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III

Als Roman erwachte, fluthete das helle Sonnenlicht durch das Zimmer, am Bette saß Herr Romuald und betrachtete seinen Neffen mit dem ihm eigenen, halb gutmüthigen, halb durchdringenden Blick. Großgewachsen und breitschultrig, machte er in seinem grauen Anzuge den Eindruck einer urgesunden, kräftigen Natur, deren Heiterkeit von keiner übertriebenen Empfindlichkeit getrübt wurde. Im hellen Lichte der Morgensonne jedoch sah man, daß tiefe Falten seine Stirn durchfurchten und diese Falten im Vereine mit einer Vertiefung, die sich seine mageren Wangen entlang zog, störten den ursprünglichen Eindruck und verriethen, daß Schmerz und Leid dieser Gestalt nicht fremd geblieben waren.

»Guten Morgen, Langschläfer! Eine Viertelstunde schon sitze ich hier und frage mich: Wecken oder nicht wecken! Nun bist Du ohne mein Zuthun erwacht, und das ist gut! Ich bin gekommen, Abschied von Dir zu nehmen und Dich gleichzeitig um Entschuldigung zu bitten, daß ich Dich mehrere Stunden der Gnade und Ungnade der Weiber überlassen muß. Denn Stephan ist auch nicht zu Hause. Was kann man thun? Wir haben ein wichtiges Geschäft begonnen und dasselbe erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Wir haben Darnówka getheilt und bauen nun –«

Roman, der im Anziehen begriffen war, blieb, das Handtuch über den Arm geworfen, wie angewurzelt vor dem Onkel stehen.

»Du parcellirst Darnówka, Onkel?« rief er. »Also verkaufst Du das Gut?«

»Verkaufen?« lachte der Alte. »Ich? Darnówka? Aber Herz, was fällt Dir denn nur ein? Ha, ha, ha, ha! Was würde ich einfacher Mann auf der Welt machen, wenn ich das Stückchen Erde nicht hätte? Ha, ha, ha! Höhere Menschen, die können in der Welt draußen goldene Schmetterlinge fangen. Ich aber – was kann man thun? – kann nur auf meiner Erdscholle etwas sein und leisten. Und Stephan ist so wie ich. Beide sind wir Knechte Gottes und erfüllen nach Möglichkeit Gottes Gebote. Was kann man thun? Zu großen berühmten Leistungen taugen wir nicht. Wir parcelliren Darnówka, um die einzelnen Theile zu verpachten.«

»Und Du, Onkel und Stephan mit Euerer Vorliebe für die Landwirthschaft?«

»Wir behalten den Löwenantheil. Sei unbesorgt, man thut sich selbst kein Unrecht. Ein Theil ist für Leo bestimmt, wenn er die Schulen und vielleicht auch eine höhere Lehranstalt beendet haben wird, und die beiden anderen – was kann man thun? – sollen rechtschaffenen Menschen ein Stückchen Brot sichern. Was kann man thun?«

Seine feurigen Augen schweiften mit einem sinnenden Ausdrucke ins Weite.

»Ist das ein gutes Geschäft, Onkel?« fragte Roman.

In den Augen des Alten flimmerte es wieder wie ein Lächeln, aber seine Stimme klang ernst, als er erwiderte:

»Ich kann Dir versichern, mein Herz, daß es ein gutes Geschäft ist. Selbst wäre ich nicht darauf gekommen. Es ist Stephan's Idee. Wenn ich noch Schulden hätte, wäre sie unausführbar. Aber die sind, Gott sei es gedankt, bezahlt. Was kann man thun? Das Geschäft ist gut.«

Roman antwortete nicht. Mit einer Bürste mit Silbergriff über sein dichtes Haar fahrend, dachte er, wenn dieses Geschäft ebenso gut sei wie jenes, welchem Herr Romuald seine Schulden verdanke, so würde es zur finanziellen Sicherstellung der Zukunft seiner Söhne nicht sonderlich beitragen. Und doch, wenn der Onkel damals sich von der Erwägung hätte leiten lassen, ob das Geschäft für ihn gut sei, was wäre aus Roman geworden und vor allem, wie wäre sein Name befleckt und fluchbeladen! Von diesem Gedanken ergriffen, warf Roman die Bürste auf den Tisch, das Handtuch auf die Erde und drückte, tief sich neigend, auf die dunkle, hartgearbeitete Hand seines Oheims einen langen, innigen Kuß.

In demselben Augenblicke wurde er von einem kräftigen Arm umschlungen und fühlte auf der Stirn die Berührung eines struppigen Schnurrbartes.

Nachdem sich beide Männer gleichzeitig emporgerichtet, blickten sie einander lange und tief in die Augen. Der alte Darnowski brach der Erste das Schweigen.

»Du gleichst Deinem Vater, ungemein gleichst Du ihm.« Als er jedoch in den Zügen seines Neffen eine gewisse Verwirrung bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Das Aeußere und das Wesen hast Du von ihm; den Wuchs, das Lächeln, die Bewegungen und auch die Treuherzigkeit, die es bewirkte, daß man ihm alles verzeihen mußte. Was kann man thun? Wenn ich Dich ansehe, taucht meine ganze Jugend vor mir auf – seine und meine Jugend – sie war so schön, so fröhlich und rein, bis – bis – Was kann man thun?«

Verwirrt hielt er inne. Die Runzeln auf seiner Stirn und die längs der Wange sich hinziehende Falte schienen tiefer geworden und sein Antlitz drückte große Trauer aus.

Nach einer Weile jedoch rief er lachend, während sein Blick die feinen Toilettenrequisiten seines Neffen streifte:

»Nicht ausschließlich das Aeußere hast Du von Deinem Vater, was kann man thun? Nein, nicht ausschließlich.«

»Was sonst, Onkel?« fragte Roman, sich von dem Schranke, dem er einen Anzug entnahm, weg- und dem Onkel zuwendend.

Doch der Alte schenkte der Frage keine Aufmerksamkeit.

