die einen unantastbaren Besitz bilden sollen. Wenn ihm nur diese zwei Häuser bleiben, kann er noch immer eine hervorragende Stellung einnehmen. Aber er wird es noch weit bringen. Das ist ein tüchtiger Kopf und ein tüchtiger Charakter! Solche Männer brauchen wir jetzt! Er ist ein zeitgenössischer Geist und das ist der Grund seines rasenden Erfolges. Als die Damen ihr Bedauern äußerten, daß man eine so interessante und intelligente Erscheinung der Gesellschaft entzogen, bemerkte jemand: Herr Marcel Domunt sei kein Freund von Damengesellschaft. Er sei meistentheils sehr abgespannt und wolle sich durch Unterhaltung nicht noch mehr ermüden. Uebrigens sei er verheiratet, und Flirt als solcher mache ihm keinen Spaß. Das Kartenspiel zerstreut ihn, ohne ihn anzustrengen, aber auch bei dieser Gelegenheit offenbaren sich die Eigenheiten seines Wesens. Er liebt ein gewagtes und hohes Spiel und findet daher häufig entsprechende Partner.

Mit lebhafter Neugierde lauschte Roman diesen Erzählungen. Kannte er doch ihren Helden, dessen Heimat, dessen Familie. Zwischen wogenden Feldern, weit, weit von hier entfernt, stand im Schutze eines dichten Waldes ein weißgetünchtes, mäßig großes Haus mit einem auf vier weißen Pfeilern ruhenden Balkon und einem schattigen Garten, in dessen Mitte ein spiegelklarer See. »Kaniówka« nannte man den Ort, der jetzt wie aus einem Nebel vor Roman's Augen auftauchte. Wie gut hat er diese Stätte einst gekannt! Die Domunts hatten mehrere Söhne. Was war aus den anderen geworden? Marcel war der älteste. Der hatte Glück gehabt. Was ist Roman's Schicksal im Vergleiche mit demjenigen Domunt's? Ein schmaler, auf eintöniger Fläche dahinführender Steg. Jahre können vergehen, bis man auf diesem Stege einen Hügel erklimmt und an solche Höhen kann er nicht einmal im Traume denken! Roman stand in einer Fensternische und fühlte den Biß der sein Herz umringelnden Natter noch empfindlicher als bisher.

Die leichte Berührung eines Fächers weckte ihn aus seinem Sinnen. Die Baronin Lamoni stand vor ihm. In einem der Salons setzte sich eben ein berühmter Künstler ans Clavier, und da sich die gesammte Gesellschaft – mit Ausnahme der Kartenspieler – um ihn gruppirte, konnte die Hausfrau über eine Viertelstunde verfügen.

Roman's Arm ergreifend, schritt sie mit dem Freunde durch die Gemächer, tiefe Verneigungen, demüthige Blicke, schmeichelhafte Worte entgegennehmend und dieselben mit herablassendem Lächeln, freundlichem Kopfnicken und den verschiedenartigsten Bewegungen ihres Fächers beantwortend. Ihr Antlitz strahlte vor Freude. Es war aber auch eine der glänzendsten Soiréen, die sie je veranstaltet. Noch nie hatte sie gleichzeitig so viele Berühmtheiten und Größen in ihren Salons versammelt. Die schönsten Frauen, die reichsten Männer, die höchsten Würdenträger. Und dies alles acht Tage nach ihrer Heimkehr. Das bringt nicht jede fertig. Es ahnt aber auch niemand, wie viel Geld und Mühe sie das gekostet hat.

Dieser entzückende Brombirknopf hat sich für sein Spiel eine fabelhafte Summe zahlen lassen, aber der Erfolg erfreute die Baronin derart, daß sie um Jahre verjüngt schien, und während sie ihrem Gefährten dies alles triumphirend mittheilte, betrat sie mit ihm den kleinen Salon, der nur durch eine inmitten einer Palmengruppe hängende Lampe erhellt war. Nicht weit von den Palmen standen zwei Fauteuils, die ein niedriger, chinesischer Wandschirm von den übrigen Geräthschaften des Zimmers trennte. Auf dem Wandschirm war, von Bambusstöcken umgeben, ein goldener Drache zu sehen.

»Warum durchaus hier?« fragte Roman lächelnd.

»Eine Laune,« erwiderte die Baronin mit der Schalkhaftigkeit einer zwanzigjährigen Kokette; doch sofort wurde sie ernster und theilte Roman ihre wichtige Nachricht mit. Anfänglich hörte der junge Mann mit angenommener Gleichgiltigkeit zu, bald jedoch erstrahlte auch sein Antlitz in freudiger Erregung. Ja, diesmal hatte die Freundin recht gehabt, ihn dringend zu sich zu berufen. War es ihr doch gelungen, von einem hohen Würdenträger das feierliche Versprechen zu erhalten, er würde Roman einen Posten zuweisen, der, mit einem sehr hohen Gehalt verbunden, eine wunderbare Zukunftsperspective eröffnete. Es war dies nicht mehr ein Schritt, es war ein großer Sprung vorwärts, und niemand außer der Baronin, hätte dies zu Stande gebracht.

Doch enthält das süße Getränk zwei bittere Tropfen. Erstens wird der Posten erst nach Verlauf mehrerer Monate frei sein, und zweitens: ist er weit weg von hier; anderthalbtausend Werst oder vielleicht noch mehr beträgt die Entfernung. Der erste Umstand ist nicht von Bedeutung, aber der zweite betrübt sie. Daß es doch kein vollkommenes Glück auf Erden giebt! Doch kommt Roman nicht etwa in einen öden, entlegenen Winkel. Es ist eine große, reiche, in mancher Beziehung sehr interessante Stadt, ein Allerweltsbazar! Und wie gut kann man dort leben, wie herrlich sich amusiren. Die Baronin hat vor Jahren mehrere Wochen dort zugebracht. Sie wird ihm Empfehlungsschreiben an ihre Bekannten mitgeben, die zu den Spitzen der dortigen Gesellschaft gehören.

»Nun bist Du zufrieden?« fragte sie, obgleich die Frage fast überflüssig, so glücklich sieht Roman aus. »Und doch würde ich es vorgezogen haben, wenn die Nachricht, daß Du von uns fort mußt, Dich ein wenig betrübt hätte. Zehn Jahre hindurch haben wir uns fast täglich gesehen! Ich habe mich an Dich gewöhnt, wie … wie an einen Bruder! Zehn Jahre … o Gott! Wie doch alles vergeht! Aber ich bin keine Egoistin. Ich habe für Dich gearbeitet, ohne mein eigenes Interesse zu berücksichtigen, nun danke mir auch dafür.«

Herzlich und mit aufrichtiger Dankbarkeit drückte Roman ihre beiden Hände an seine Lippen. Der warme Dank, mit dem Gedanken an die Abreise des jungen Mannes verbunden, trieb Thränen in die Augen der Baronin.

»Ich bin entnervt,« flüsterte sie, »mir ist seit meiner Heimkehr ein Unglück zugestoßen.«

»Ein Unglück?« fragte Roman hastig.

»Ich erzähle Dir das später. Wenn Alle auseinander gehen, bleibst Du noch eine halbe Stunde bei mir. Dann werde ich es Dir mittheilen.«

»Hat Bruno wieder einmal Unglück im Spiele gehabt, oder Frau Marie vielleicht einen Kummer?«

Halb wehmüthig, halb ärgerlich winkte sie mit der Hand.

»Nein,« sagte sie, »Du weißt doch, daß ich von meinen Kindern nichts Gutes mehr erhoffe. Bruno ist ein verlorener Mensch, und nähme man nicht Rücksicht auf mich, man würde ihn im Regimente nicht dulden; und Marie schreibt nur, wenn sie in Geldverlegenheit ist. Von einer anderen Seite hatte ich einen Kummer – und einen großen –, doch das erzähle ich Dir später – Wie? Brombirknopf spielt nicht mehr? Ja, doch, er fängt wieder an. Das ist gut, denn ich möchte noch einige Augenblicke ausruhen. Solche Soiréen ermüden ungeheuer. Aber welch ein Vergnügen, wenn sie gelingen! Warum fragst Du nicht, wie ich diese zwei Monate zugebracht habe? Ach, mein Lieber, man muß meine Stahlnerven haben, um diese Langweile aushalten zu können! Aber meine Geschäfte habe ich erledigt, viele Verwandte und alte Bekannte wiedergesehen. Auch in Darnówka war ich.«

Mit einer lebhaften Bewegung wandte sich Roman zu ihr.

»In Darnówka? Was hört man dort?«

»Nichts Besonderes. Alles ist dort wie von altersher. Das Haus, die Möbel, die Sitten, alles altmodisch. Die beiden Darnowskis sind auch alt geworden.«

»Ist der Onkel gesund?«

»Herr Romuald! Aber natürlich! Grau und kahl ist er geworden, aber kerngesund, kräftig wie eine Eiche; ja, daß ich's Dir nur gestehe, derber finde ich ihn als einst. Und möglich auch, daß es mir so scheint, weil ich dieser Sphäre und diesen Manieren entfremdet bin. Die Tante ist kränklich und klagt unausgesetzt. Stephan ist ein hübscher Junge geworden, aber ohne eine Spur von Eleganz und Ehrgeiz. Als ich ihm sagte, anstatt wie ein Pilz auf dem Lande zu sitzen, solle er in die Stadt kommen, wo er Carrière machen und das Leben genießen könne, lachte er wie über den größten Unsinn. Uebrigens sind sie dort Alle so. Irene wollte ich mit mir nehmen.«

»Welche Irene?«

»Nun, die Pflegetochter Deines Onkels – ein wenig ist sie ja auch mit mir verwandt.«

»Irene ist in Darnówka?«

»Freilich!«

»Sie hat nicht geheiratet?«

»Interessirt das Dich so? O Gott! Wie Deine Augen glänzen! Richtig! Sie war ja einst Deine Liebe! Nun, schade drum, denn sie ist unklug. Sie wollte nicht mit mir fahren, und anfänglich war ich sehr beleidigt darüber. Aber dann dachte ich: Unsinn! und offerirte ihr beim Abschied ein Brillantarmband. Das wollte sie nun auf keinen Fall annehmen. Sie brauche derartiges nicht. Hast Du schon einmal etwas Aehnliches gehört? Wer kann sich so über Brillanten ausdrücken? Nun, ist sie nicht unklug?«

»Hat man nach mir gefragt? Ist der Onkel böse, daß ich so lange nicht geschrieben habe? Ist Stephan –«

Doch anstatt die Fragen, die sich schüchtern aber unwiderstehlich auf Roman's Lippen drängten, zu beantworten, ergriff die Baronin seine Hand und mit ihrem Fächer auf die gegenüberliegende Thür hindeutend, flüsterte sie:

»Er hat den Kartentisch verlassen! Siehst Du? Er ist allein! Er trinkt Orangeade. Jetzt ist der richtige Augenblick, Deinen Dank anzubringen. Du mußt ihm durchaus heute noch danken.«

Wie aus einem Traume geweckt, blickte Roman empor. Durch die offenstehende Thür sah man einen Theil des Salons, in welchem an mehreren Kartentischen gespielt wurde. Einer der Herren hatte soeben seinen Platz verlassen und trank in einiger Entfernung von den Anderen schluckweise kühlende Orangeade.