»Reizende Dinge,« sagte er, auf die umherliegenden Gegenstände weisend, »allerliebstes Spielzeug – ein ganzes Galanteriewaarengeschäft! Wie hübsch die Sachen sind, wie nett, wie glatt – sie thun dem Auge wohl und der Hand – Nein, was doch jetzt vorgeht in der Welt! Alles, was man berührt, worauf der Blick fällt, und was man im Gebrauche hat, alles eitel Gold! Die Midassage – was kann man thun? – die Midassage ist zur Wahrheit geworden. Und gut ist's! Drei Gesetze giebt es, die dem höheren Menschen in der heutigen Welt zur Richtschnur dienen sollen. Das erste: Sorge für Dich; das zweite: Wisse, was Dir von der Welt gebührt; das dritte: Suche, was Dir gebührt, zu erzwingen, ohne auf wen oder was Rücksicht zu nehmen. Was kann man thun? Ohne jegliche Rücksicht –«

»Du hast den Gegenstand des Gespräches geändert, Onkel,« sagte Roman, in dessen Zügen sich eine gewisse Erregung wiederspiegelte, »aber nur scheinbar. Du denkst an dasselbe und ich verstehe Dich vorzüglich. Aber Du bist im Irrthum. Die Liebhabereien meines Vaters nahmen ein für ihn und Dich trauriges Ende. Sein eigenes und obendrein fremdes Vermögen verlieren, ist leichtsinnig und unpraktisch. Ich hingegen gelte allgemein für praktisch und bestreite alle meine Ausgaben, ohne meine Zukunft oder die eines Anderen im geringsten zu gefährden. Ich hoffe auch, daß, wenn Du mich näher kennen lernen wirst –«

»Aber ich glaube Dir, mein Herz,« rief der Alte lächelnd und die Arme wie zur Abwehr emporhebend. »Ich glaube Dir und weiß es sogar. Was kann man thun? Du bist praktisch, giebst nicht mehr aus als Deine Mittel gestatten, gefährdest weder Deine Zukunft, noch diejenige Anderer. Das weiß ich, finde es sehr lobenswerth und es freut mich sogar. Nun siehst Du, Herz, was kann man thun? Im Grunde ändert es nichts an der Sache.«

»Warum nicht?«

»Weil das praktische oder leichtsinnige Verwirthschaften seiner Einkünfte von Auffassung, Temperament und Umständen abhängt, und die Hauptsache bleibt doch – was kann man thun? – die Hauptsache ist – wie soll ich nur sagen – ist –«

Er stotterte; in seinen feurigen, unverwandt auf Roman gerichteten Augen flimmerte es, die Falten auf seiner hohen Stirn waren unbeweglich.

»Die Pastete!« schloß Roman erröthend den Satz des Onkels.

»Ja, ja, Herz!« rief der Alte mit ungewöhnlicher Heiterkeit. »Ja, ja! Du hast es getroffen, als hättest Du in meinen Gedanken gelesen! Ha, ha, ha! Was kann man thun? Das ist es eben. Die Pastete. Und ob man dieselbe auf einmal kauft und Vermögen und Zukunft dafür hingiebt oder stückweise, vernünftig und praktisch, das ist nur ein Unterschied im Verfahren. Das Ziel jedoch, mein Herz, bleibt in beiden Fällen dasselbe und darin – was kann man thun? – mein Herz, darin besteht eben die Aehnlichkeit.«

Er hatte zu lachen aufgehört und wiederholte ernst und fast streng:

»Darin besteht die Aehnlichkeit.«

Dann verabschiedete er sich von Roman auf die Dauer mehrerer Stunden. An der Schwelle wandte er sich nochmals um.

»Wenn Dich die Gesellschaft der Weiber langweilt, findest Du in Stephan's Zimmer Bücher. Um Zeitungen wende Dich an Irus oder Bronia.«

Mit diesen Worten entfernte er sich.

Halb belustigt, halb unzufrieden, stand Roman noch eine Weile in der Mitte des Zimmers.

»In der Hauptsache ist es dasselbe,« wiederholte er. »Nur das Verfahren ein anderes. Die Pastete. Vielleicht hat er recht. Ein kluger Alter!«

Plötzlich vernahm er eine jugendliche, aus dem Garten rufende Stimme:

»Bitte zum Frühstück, Cousin, ich bitte zum Frühstück!«

Mit einem Satze war Roman am Fenster und sich hinausbiegend, gewahrte er unter einer breiten Linde zwischen Blumenbeeten Bronia, die, eine Harke in beiden Händen, zu ihm hinaufschaute.

»Ich kündige Dir Krieg an, Bronia. Ich bin kein Cousin; wir sind Bruderkinder, das ist so, als wäre ich Dein Bruder, und ich verlange, daß Du mich bei meinem Namen nennst.«

Verwirrt senkte die Kleine das Köpfchen.

»Sie sind mir noch fremd!« klang es leise unter den goldenen Löckchen hervor.

»Das thut nichts. Rufe nur: Roman, komm' zum Frühstück! Sonst gehe ich nicht vom Fleck.«

»Der Cousin hat recht, Bronia, und Du sollst ihn beim Namen nennen,« erklang in diesem Augenblicke nicht laut, aber deutlich vernehmbar, eine angenehme, reine Frauenstimme.

Beim Tone dieser Stimme empfand Roman ein eigenartiges, von Freude und Trauer gemischtes Gefühl. Es war die Erinnerung an den Frühling seines Lebens, die in seinem Herzen Einzug hielt.

Nach einer Weile des Schweigens sagte das zwischen Blumen stehende Kind:

»Nun, meinethalben – Bitte, Roman, komm' zum Frühstück!«

Im Vorzimmer traf Roman mit einem schlanken jungen Mädchen zusammen, welches, durch eine andere Thür hereinkommend, einen großen mit Milch gefüllten Glaskrug in beiden Händen hielt. Sie trug ein grau- und blaucarrirtes Kleid und über demselben eine weiße, vom Halse fast bis an die Füße reichende Schürze.

»Guten Morgen, Cousin,« sagte sie freundlich.

»Guten Morgen, Cousine,« erwiderte Roman, »aber der Morgen wäre besser, wenn Du diesen Krug nicht in beiden Händen hieltest.«

»Magst Du keine Milch, Cousin?«

»Im Gegentheile. Aber dann könntest Du mir die Hand zum Gruße reichen.«

Sie lachte.

»Das werde ich bald thun. Bitte nur, mir zu folgen.«

Sie traten in das Speisezimmer, und bald darauf saß Roman frühstückend neben der Tante. Sein Blick jedoch folgte Irene, die Kaffee einschenkend, hier etwas reichend, dort anderes bringend, fortwährend beschäftigt war. Ihre Bewegungen und Züge waren äußerst ruhig, und wenn der sinnende Ausdruck ihres Antlitzes einem Lächeln wich, fragte man sich überrascht, wieso zu einem so ruhigen Wesen ein so sonniges Lächeln komme und auch, warum es so rasch wieder verschwinde?

Mittlerweile erzählte Frau Pauline dem Neffen, der einst ihr Liebling gewesen, wie sie in den letzten zehn Jahren den Rest ihrer Gesundheit eingebüßt, wie sie an Migräne und Schlaflosigkeit leide und zu jeder wirthschaftlichen und häuslichen Thätigkeit untauglich geworden sei. Ihr gelbes Gesicht und die Magerkeit ihrer Gestalt zeugten für die Wahrheit ihrer Klagen. Doch Irene unterbrach dieselben.

»Tantchen verleumdet sich ein wenig. Als vor drei Jahren Stephan schwer krank daniederlag, leistete sie förmliche Wunder an Ausdauer. Keiner von uns war so wachsam, so geschickt, niemand vermochte so viele schlaflose Nächte zuzubringen.«

Ein freudiger Ausdruck erglänzte in Frau Paulinens blassen Augen, und sie erhob dieselben zu der schlanken Mädchengestalt, die, eine Hand zärtlich auf ihre Schulter legend, neben ihr am Tische stand.

»Ach, ach, ach! Was da, was da! Einmal ist es geschehen, aber Du suchst mich immer zu trösten, Irus!«

»Auch ich erinnere mich noch,« sagte Roman, »welch gute, liebe Krankenpflegerin die Tante ist.«

»Denkst Du das?« fragte sie hocherfreut. »Wirklich? Ach, wie schwer krank warst Du damals! Ach, ach, ach, wie lange das her ist! Ja, ja! Nicht immer war ich so untauglich wie heute. Romuald denkt ja noch, wie wir zusammen arbeiteten, aber jetzt –«

Und wieder eine endlose, mit Ausrufen der Zufriedenheit gemischte Klage.

»Doch das thut nichts. Wenn man solche Familie hat, Romuald ist der beste Gatte unter der Sonne, und Irus, ach, Irus ist mein Arzt und mein ganzer Trost! Obgleich ich krank bin und mir vieles fehlt, ach, ach, ach! Wie vieles danke ich Gott doch täglich für mein Glück!«

Roman dachte, er möchte dieses bescheidene, thätige, sinnende Mädchen, das er als fröhliches Kind gekannt und geliebt, gar zu gern näher kennen lernen. Eigentlich war sie damals auch nicht so recht lustig gewesen. In diesem Kinderköpfchen lagen Keime ernster und sogar trüber Gedanken. Er hätte doch wissen mögen, wie sich dieselben entwickelt hatten.

»Cousine Irene,« begann er, sich zu dem jungen Mädchen wendend, »denkst Du noch, wie wir vor Jahren im Garten Plutarch's Biographien berühmter Männer lasen, und welchen Eindruck sie auf Dich machten?«

Ein leises Roth färbte Irene's Wangen, doch verschwand es sofort.

»Vor zwei Jahren,« erwiderte sie, »las ich das Buch noch einmal dem Onkel vor.«

»Denn Irus ist Papas Vorleserin,« plauderte Bronia. »Mein Lesen mag Papa nicht; er sagt, ich jage wie eine Estafette.«

»Das kann ich mir vorstellen,« lächelte Roman.

»Gar nichts kannst Du Dir vorstellen, Romek,« rief die Kleine. »Mama lese ich vor, Mama liebt mein rasches Lesen.«

»Im Eifer des Gefechtes hast Du mich endlich beim Namen genannt. Das ist sehr gut.«

»Was ist da Gutes daran? In einigen Tagen fährst Du ans Ende der Welt und aus ist es mit unserer ganzen Bekanntschaft.«

»Warum in einigen Tagen?« neckte Roman. »Vielleicht bleibe ich einige Wochen.«

»Das ist einerlei,« erwiderte sie.

»Wieso? Einige Tage und einige Wochen sind dasselbe?«

»Natürlich.«

Sie wollte noch etwas sagen, hielt aber inne. Nach einer Weile jedoch rief sie, leise kichernd und Roman mit einem Seitenblicke streifend:

»Der Australier wird immer ein Australier bleiben!«

»Hast recht,« bestätigte Roman mit plötzlich umwölkter Stirn.

Er sah auf Irene.

Sie stand am Tische, ein Glas Milch in der Hand, die Lider gesenkt und ihren Mund umspielte ein Lächeln, das jedoch sofort wieder verschwand. Als sie, das Auge emporhebend, dem Blicke Roman's begegnete, trat sie rasch an das Büffet und begann etwas aus demselben herauszunehmen. Ohne das Haupt umzuwenden, sagte sie in scherzendem Ton:

»Höre auf, Dich mit dem Cousin zu streiten, Bronia, und gehe in unser Zimmer. Ich werde Dir bald nachfolgen.«

»Irene giebt Bronia Unterricht,« flüsterte Frau Pauline ihrem Neffen zu. »Wir wollten eine Lehrerin engagiren, denn wir möchten ja nicht, daß sich Irus überanstrenge. Gott behüte! Aber sie ließ es nicht zu. In einemfort wiederholte sie: ›Und was werde ich denn thun?‹«

»Also Wirthschafterin, Vorleserin, Erzieherin!« dachte Roman. »Und immer in diesem weltvergessenen Winkel! Ob ihre Ruhe wohl natürlich oder nur erkünstelt ist? Weiß sie es nicht, daß sie schön, und daß auch das Leben schön ist?«

Nach dem Frühstücke verließen die Mädchen das Zimmer und Roman hätte gern ein Gleiches gethan.