»Du bist ihm im Laufe des vorigen Winters vorgestellt worden. Er erinnert sich Deiner ganz genau, er sagte es mir. Du mußt Dich bei ihm bedanken, er hat ein fabelhaftes Gedächtniß. O Gott! So geh' doch! Bedank' Dich! Suche seine Aufmerksamkeit zu fesseln! Nun, geh' doch schon!«

Roman zögerte, obgleich er wohl wußte, daß die Baronin das Richtige verlange.

»Rascher!« flüsterte die Freundin, »wenn er wieder beim Kartentische sitzt, hast Du die Gelegenheit versäumt!«

»Alles ist dort geblieben, wie es einst war, das Haus, die Möbel, die Sitten, alles wie in den alten Zeiten. Ob er mir wohl zürnt ob meines Stillschweigens?« dachte Roman, indem er sich erhob und langsam auf den Würdenträger zuschritt.

Im Vorübergehen streifte sein Blick einen Gegenstand, den er hier noch nicht gesehen. Auf einem Marmorpostamente stand ein kleiner gläserner Sarg, ein regelrechter Sarg und in ihm etwas Grau-Rothes. Was sollte das vorstellen? Ist nach der Mode der Todtenköpfe diejenige der Särge aufgekommen?

Doch Roman hat nicht Zeit darüber nachzudenken. Schon betritt er den Spielsalon.

»Das Brillantarmband wollte sie nicht annehmen. Sie brauche derartiges nicht. Warum sie bisher nicht geheiratet hat? Wahrscheinlich ist sie häßlich geworden. Vielleicht hat sie die Pocken gehabt.«

Roman steht vor dem Würdenträger und sich tief vor ihm neigend, erlaubt er sich ihn zu erinnern, daß er ihm bereits einmal vorgestellt wurde. Er erhält eine kurze, aber freundliche Antwort, die Versicherung, daß ein gegebenes Versprechen niemals vergessen werde, und vernimmt gleichzeitig äußerst schmeichelhafte Worte über Frau Baronin Clara Lamoni.

Roman hat Zeit gefunden, sechs tiefe Verbeugungen zu machen, die siebente jedoch, eine Antwort auf einen freundlichen Abschiedswink, wird nur mehr dem Rücken des Würdenträgers zutheil. Mit flammendrothem Gesichte richtete sich Roman empor. Zwischen seinen gerunzelten Brauen lag eine tiefe Falte. Lange blickte er zu Boden. Als er das Auge erhob, begegnete er dem fest auf ihn gerichteten Blicke Marcel Domunt's.

In der einen Hand die Karten haltend, indes die andere mit Kreide Zahlen auf das grüne Tuch des Tisches schrieb, betrachtete der große, kräftige Mann mit dem röthlichen Bart sein Gegenüber unausgesetzt in jeder Pause des Spieles. Diese hellen, kalt blickenden Augen schienen sich über etwas zu wundern.

Die Falte von Roman's Stirn war verschwunden. Mit freundlichem Lächeln auf Domunt, der soeben den Kartentisch verließ, zuschreitend, sagte er:

»Ich sehe, Marcel, daß Du Dich meiner erinnerst, aber mich nicht erkennst.«

Einen Augenblick noch betrachtete ihn Domunt; dann sagte er ruhig:

»Roman Darnowski.«

Der kräftige, diese Worte begleitende Händedruck stand mit der Kühle des Blickes und dem ruhigen Klange der Stimme in Widerspruch. Die jungen Männer traten in eine Fensternische und es entstand ein Kreuzfeuer von Fragen und Antworten, das mehrere Minuten währte.

»Wie geht es Dir?«

»Sehr gut! Dir lege ich diese Frage nicht vor. Ist es doch allgemein bekannt.«

»Ja, ja! Ich war schon oben und unten. Jetzt bin ich oben. Ich sah Dich vorhin mit jemandem sprechen. Ich gratulire. Du hast, wie es scheint, hohe Verbindungen.«

»Ja, die habe ich. Aber Du hast bald eine Million.«

»Was will das sagen? Um in der heutigen Welt zur Geltung zu gelangen, muß man mindestens das Zehnfache besitzen. Du wohnst immer hier?«

»Ja; und Du?«

»Ueberall und nirgends. Hast Du geheiratet?«

»Nein. Das gestatten meine Mittel noch nicht; zum Gründen einer Familie braucht man viel Geld.«

»Hast recht. Idyllen nehmen sich nur hübsch aus in Büchern und selbst dort nicht sonderlich. Was mich anbetrifft –«

»Ich hörte, Du hättest vor zwei Jahren geheiratet.«

»Ach, ja! Und ein Gott mag wissen, wozu ich das gethan habe. Ich kenne meine Frau fast gar nicht. Unmittelbar nach der Trauung mußte ich eine weite Reise antreten. Ich kehre jetzt heim von Inner-Asien.«

»Auf lange?«

»Auf einen Monat. Hier weile ich geschäftshalber schon acht Tage. Dann reise ich zu meiner Frau und von dort geht es ans Schwarze Meer.«

»Du liebst das Reisen?«

»Aber was Dir einfällt! Ich hasse es wie die Verdammten ihre Hölle, aber ich muß. So ist ja das Leben. Ist es lange her, seit Du in unserer Heimat warst?«

»Zehn Jahre.«

»Ich war zwölf Jahre nicht dort. Manchmal möchte ich hinfahren, aber ich habe keine Zeit.«

Er strich mit seiner großen, weißen Hand über den wohlgepflegten Bart.

»Das ist doch eigenthümlich!« sagte er lächelnd. »Seit wir hier sprechen, sehe ich nicht nur Dich, ich sehe Kaniówka, die Mama, die Schwestern vor mir, die Schwarzpappeln an unserem Teiche. An die Mama schreibe ich hin und wieder und sie an mich; von den Schwestern habe ich häufiger Briefe.«

»Und Deine Brüder?«

»Zwei sehe ich von Zeit zu Zeit und bin mit ihnen zufrieden. Glänzende Carrière machen sie nicht, aber im Verhältnisse zu ihren Fähigkeiten geht es ihnen nicht schlecht. Dem Einen habe ich selber zu etwas verholfen. Aber Kazio – Du kennst doch Kazio?«

»Vorzüglich. Er ist ja mein Altersgenosse. Du warst damals für mich schon eine Autorität, die beiden Jüngeren noch Kinder, mit Kazio lebten wir in Schule und Haus wie Brüder.«

»Nun, das ist es eben. Siehst Du, so geht es! Ein so fähiger, lieber Junge, und gerade um ihn steht es schlecht. Aber sehr schlecht! Ein fatales Abenteuer, sehr fatal, sage ich Dir.«

»Wo ist er jetzt?«

»In Kaniówka. Zehn Jahre war er in Berlin. Ein bedeutendes Bankhaus krachte dort und Kazio mit. Doch das wird, das muß sich gut machen lassen. Mama theilte mir alles mit; ich schrieb, Kazio solle zu mir kommen. Ich werde das schon in Ordnung bringen.«

»Wie ich sehe, hast Du die Beziehungen mit Deiner Familie nicht abgebrochen?«

»Warum sollte ich? Doch sind sie dünn wie ein Haar. Wenn man einander nicht sieht! – Manchmal denke ich, daß ich Mama nicht mehr erkennen würde, die Schwestern schon gar nicht! Die Eine ist alt, die Anderen sind groß geworden ohne mich. Doch was läßt sich thun? Das ist das Leben! Und Du, hast Du dort noch jemanden?«

»Meine Eltern sind lange todt; Geschwister hatte ich niemals.«

»Aha! Also aus mit dem alten Leben! So ist es am besten. Je weniger Beziehungen einen Menschen binden, um so freier ist er, um so breiter sein Arbeitsfeld, um so unbeschränkter die Freiheit des Genießens.«

»Und mit solchen Grundsätzen hast Du geheiratet?«

»Nun, warum nicht!? Eine menschliche Schwäche. Ich habe mich verliebt.«

»Hat Deine Frau eine große Mitgift bekommen?«

»Nicht einen Heller. Sie war eine Erzieherin aus unserer Gegend. Ein armes, trauriges, aber gutes, sanftes, liebes Geschöpf. Ich weilte geschäftshalber einen ganzen Winter dort, wo sie in Stellung war, lernte sie kennen, beobachtete sie ein-, zwei- bis dreimal – und dann wurde Hochzeit gemacht. Das ist die ganze Geschichte! Und bis nun – obgleich es zwei Jahre her sind – war ich im Ganzen vielleicht sechs Wochen mit ihr zusammen. Meinen Sohn kenne ich noch gar nicht.«

»So, hast Du schon einen Sohn?«

Domunt lachte fröhlich auf und dabei wurden unter seinem dichten Schnurrbart zwei Reihen gesunder, kräftiger, elfenbeinweißer Zähne sichtbar.

»Freilich,« sagte er, und noch immer lachend, fuhr er fort: »Das ist mein unbekanntes X, denn seit einem Jahre ist mein Streben darauf gerichtet, ihn kennen zu lernen und immer bleibt es unerreicht. Eben war ich wieder im Begriffe nach Hause zu fahren, als man mir ein glänzendes Geschäft vorschlägt. Zwei Häuser, die eine große Zukunft haben, sind für einen Spottpreis zu kaufen. Also heißt es wieder: Gefühle beiseite! Was kann man thun? Das ist das Leben!«

Er strich mit der Hand über seinen Bart, dachte nach und wiederholte mehrmals mechanisch:

»Das Leben, das Leben.«

»Ein Wanderleben,« fuhr er fort, obgleich er bereits mit anderen Gedanken beschäftigt schien, »hole es der Teufel! Ich habe einige Ideen im Kopfe, einen Haufen Arbeit auf dem Rücken. Man muß sich tüchtig zusammen nehmen, um nicht wahnsinnig zu werden. Glücklicherweise habe ich eiserne Nerven. Ich kenne kein Heim, wie Ruhe und Freiheit aussehen, habe ich längst vergessen. Nun, einmal wird das doch ein Ende nehmen.«

»Wann?« fragte Roman.

»Weiß ich es? Wenn ich alt geworden bin. Dann werde ich mich in Kaniówka niederlassen, das Gut gehört mir schon jetzt, ich habe den Brüdern ihren Antheil ausgezahlt. Ruhe, Freiheit, ein eigenes Heim, Familienleben, das behalte ich mir für das Ende des Daseins vor, pour la bonne bouche. Vorläufig jedoch muß ich arbeiten, arbeiten.«

»Um die zehn Millionen zu erwerben? Nicht?«

Domunt lachte.