Der weißschimmernde Pfad, welcher von dem Hofthor durch die Felder bis an den Rand des Fichtenwaldes sich zog, lockte ihn mit magischer Kraft.

Doch Frau Pauline lud den Neffen ein, neben ihr platzzunehmen, und so folgte er denn der freundlichen Aufforderung.

Die Hausfrau selbst saß am Fenster und vor ihr auf einem Tischchen lag ein Kissen mit zahlreichen Stecknadeln, zwischen welchen ein Gewebe von Fäden gezogen war. Durch diese Fäden schlang Frau Pauline mit geübter Hand ein gleichfalls mit Garn umwickeltes Schiffchen.

»Siehst Du, Roman – diese Arbeit ist das Einzige, was ich leisten kann – ach, ach, ach! Ich liebe sogar diese Beschäftigung. Gehen kann ich nicht, im Hauswesen vertritt mich Irus. Ich fühle mich so elend und überflüssig, daß ich manchmal den Tod herbeisehne. Aber dann denke ich wieder – ach, ach, ach! Sie sind Alle so gut zu mir, so nachsichtig, ich liebe sie so, ich will sie nicht verlassen. Und der Tod ist eine Trennung.«

»Wozu an so Düsteres denken,« tröstete Roman.

Er sah, daß das Kleid der Tante aus sehr billigem Stoff, aber mit Spitzen ihrer eigenen Arbeit reich aufgeputzt war. Durch ihr hellblondes, sorgfältig gekämmtes Haar zogen sich Silberfäden; die ganze Erscheinung, nicht ohne Zartheit, machte einen anmuthigen, aber auch ein wenig komischen Eindruck. Es war eine Mischung von Prätention und Sanftmuth, ein ewiges Klagen und doch eine Freude an ihrem Leben, etwas Unharmonisches, als wenn zwei Wesen, zwei Herzen, zwei Zeitmomente in einer Person vereint wären. Ihre Sprache war langsam, wie träge tröpfelndes Wasser. Sie erzählte Roman, wie öde und schläfrig die ganze Gegend jetzt sei. In der Nachbarschaft wohnten rund umher nur alte Leute; höchst selten finde man einen jungen Mann oder Einen in den Mitteljahren. »Du kennst doch mehr oder weniger die Nachbarn? Die Drzewieckis zum Beispiel haben drei Söhne. Ungefähr in Deinem und Stephan's Alter. Lucian ist in Asien und macht dort glänzende Carrière; Aurelian, ein Naturforscher, lebt in Deutschland; Felix ist Beamter geworden; ich glaube gar in Kurland. Die armen Eltern haben ein so einsames Alter als wären sie kinderlos. Nach ihrem Tode werden die Söhne das Gut verkaufen oder auch wird der Reichste unter ihnen es behalten und den Brüdern ihren Theil auszahlen, so wie bei den Domunts. Marcel ist jetzt alleiniger Besitzer von Kaniówka, doch jagt er in der weiten Welt Millionen nach.«

»Er hofft seine alten Jahre in Kaniówka zuzubringen,« schob Roman ein.

»Ach, ach, ach! Wer von uns weiß, ob er diese Jahre erreicht,« seufzte Frau Pauline. »Von Marcel's Brüdern hast Du schon gehört? Was für eine Katastrophe hat Casio getroffen? Er wird Dir das selbst erzählen oder Stephan. Ich kann nicht. Es ist eine fürchterliche Geschichte – ach, ach, ach! Was doch jetzt vorgeht in der Welt! Den jüngeren Brüdern soll es gut gehen.«

»Ziemlich gut,« bestätigte Roman.

»Nun, siehst Du! Allen, die sich Mühe geben, gelingt es, obgleich manchmal auch, wie mit Casio Domunt, fürchterliche Dinge geschehen. Die Niecinskis sind auch nicht sehr zufrieden. Du erinnerst Dich ihrer?«

»Vorzüglich. Wo sind sie jetzt?«

»Mein Lieber, bin ich denn im Stande, das alles im Kopfe zu behalten? Irgendwo – Ich weiß es nicht, aber weit weg. Es geht ihnen nicht besonders. In den Briefen an den Bruder klagen sie.«

»Ist also Einer zu Hause geblieben?«

»Bis nun; doch rüstet er sich ebenfalls zur Abreise. Man bietet ihm einen vorzüglichen Posten mit bedeutendem Gehalte. Er soll Verwalter riesengroßer Besitztümer am Weißen Meere werden. Er verpachtet daher sein Gut und fährt fort.«

»Aber warum denn? Wenn er bis nun –«

Frau Pauline hob ihren mageren, gelben Finger in die Höhe.

»Der Gehalt ist groß, mein Lieber, sehr groß, größer als die Einkünfte seines eigenen Gutes, von denen er doch nur ein Drittel behält. In den jetzigen Zeiten ist doch Geld –«

»Das ist wahr,« bestätigte Roman, und gleich darauf fragte er: »Und Rosnowskis? Bohdan, höre ich, ist jetzt in Zawróæ. Wie geht es ihm und Siegmund?«

»O, denen geht es gut, sehr gut! Bohdan hat Carrière gemacht. Ein lieber, vernünftiger Mensch. Selbst Romuald und Stephan haben ihn gern und schätzen ihn höher als die Anderen.«

»Als wen zum Beispiel?«

»Nun, als Marcel Domunt oder den Niecinski, der jetzt sein Gut verläßt und ans Weiße Meer geht. Romuald und Stephan haben ihre eigenen Begriffe und Ueberzeugungen. Sie sind sehr ehrenhaft, sehr edel. Ach! Wie edel sie sind!«

»Das weiß ich. Aber warum schätzen sie Rosnowski höher als Marcel Domunt?«

»Ja, siehst Du, sie behaupten, Marcel lebe nur für das Geld, während bei Rosnowski das Wissen viel mehr gelte als das Geld.«

»Das ist freilich ein großer Unterschied,« gestand Roman, und unmittelbar darauf fügte er hinzu: »Ich möchte Bodhan wiedersehen.«