»Nun sicherlich! Warum denn nicht? Die Welt steht jetzt darauf.«

»Ich hoffe, Du wirst mich besuchen.«

Domunt schien verlegen.

»Ich möchte, weiß jedoch nicht, ob ich es werde ermöglichen können. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie viel ich zu thun habe. Besuche mache ich wohl, doch nur solche, die durchaus nothwendig sind, Du verstehst doch. Zur Baronin komme ich, erstens weil sie eine nahe Verwandte ist und dann, weil ich ihren Mann brauche.«

»Der zweite Grund fällt wahrscheinlich schwerer ins Gewicht als der erste,« bemerkte Roman abermals lächelnd.

Domunt schien aus einem Traume zu erwachen.

»Aber nicht doch! Für solch einen vollendeten Materialisten mußt Du mich wieder nicht halten. Es ist wirklich nur der Mangel an Zeit. Dich zum Beispiel würde ich so gern besuchen, wenn auch nur auf einen Augenblick, oder weißt Du was, vielleicht verbringen wir einen Abend zusammen? Wir könnten von den alten Zeiten plaudern, von Kaniówka und so manchem anderen. Das wäre schön! Nicht? Ich muß zu diesem Zwecke einige Stunden von einer anderen Thätigkeit stehlen! Aber nein, nein, es wird nicht gehen, sicherlich nicht. Es thut mir sehr leid, aber es ist wirklich nicht möglich. Was kann man thun? Das ist das Leben!«

»Was kann man thun?« wiederholte Roman. »Wer würde vermuthen, daß auch Du, Marcel, diese Worte wiederholen wirst?«

»Aber warum denn, mein Lieber! Mit mehr Berechtigung als manch Anderer, das kannst Du mir glauben. Ich bin ein Sklave, an einen schweren Karren gefesselt! Wenn ich wenigstens acht Tage mit meiner Frau zubringen, mein unbekanntes X. kennen lernen und herzlich küssen könnte – wie froh wäre ich! Dann würde ich gern wieder den Pilgerstab ergreifen und ans andere Ende der Welt wandern, ein Ahasver!«

»Ein Argonaut!« berichtigte Roman.

Domunt erhob das Haupt.

»Nun, ja, meinethalben ein Argonaut! Ist denn das goldene Vlies nicht von jeher, wenn auch unter veränderter Gestalt – Zweck und Ziel aller menschlichen Anstrengungen gewesen? Haben nicht Königreiche, Kriege, große Städte, alle Entdeckungen und Erfindungen in diesem Streben ihren Ursprung?«

»Auch die Liebe,« schaltete Roman mit leiser Ironie ein.

»Freilich auch die Liebe, die nach Maßgabe des Genusses, den sie vermittelt, an Werth gewinnt. Macht und Genuß, dies sind die Achsen, um welche die Welt sich dreht – und immer heftiger wird die Jagd und die Begierde danach. Man muß sich dem anbequemen, sonst – Krach! – und unten liegt man! Leicht ist das nicht, manchmal glaubt man, daß Einem der Kopf springt, doch was kann man thun? Das ist das Leben!«

In den Salons entstand eine lebhafte Bewegung. Man schritt zur Tafel. Roman und Domunt schlossen sich, jeder eine Dame am Arme, der endlosen Kette an. Die Plätze, die sie einnahmen, waren jedoch ziemlich entfernt voneinander. Domunt, fast ein Millionär, saß bei den Spitzen der Gesellschaft, sein Cousin, ein bescheidener Beamter, verblieb in der Nähe der weniger glänzenden Sterne.

Mehrere Stunden später waren die Gemächer der Baronin leer und fast finster. In dem kleinen, nur durch eine Lampe erhellten Salon mit dem chinesischen Wandschirm stellte ein Diener zwei Tassen starken, duftenden Thees auf ein Tischchen und entfernte sich lautlosen Schrittes.

»Vielleicht trinkst Du eine Tasse Thee, Roman? Das erfrischt ein wenig. Der heutige Abend ist mir in jeder Hinsicht gelungen, aber unsagbar müde bin ich. Hast Du bemerkt, welche Bewunderung beim Souper meine Kirschen und Erdbeeren erregten? In dieser Jahreszeit und in solcher Fülle! Das war aber auch nicht leicht zu bewerkstelligen. Die Fürstin sagte, so schöne Blumen wie bei mir, hätte sie nirgends gesehen. Aber müde bin ich und möchte bitterlich weinen. Er ist todt, mein Liebling! Nicht einen Augenblick wird er dem Leben wiedergegeben werden. Mein armer, lieber, guter Kakadu! Nie wird er mehr aufstehen, nie ein Wort sprechen! Komme und siehe ihn an, meinen armen Todten!«

So klagend führte die Baronin Roman an den kleinen Glassarg, wo auf weißem Atlas und Spitzen gebettet ein todter Papagei lag. Er hatte rothe Flügel, einen grauen Kamm und sein höckeriger Schnabel war traurig auf den weichen Flaum der Brust gesenkt.

»Ich habe ihn einbalsamiren lassen. Bei meiner Heimkehr lebte er noch; hüpfte in den Zimmern umher, plauderte unaufhörlich, als könne er sich vor Freude nicht fassen. Denn er liebte mich unendlich. Tags darauf erkrankte er plötzlich und nach mehreren Stunden – nach mehreren Stunden –«

Sie konnte nicht länger an sich halten und drückte ihr Spitzentuch an die feuchtgewordenen Augen. Nach einer Weile fuhr sie flüsternd fort:

»Du liebtest ihn nicht sonderlich. Du kanntest ihn aber auch nicht. Ein so liebes, gutes, anhängliches Geschöpf! Mein armer, treuer Kakadu! Sechs Jahre war er der Gefährte meiner Einsamkeit! Er tröstete und zerstreute mich. Darum will ich mich auch von ihm nicht trennen. Er soll hier bleiben in diesem Sarge, von meinem Blicke behütet, schlafen, und in meinem Testament – einmal muß ich doch eines aufsetzen – werde ich bestimmen, daß er – daß er zugleich mit mir –« Thränen erstickten ihre Stimme.

Roman stand vor ihr und der Anblick der zur Beleibtheit neigenden Frau in vornehmer Balltracht, die Thränen über den Tod ihres Kakadu vergoß, reizte ihn unwillkürlich zum Lachen. Doch that sie ihm auch leid.

»Wie kann man nur,« begann er tröstenden Tones, »wie kann man sich eines geringfügigen Grundes halber so grämen! Ich nehme an, daß er ein liebes, sehr liebes Geschöpf war, aber um solche Trauer, um Thränen hervorzurufen –«

Er hielt inne. Angesichts einer weinenden Frau lachen, wäre Mangel an Anstand und Sitte, und doch fühlte er, daß es ihm unmöglich sei, sich länger zu beherrschen.

Indessen hatte die Baronin in Roman's Stimme das gewaltsam unterdrückte Lachen herausgehört. Das Tuch von ihren Augen entfernend, warf sie ihm einen stechenden, flammenden Blick zu.

»Du lachst! Du glaubst, ich sei wahnsinnig! Du begreifst nicht, wie man einen Papagei derart lieb gewinnen kann! Freilich! Du hast gut reden! Du bist glücklich und eine ganze Welt liegt noch vor Dir! Aber ich? Was habe ich? Was ist mein Leben? Was meine Zukunft?«

Hastig trat sie einige Schritte vorwärts, ließ sich auf einen ihrer Lieblingsfauteuils nieder, ergriff eine Tasse Thee und die zweite Roman reichend, fuhr sie zu sprechen fort:

»Setz' Dich her und trink' Thee. Der Gaumen ist mir verdorrt und der Hals ausgetrocknet von der Hitze und dem vielen Reden. Wenn Du ein wenig über mein Leben nachdenken wolltest, Du würdest Dich nicht wundern, daß ich den Tod eines Kakadu so tief beklage. Aber wer denkt heute nach über das Leben eines Anderen, wer blickt in ein fremdes Herz? Jeder lebt für sich, Du ebenfalls. Obgleich Du manches gesehen und gehört, obgleich ich Dir selber manches erzählt habe, glaubst Du, ich sei glücklich. Nicht wahr? Natürlich. Bin ich doch reich, habe Stellung, ein bequemes Leben, Luxus, hohe Verbindungen. Bedarf es dessen noch mehr zum Glücke? Und doch siehst Du, genügt das nicht.«

Mit einer heftigen Bewegung stellte sie die zur Hälfte geleerte Tasse Thee auf den Tisch und ihre kleinen, mit Ringen bedeckten, in Folge der Hitze und der engen Handschuhe ein wenig gerötheten Hände auf den Knien haltend, fuhr sie in hastiger, fast fieberhafter Erregung zu sprechen fort. Roman kenne ihr Familienleben, er wisse, was sie zu ertragen gezwungen sei. Der Baron vernachlässige sie seit undenklichen Zeiten, und nicht nur aus Liebe zur Diplomatie, die allgemein als seine einzige Leidenschaft gilt. Man täusche sich, wenn man glaubt, die Maitressenwirthschaft des Barons sei ihr ein Geheimniß. Doch würde sie sich darüber hinwegsetzen, wenn es nicht solch eine Demüthigung wäre. Kaum sechs Worte wechselt sie tagsüber mit ihrem Gatten, und Beide empfinden nicht das geringste Bedürfniß nach weiterem Gedankenaustausche. Das ist sehr gut so, jedenfalls viel besser, als wenn er sie mit seiner Liebe und seiner Gesellschaft verfolgen würde. Aber nach einem Ersatze sehnt man sich doch; nach irgend einem Ersatze –

»Die Welt, das Vergnügen, Huldigungen, Bedeutung,« versuchte Roman einzuwenden, doch mit einer Bewegung, als verscheuche sie einen lästigen Fliegenschwarm, wehrte die Baronin ab.

»Sicherlich! Natürlich! Ohne diese Behelfe bliebe ja nur ein Sprung von der Brücke ins Wasser oder das Hinunterschlucken eines Päckchens Zündhölzer. Aber es giebt Augenblicke, Stunden und Tage, wo dies nicht genügt, Kinder! Aha! Ein schöner Trost! Nun, Du kennst doch Bruno und Marie – ich abstrahire von ihren Charakteren, von den zügellosen Leidenschaften Bruno's, dem Eigennutz und Leichtsinn Marie's – aber achten sie mich? Lieben sie mich? Sag' doch selber, Roman, Du kennst sie ja ebenfalls, empfinden sie für mich auch nur ein Atom von Liebe oder Achtung?«

Sie streckte ihre kleinen Hände von sich und in ihrem thränenvollen, auf Roman gerichteten Blicke war der Ausdruck einer ängstlichen Frage zu lesen.