»Ach, ach, ach! Wie lieb er ist und wie vernünftig,« rief Frau Pauline ganz entzückt. »Nur, weißt Du, Roman, es ist sonderbar. Er hat einen kleinen, ganz kleinen, winzig kleinen Sparren –«

»Einen Sparren? Bohdan? Aber das war doch ein tüchtiger, logisch denkender Kopf –«

»Ach, ach, ach! Ein vorzüglicher Kopf! Romuald und Stephan behaupten dasselbe – und doch hat er einen kleinen Sparren –«

»Aber welchen?«

»Bezüglich seines Hundes.«

»Was Du nicht sagst, Tante?«

»Aber ja doch – er hat einen Hund – Swój heißt er – übrigens wirst Du es selber sehen, denn Bohdan wird wohl an einem der nächsten Tage bei uns sein – doch ich will den Bericht über die Nachbarn zu Ende führen –«

Und sie erzählte ziemlich ausführlich, wie die meisten fortgewandert seien, um draußen in der Welt ihr Glück zu suchen.

»Wenn sie hier bleiben und ihre Güter untereinander theilen wollten, könnten sie von den Erträgnissen so kleiner Besitzthümer nicht gut leben – Romuald und Stephan sagen zwar, das sei nicht wahr – ich kann darüber nicht urtheilen – aber ich wundere mich nicht. – Wozu haben sie so lange gelernt, wenn sie nichts erreichen sollen? – Auch Stephan könnte zu etwas kommen, wenn er wollte, aber er will nicht. Das Herz will mir manchmal brechen, wenn ich sehe, wie er zugrunde geht – denn heißt das gelebt? Ach, ach, ach! Vereinsamt, in Sorgen, verrichtet Bauernarbeit, bewegt sich ausschließlich unter Bauern – denn andere Gesellschaft findest Du hier nicht – absolut nicht. – Keine Zerstreuung, kein Vergnügen. – Was Wunder, daß jene nach einem anderen Leben streben? Bin ich doch alt und krank, und wenn ich könnte, scheint mir, ich thäte dasselbe. Aber Stephan will nicht.«

Sie war so ins Klagen hineingerathen, daß es mehrere Minuten dauerte, bis ihre Gedanken eine andere Richtung einschlugen. »Obgleich, weißt Du, Romek, es ist doch andererseits ein Glück für eine Mutter, wenn sie einen erwachsenen Sohn bei sich hat, wenn sie über seine Arbeit, seinen Verstand, seinen Edelsinn sich immer aufs neue freuen kann. Ach, die arme Domunt! Wie häufig klagt und weint sie ob ihrer Vereinsamung! Zwar sind drei Töchter im Hause! Doch ist das eine Freude? Sie welken, werden alt und an das Heiraten ist nicht zu denken. – Höchstens, wenn jede von ihnen, wie Romuald sagt, einen Hahn nehmen wollte. – Bei der alten Drzewiecka ist es ebenso. – Dann triumphire ich: Mein Sohn ist bei mir, ich bin eine glückliche Mutter und das Haus, in dem meine Bronia aufwächst, ist Gott sei Dank nicht verlassen.«

Sie strahlte vor Freude. Nach einer Weile des Schweigens jedoch seufzte sie wiederum:

»Ach! Aber Stephan fühlt sich elend – sehr elend. – Er sagt es zwar nicht, aber kann es anders sein? Und doch will er nicht fort – er will nicht.«

Sie verstummte, verfiel in Sinnen und die Züge ihres Antlitzes drückten großes Erstaunen aus. Vielleicht suchte sie Einigkeit in den Zwiespalt ihrer Gedanken und Gefühle zu bringen und wunderte sich, daß ihr dieses nicht gelingen wolle.

Roman hatte den Blick zu Boden gesenkt und schwieg gleichfalls. Das Gespräch, das ihn anfänglich gelangweilt, hatte er späterhin mit steigendem Interesse geführt.

Die Menschen, deren Namen die Tante erwähnte, waren ihm wohlbekannt und er erinnerte sich auch ihrer vorzüglich. Hatten sie doch alle zu jener Gruppe von Don Quichotes und Weltverbesserern gehört, an deren Spitze Stephan und er selbst gestanden.

Wie Schatten zogen ihre sympathischen Gestalten an Roman's innerem Auge vorüber. Wo waren sie, diese einst wie Brüder geliebten Schatten, wo das alles, was sie einst ihr Eigen genannt? – Alles Seifenblasen! Eine Frage der Tante weckte ihn aus seinem Nachdenken.

»Wie meinst Du, Roman, wird Irene wohl Bohdan's Antrag annehmen?«

»Das kann ich nicht wissen. Cousine Irene ist mir doch jetzt vollkommen fremd. Ist es denn schon sicher, daß Bohdan um sie wirbt?«

»Aber natürlich! Bohdan litt auch an einem Fieber, das er sich in einem sumpfigen Theile des Waldes, wo er Oberförster ist, zugezogen hat. Der Arzt verordnete Klimawechsel; so nahm denn Bohdan einen mehrmonatlichen Urlaub und kam her, um sein Fieber loszuwerden und sich eine Frau zu holen. Seine Schwester hatte das schon früher erzählt, und er selbst es dann zu Casio Domunt geäußert. Als Casio nun während eines Besuches in Darnówka diese Worte wiederholte, hatte Irene gelacht und gesagt: »Herr Rosnowski versteht den Handel. Unserer Gegend will er das Fieber zurücklassen und als Ersatz eine lebende Seele von hier fortnehmen!« Ich weiß nicht recht, was Irus damit meinte, aber seit Bohdan ihr einmal bei den Domunts begegnet, werden seine Besuche immer häufiger und Alle sehen, daß sie ihr gelten.«

»Und sie?« fragte Roman.