Schweigend senkte Roman die Lider. Die Wahrheit war zu offenbar, als daß er hätte lügen können. Weder Liebe noch Achtung empfanden die Kinder der Baronin für ihre Mutter. Er wußte es und kannte auch den Grund. Drum schwieg er.

»Siehst Du, Du schweigst. Du weißt recht gut, daß ich die unglücklichste aller Mütter bin. Uebrigens sehe ich meine Kinder fast gar nicht. Marie ist mit ihrem Gatten in Paris und Bruno – ach! Bruno besucht nicht einmal meine Abende. Er bringt die Zeit lieber im Club zu oder in Gesellschaft jener Ballettänzerin, mit der er sich ungescheut überall zeigt, ohne sich sogar durch meine Anwesenheit stören zu lassen – durch die Anwesenheit seiner Mutter. Was bleibt mir also?«

»Immer dasselbe,« entgegnete Roman, »Stellung, Vergnügen an der Geselligkeit, Befriedigung über gelungene Werke, wie zum Beispiel der heutige Abend –« Traurig schüttelte die Baronin das Haupt.

»So lange man jung ist,« sagte sie in leisem Flüstertone, »ist alles gut. Jeder Schmerz findet seinen Trost, für jede Thräne wird man durch hundert Sonnenblicke entschädigt – aber wenn man so wie ich – nun, ja – einmal muß es doch gesagt werden – die erste Jugend hinter sich hat –«

Nachdem dieses Geständniß gemacht, war der Rubicon überschritten und nun klagte die Baronin ohne Scheu über die Vergänglichkeit menschlichen Glückes. Und in vielen Dingen mußte Roman ihr recht geben. Welt, Vergnügen, Geselligkeit, das sind nur Betäubungsmittel, so wie Wein, Narkotisches und Huldigungen aller Art. Aber in den Augenblicken der Ernüchterung wird das Elend des Daseins noch fühlbarer. Denn ist die Vergänglichkeit alles dessen, was wir mit dem Aufgebote unserer ganzen Kraft erhalten möchten, nicht das wahre Elend? Alles vergeht, Jugend, Menschen, Gefühle. – Ist es doch gar nicht so lange her, daß die junge, schöne und reiche Baronin Lamoni, von ihrem Glücke berauscht, als glänzender Stern am Horizont der Residenz aufgestiegen war – und doch, wie vieles hat sich seit damals verändert! Ihre Jugend ist vorüber, die Menschen, die für einen Blick aus ihren Augen durch Feuer und Wasser gegangen wären, in deren Gesellschaft die Stunden wie auf Schmetterlingsflügeln dahinflogen, wo sind sie? Verschwunden wie Schatten! Tout passe! Das ist ein schreckliches Wort.

Zwar treten neue Menschen an Stelle der alten, aber das ist nicht mehr dasselbe. Ehemals strebte man nach ihrer Gunst, jetzt muß sie der Welt nachjagen, muß sich anstrengen, um nicht beiseite geschoben zu werden, um noch ein Stückchen dieses Lebens erhaschen, sich einen Augenblick an ihm berauschen zu können. Das ermüdet, regt an zum Nachdenken.

Und heute mehr noch als sonst. Der Tod des Kakadu und Roman's bevorstehende Abreise betrübten sie ungemein. Der Papagei war ihr ein wahrer Trost, weil er das einzige ihr aufrichtig zugethane Wesen war.

Ununterbrochen in Gesellschaft zu sein, ist nicht möglich; auch wird es ihr immer beschwerlicher. Da kommen sie denn, erst die einsamen Stunden, dann die einsamen Tage. Da muß man jemanden haben, von dem man geliebt wird – dieser jemand war der Kakadu. Nun ist er todt. Dahin!

Roman wiederum hat sie liebgewonnen wie einen – einen – Da ist er wieder, der fatale Rubicon! Eigentlich wollte sie sagen »wie einen Sohn«, doch wollte das Wort nicht über ihre Lippen. War auch Bruno bedeutend älter, so ging das nichtsdestoweniger nicht an. Unmöglich! So liebte sie ihn denn wie einen – Bruder. Und nun wird er verreisen, und lebt er auch, für sie wird er durch die Entfernung zu existiren aufhören. Tout passe!

Der Vogel zerstreute sie. Wie wird sie nun allein die rheumatischen Schmerzen ertragen, die sie so häufig quälen? – Eine Gesellschafterin nimmt sie nicht ins Haus; nicht um die Welt. Sie kann diese langweiligen, neidischen Geschöpfe, die sich immer auf das Schnobern und Horchen verlegen, nicht leiden.

Irene aus Darnówka hätte sie gern um sich haben wollen; da jedoch das Mädchen sich geweigert hatte, ist es so besser geworden. Jetzt ist es schon so weit mit ihr gekommen, daß ihr an jedem Morgen vor der Länge des Tages graut. – Ach, wie arm sie ist!

Sie verstummte. Mit einem Gefühle, das halb Theilnahme, halb Neugierde war, betrachtete Roman seine Freundin. Vor seinen Augen hatte sich eine Wandlung vollzogen, die nun ihr Ende erreicht zu haben schien. Er traute seinen Augen kaum. War das die Baronin Clara Lamoni, die vor mehreren Stunden an seinem Arme durch die tageshell erleuchteten Salons geschritten war? Die strahlende, lächelnde, Huldigungen entgegennehmende Frau, deren Brust von Freude und Triumph gehoben wurde? Großer Gott! War sie das?