»Irene! Sie ist höflich, wie gegen Alle – aber was sie denkt und fühlt, weiß man nicht. Sie ist ja nicht mittheilsam. Vielleicht wird sie seinen Antrag annehmen. Ganz sicher thut sie es. Warum sollte sie auch nicht? Rosnowski ist hübsch, liebenswürdig, dabei eine glänzende Partie. – Sie könnte mit ihm glücklich sein und würde gut leben. Und vielleicht heiratet sie ihn nicht? Hat sie doch die Aufforderung der Baronin ebenfalls abgelehnt. Weder Romuald noch Stephan beeinflußten sie dabei. Ich habe ein bißchen zu-, ein bißchen abgerathen, weil ich selbst nicht recht wußte, was besser sei. – Die Trennung von ihr wäre mir so unendlich schwer geworden. Als sie aber ihren Entschluß gefaßt hatte, küßte ihr Romuald beide Hände so, daß sein Kahlkopf ganz roth wurde, und ich brach vor Freude darüber, daß sie uns nicht verlassen wird, in heiße Thränen aus –«

»Und Stephan?«

»Mit Stephan hatte sie eine Unterredung, die vielleicht eine Stunde dauerte. Dann sah ich Thränen in ihren Augen, aber trotzdem war sie so heiter wie noch nie. – Die Baronin sagte mir: »Weißt Du, chérie, Euere Irene ist dumm, sie hat keine Idee davon, was »gut leben« heißt!« Vielleicht ist das nicht ganz unrichtig, aber andererseits ist Irene nicht dumm, o nein, gar nicht. Die Baronin ist eine liebenswürdige Frau – und wie sie lebt! Ach, ach, ach! Solch' ein Leben ist wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. Sie ist älter als ich und wie hübsch sie noch aussieht! Wie sie sich putzt und amüsirt! Man verliebt sich ja noch in sie! Ach, ach, ach! Die Glückliche! Wie verschieden doch die Schicksale der Menschen sind! Andererseits wiederum möchte ich nicht an ihrer Stelle sein. Ihren Gatten liebt sie nicht sonderlich, und ihre Kinder sind nicht gut. Sie sagte einmal, über alles in der Welt liebe sie einen Papagei –«

»Der schon nicht mehr lebt,« unterbrach Roman lachend.

»Er lebt nicht mehr! Der Kakadu der Baronin lebt nicht mehr! Ach! Die unglückliche Frau! Sehr unglücklich! Andererseits solch ein Leben, wie sie führt, solche Gemächer, Zerstreuungen, Vergnügungen, das ist ein Paradies auf Erden! Uns, in diesem weltvergessenen Winkel scheint das ein Märchen. Und doch ist Darnówka, trotzdem es so weltvergessen, ein reizender Aufenthalt. Nicht wahr? Diese schönen, alten Bäume. – Im Winter sogar, wenn sie mit Reif und Schnee bedeckt sind, kann man sich an ihnen nicht satt sehen. Schön und lieb ist unsere stille, im Sommer grüne, im Winter alabasterweiße Darnówka.«

Sie sprach noch lange und Roman sah zum Fenster hinaus. Jenseits des niedrigen, den Hofraum umfriedenden Zaunes jäteten einige Frauen im Garten, und ihre gelben und rothen Kopftücher leuchteten wie große Päonien und Sonnenblumen.

Zwischen diesen am Boden kauernden Arbeiterinnen wurde eine schlanke Mädchengestalt sichtbar; nach einer Weile verschwand sie hinter den Bäumen, tauchte dann in der Nähe des Hauses wieder auf und trat in ein nicht großes, weißgetünchtes Nebengebäude, aus dessen Schlot eine Rauchsäule emporstieg.

Roman erhob sich.

»Ich will meine alten Lieblingsplätze wieder aufsuchen.«

»Geh, mein Lieber. Ach, ach, ach! Nach der großen Welt muß Dir unsere Darnówka gar winzig scheinen, obgleich es andererseits ein lieber Winkel ist – ach, ach, ach! So lieb und schön!«

Wie pflegt doch der gute Onkel zu sagen?

»Wen sollte sie heiraten? Einen Hahn!« Natürlich; jetzt wird Roman der Sinn dieser Worte begreiflich. Und doch hat sie einen Freier gefunden – zwar einen »Australier!« Nun, wenn kein Anderer da ist!

Die im frischgemähten Grase welkenden Klettenkränze füllten die Atmosphäre mit süßem Mandelduft; in den leise flüsternden Blättern der Bäume erklang fröhliches Vogelgezwitscher, der Himmel strahlte in wolkenloser Bläue, und doch schritt Roman trotz des herrlichen Wetters mit gesenktem Haupte und gerunzelten Brauen über den Hof.

Er betrat das Nebengebäude, hinter dessen Thür vorhin Irene verschwunden war. In einem weiten Raume – Küche oder Gesindestube – war eine ziemlich große Anzahl Leute versammelt. Einige Frauen waren bei dem helllodernden Feuer beschäftigt, einige andere standen mit Kindern auf ihren Armen am Fenster; in der Tiefe an einem langen Tische saßen mehrere Männer.

»Wenn Ihr das nicht selbst thut, so kommen Bronia und ich morgen mit Besen her und kehren Euch die Wohnung aus! Ich denke, Ihr werdet Euch dessen schämen!«

Diese Worte, die Roman beim Eintritte hörte, wurden in halb scherzendem, halb warnendem Tone gesprochen und galten sichtlich den am Fenster stehenden Frauen, denn die Knechte betrachteten dieselben lächelnd, und die Jüngeren lachten sogar laut.

Beim Anblicke Roman's fragte Irene freundlich: »Wünschest Du etwas, Cousin?«

»Ich wollte Dich um einige Zeitungen bitten. Der Onkel sagte, sie seien in Deinem Gewahrsam.«

»Sie sind in meinem und Bronia's Zimmer. Ich gehe eben dahin.«

»Könnten wir nicht zusammen gehen?«

»Recht gern.«

Als sie ins Freie hinausgetreten waren, sagte Roman lächelnd:

»Ich habe Dich bei einem Vergehen ertappt, Cousine. Du hast etwas versprochen, was zu erfüllen Du nicht im Stande bist.«

Irene blickte ihn erstaunt an, doch errieth sie sofort, was er meinte.

»Das bezieht sich wohl auf das Auskehren? Warum glaubst Du denn, daß ich das nicht thun würde?«

»Kannst Du es denn?«

Sie lachte.

»Du mußt mich für sehr untauglich halten, wenn Du glaubst, daß ich solch eine Kleinigkeit nicht leisten könnte.«

»Du kannst es doch sicherlich selbst nicht wissen.«

Ihre grauen Augen funkelten vor Lachen und Roman schien dieses Lachen nicht frei von Ironie.

»Im Gegentheile. Ich weiß es sehr gut, denn ich thue es täglich.«

»Wozu? Warum?«

Irene hatte zu lachen aufgehört und erwiderte mit ihrer gewöhnlichen Ruhe:

»Wir haben nicht viel Dienerschaft. Außer den Leuten in der Küche nur ein halbwüchsiges Mädchen und einen Burschen, die gleichzeitig meine Schüler sind. Wir bedienen uns selbst.«

»Wessen Laune ist das wieder?« fragte Roman traurig.

Sie lachte.

»Das ist ein wirthschaftliches System, Cousin.«

»Nur ein System?« fragte er nach einer Weile, das Auge zu Irene emporhebend.

Sie hielt seinen Blick ruhig aus und erwiderte:

»Nein, es ist noch etwas.«

Er wollte auf den Haupteingang des Hauses zuschreiten, doch wies sie ihm eine Seitenthür.

»Der Weg, der durch des Onkels Zimmer führt, ist kürzer.«

»So eilig habe ich es nicht,« scherzte Roman.

»Aber Bronia erwartet mich.«

Sie betraten Romuald Darnowski's Zimmer. Die Thür desselben ging auf den Garten hinaus, hinter den Fenstern wuchsen große, aber durchsichtige Akaziensträucher. In dem Zimmer stand ein Bett, ein großer, alter Schreibtisch, mehrere alte Möbelstücke und als ältestes von allen ein tiefer, bequemer Lehnstuhl, einer von denjenigen, die man seinerzeit: »Voltairefauteuils« zu nennen pflegte.

»Das ist Onkels Zimmer. Hier lese ich ihm vor. Im Winter öfter und länger, im Sommer weniger. Der Onkel sitzt im Lehnstuhl, ich auf dem Taburet, dort steht die Lampe und – wir lesen –«

»Den Plutarch?«

»Verschiedenes. Zeitungen, Romane, den Plutarch, die Bibel –«

Während sie auf die erwähnten Gegenstände hinwies, hing Roman's Blick unverwandt an ihrer Gestalt. Jetzt erst bemerkte er, daß in ihrem Zopf eine Levkoje steckte, deren rosenrothe Färbung von dem tiefen Schwarz des Haares abstach.

»Das Zimmer der Tante ist bedeutend größer, und meines und Bronia's ist hier nebenan, damit ich immer bei der Hand bin.«

Sie öffnete eine kleine, altmodische Thür und trat, Roman voranschreitend, in ein weißgetünchtes Zimmer, an dessen Wänden zwei Betten mit blüthenweißen Decken standen. An dem Tisch in der Mitte saß Bronia über einem Buch. Sie nickte den Eintretenden zu und vertiefte sich sogleich wieder in ihr Studium.

Während Irene einen Glasschrank aufschloß, neigte sich Roman über die Kleine.

»Lernst Du Geographie, Bronia?«

Sie hob einen zerstreuten Blick zu ihm empor.

»Warum muß es denn just Geographie sein?«

»Weil Du darin schon so weit vorgeschritten bist; bis zum fünften Erdtheil.«

»Das hast Du richtig gerathen. Wir nehmen jetzt Australien durch.«

»Daher ist ihr auch die Benennung eingefallen, die sie Dir gestern Abends zurief,« sagte Irene.

»Und wegen welcher ich vielmals um Entschuldigung bitte,« flüsterte die Kleine zerknirschten Tones, ohne die Augen vom Buche zu erheben.

»Was wieder? Warum fällt Dir denn das plötzlich ein?«

»Weil Alle von mir verlangten, daß ich Dich um Verzeihung bitten soll. So, jetzt habe ich es gethan, jetzt kannst Du gehen, Roman, störe uns nicht länger.«

Roman wendete sich zu Irene.

»Ertheilst Du mir denselben Befehl, Cousine?«

»Ich bitte höflichst um Entschuldigung, aber – wir haben keine Zeit –«

»Zu müßigem Geschwätz mit Herumtreibern.«

Sie nickte und reichte ihm ein Packet Zeitungen, die er mit höflicher Verbeugung entgegennahm. Da tauchte die Erinnerung an den gemeinsamen Frühling ihres Lebens plötzlich vor Roman und Irene auf, und stumm und ernst standen sie einander gegenüber. Ihre Blicke begegneten sich nur für die Dauer einer Secunde, aber in Beider Augen leuchtete es hell auf.

Roman verließ das Zimmer. Irene hatte sich zum Fenster gewendet und verharrte so lange in dieser Stellung, daß Bronia ungeduldig ausrief: »Irus! Fangen wir doch schon die Stunde an, sonst hältst Du mich hier bis zum Mittagessen und ich werde keine Zeit haben, zu meinen lieben Tauben zu gehen.«

Irene trat an den Tisch.

»Irus, warum bist Du so traurig?« rief die Kleine, sie mit ihren lebhaften, klugen Augen betrachtend. Und wirklich war Irene so traurig, wie Bronia sie bisher noch nie gesehen.

Am Nachmittag wollte Roman sich ein Buch holen und ging in Stephan's Zimmer. Was er daselbst vorfand, interessirte ihn so, daß er länger verweilte, als es ursprünglich seine Absicht gewesen. Und doch waren es lauter einfache Dinge: Eine eiserne Bettstelle, zwei mit Papieren beladene Tische, ein Glasschrank mit Büchern gefüllt, an den Wänden mehrere große Landkarten, einige lithographirte Copien berühmter Bilder und ein großes Kreuz aus schwarzem Holze. Außerdem einige Sessel, ein großer Strauß Feldblumen in einem Thonkrug, getünchte Wände, durch die beiden Fenster ein ziemlich weiter Ausblick – sonst nichts.