Sie saß zusammengekauert in einem der tiefen, niedrigen Lehnstühle. Die weiße Mantille war von ihren Schultern hinuntergeglitten und ließ Hals und Arme frei. Diese zwischen Atlas und Schwanenflaum hervorlugende Nacktheit machte angesichts der Gedrücktheit und Traurigkeit der ganzen Erscheinung einen besonders unangenehmen Eindruck. Das Tuch, mit dem sie die feuchten Augen getrocknet, hatte das glänzende Email und die Rosen ihres Gesichtes an mehreren Orten beschädigt und die gelbe zum Vorschein kommende Haut bildete schmutzige, runzelige Flecke. Um Kinn und Wangen lagerten zahlreiche Runzeln. Die Lider, vom Weinen und Wachen geröthet und geschwollen, hoben sich nur mit Schwierigkeit von den erloschenen Augen, deren Pupillen von einem Netze rother Aederchen umringt waren.

Als sie zu sprechen aufgehört hatte, senkte die Baronin das Haupt tief auf die Brust hinab. Die in Bewegung gerathenen Straußfedern nickten über ihrer Stirn und sie glich in diesem Augenblicke selbst dem todten Kakadu.

Roman empfand tiefes Mitleid mit ihr. Mit der Zärtlichkeit eines Sohnes küßte er ihre Hände und murmelte Trostesworte, obgleich er wohl wußte, daß für dieses Elend kein Trost vorhanden.

Elend? Die Baronin Clara Lamoni und Elend? Freilich und die Erkenntniß, daß er hinter dem Schleier, hinter der Maske des Lebens das wahre Antlitz desselben erblickt hatte, beherrschte bei Roman jedes andere Gefühl. Eine geheimnißvolle, beunruhigende, grausame Wahrheit! Die reiche, glückliche, glänzende Weltdame war verschwunden und an ihrer Stelle saß ein krankes, in sich zusammengesunkenes, armes, altes Weib!

Die Wahrheit des Lebens? War es die Wahrheit, daß das Elend überall vorhanden, daß es selbst hinter den reizendsten chinesischen Wandschirmen kauert und den Menschen unvermuthet auf den Rücken springt?

Eine Viertelstunde später war Roman bereits auf dem Heimwege. Auf den elektrisch erleuchteten Straßen wogte noch bewegtes Leben. Es war die Stunde, um welche man die Clubs, modernen Restaurants, öffentliche und Privatbälle zu verlassen pflegt. Daher wimmelte es von großen und kleinen, pfeilgeschwind dahinsausenden Schlitten, zwischen denen die Räder schwerer Equipagen knisternd über den hartgefrorenen Schnee rollten. Hin und wieder sah man eilig vorüberschreitende Fußgänger, hinter hellerleuchteten Fenstern die Schatten fröhlich tanzender Paare. Dumpfe, undeutliche Musikklänge, zwischen denen hin und wieder ein schriller Ton vernehmbar, fielen in den lauten Straßenlärm und vermischten sich mit demselben. In endlosen Reihen brannten die Laternen mit ihrem weißen und rothen Licht. Der Wind wirbelte den Schnee von den Bäumen und Dächern empor, sauste über die Straße, pfiff um die Häuser und peitschte die Gesichter der Vorübergehenden.

Pfeilgeschwind flog der kleine Schlitten dahin, und Roman, in seinen Pelz gehüllt, dachte, er selbst sei auch nur ein Tropfen in diesem, in den Adern eines fieberhaft erregten Organismus rollenden Strome. Bei Tag und bei Nacht, sonder Rast und Ruh' gährt dieser Strom und fluthet – wohin? In welchen Hafen? Wo mündet er?

Und die Worte Domunt's fielen ihm ein: »Macht und Genuß sind die Achsen, um welche die Welt sich dreht, und immer größer, größer, größer wird das Bedürfniß danach.«

Er war traurig. Der Gedanke an die Wandlung, die er vor sich gesehen, ließ ihm keine Ruhe. Sind solches die Häfen, in welche der gährende, reißende Strom münden wird?

Und er selber ein Tropfen dieses Stromes! Und wieder glaubte er Domunt's Stimme zu vernehmen: »Was kann man thun? Das ist das Leben!«

»Das Leben!« wiederholte er. »Das Leben! Ja, aber wozu lebt man denn eigentlich?«

Der Schlitten bog in eine Straße, in der, da sie etwas enger, das Getöse und Wagengerassel noch lauter dröhnte als bisher. Roman blickte in die Höhe. Ueber dem ganzen lärmenden Straßengetriebe wölbte sich in endloser Tiefe ein dunkler, fast schwarzer Himmel, an dem die sehr bleiche Mondscheibe glänzte.

Es war, als ob aus unendlicher Weite ein sanftes, ruhiges Auge auf die Erde blicke. Die lautlose Stille und die unsterbliche Frische, die dieses Auge umgaben, schienen die unermeßlichen, nebelhaften Höhen zu beherrschen. Nur hie und da sah man das Flimmern eines Sternes.

In diesem Augenblicke empfand Roman, daß sich ihm noch eine andere Wahrheit enthülle. Doch war sie weit, und ihm nicht verständlich. Er fühlte ihre Nähe, schon glaubte er sie zu erhaschen, doch bald entwand sie sich ihm, und ihre Umrisse waren seinem Geiste so unklar, wie bleich im Verhältnisse zu den Gaslaternen das Nachtgestirn des Himmelsgewölbes.


 


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