Und doch gestatteten Darnowski's materielle Mittel eine ganz andere Einrichtung. »So könnte ein Kameldulenser wohnen,« dachte Roman. »Nur die Bücher und Papiere stören. Nun, dann meinethalben ein Benedictiner.«

Am meisten interessirte ihn das Kreuz, welches so groß und an solcher Stelle angebracht war, daß es über das ganze Zimmer zu herrschen schien. Dann wanderte sein Blick zu den Papieren auf dem Tische und fiel vor allem auf eine Anzahl loser Blätter, die mit Namen von Dörfern, Städtchen und Edelweilern bedeckt waren. Daneben lagen aufgeschlagene Bücher, Broschüren, Hefte mit Notizen. Die Wirthschafts- und Rechnungsbücher nahmen den zweiten Tisch ein.

Roman stand am Fenster und blickte hinaus. Die Landschaft zeichnete sich nicht durch Großartigkeit aus, besaß aber einen eigenen Reiz.

Hinter dem Garten zog sich die Wiese, die er gestern gesehen hatte; sie wurde von einem Flüßchen durchströmt, welches alle Augenblicke zwischen Erlen und Haselnußsträuchern verschwand, um bald wieder, einem glitzernden Silberbande gleich, zum Vorschein zu kommen. Auf dem dunklen Hintergrunde des Fichtenwaldes zeichnete sich das Grün der anderen Bäume in allen Schattirungen ab. Auf dem Felde schimmerte weißblühender Buchweizen, maigrün glänzte der noch nicht gemähte Wiesenklee, hie und da stieg eine kleine Rauchsäule in die Höhe.

Ueber dem Ganzen herrschte ein Baumdickicht, in dessen Mitte die blendendweißen Mauern eines Palastes von weitem leuchteten. Die Luft hatte bereits etwas von der krystallklaren Durchsichtigkeit der ersten Herbsttage, und ein scharfes Auge konnte deutlich die schönen Contouren des Gebäudes unterscheiden.

Roman konnte sich jedoch nicht darauf besinnen, wer in diesem Palaste wohne. Er hatte den Eigenthümer desselben hin und wieder gesehen, aber nicht näher gekannt.

Ohne es selbst zu wissen, hatte er sich auf den Sessel am Fenster niedergelassen und war in dumpfes Sinnen versunken. Gedanken, Erinnerungen, Fragen stürmten auf ihn ein, ohne sich jedoch zu einem logischen Ganzen zu ordnen.

Das aufgehäufte Material kann mit der Zeit ein Gebäude ergeben; vorläufig jedoch springt die Phantasie von einem Ziegel zum anderen.

Irene ist hübsch, aber ihren größten Reiz bildet ihre weibliche Frische. Diese Züge sind von Stürmen der Sinne unberührt geblieben. Trotz ihrer großen Ruhe ist sie vollkommen natürlich, ja, fast heiter. Letzteres war sie eigentlich nur in den Morgenstunden gewesen, als sie ihm das Zimmer des Onkels zeigte. Während des Mittagessens war sie schweigsam und nachdenklich, und als Bronia ihn in den Taubenschlag führte, hatte sie nicht mitgehen wollen.

Wahrscheinlich ist sie oft traurig. Sie kann sich unmöglich zufrieden fühlen. Roman hätte gern gewußt, warum Irene den Vorschlag der Baronin abgewiesen, doch getraute er sich nicht, eine diesbezügliche Frage an sie zu richten. Sonderbar! Diesem bescheidenen Mädchen gegenüber fühlte er sich viel weniger sicher, als dies gegenüber Frauen, die eine hohe gesellschaftliche Stellung einnahmen, der Fall war. Er fürchtet immer, er könne sie verletzen. Außerdem fühlt er, daß eine große Kluft sie trennt, die zu überbrücken fast unmöglich ist. Wie? Und die Vergangenheit? Sollte Irene dieselbe ganz vergessen haben? Als sie ihm heute die Zeitungen gab, glaubte er eine Erregung an ihr wahrgenommen zu haben. Doch mußte dies wohl Täuschung gewesen sein, sonst hätte sie ihn nicht ohne alle Umstände hinausgeschickt, um Bronia ungestörten Unterricht zu ertheilen. Eine eigenthümliche Frau! Sie lebt wie in einer Wüste, und wenn sich ihr Gelegenheit bietet, mit jemandem zu sprechen, dem sie gefällt, heißt sie ihn gehen, weil ihr eine Pflicht obliegt, die wahrscheinlich sehr langweilig ist. Das ist ein unzweideutiger Beweis, daß er ihr nicht gefällt. Natürlich. Er müßte ein eingebildeter Narr oder mit Blindheit geschlagen sein, wollte er von ihr oder Stephan anderes erwarten, als die landläufige Höflichkeit, die ein Gebot der Gastfreundschaft ist. Und doch thut ihm das leid. Wie gern hätte er die Erinnerung an ihre Freundschaft in die weite Welt mitgenommen! Wie hatte er sich auf das Zusammentreffen mit seinen zwei liebsten Schulcollegen gefreut! Was mag nur dem Casio Domunt zugestoßen sein?

Bohdan Rosnowski ist bedeutend älter; aber er und Roman haben denselben Weg eingeschlagen, vielleicht wird sich mit ihm ein freundschaftliches Verhältnis anbahnen lassen? Roman will dieses Haus nicht mit ungestilltem Sehnen verlassen. Er will einen Funken Wärme mitnehmen, der in der Tiefe seines Herzens verborgen bleiben soll, so wie man auf dem Grunde eines Koffers ein Goldstück aufbewahrt – für die Stunde der Noth. Warum eigentlich? Wird er doch nie mehr hierher zurückkehren, und wenn dies geschieht, dann erst nach langen Jahren und nur auf die Dauer eines Augenblickes. Es ist eben Mangel an Consequenz und Logik! Das ewige Räthsel der menschlichen Seele, die zahllose Widersprüche in sich birgt, das Räthsel des menschlichen Schicksals, welches niemals etwas giebt, ohne anderes dafür zu nehmen.

Er sprang vom Sessel empor und durchmaß das Zimmer hastigen Schrittes. Als er wieder am Fenster stehen blieb, fiel sein Blick auf den weiß glänzenden Palast.

»Der drin wohnt, der hat's gut! Hat ein eigenes Nest, kennt kein Trennungsweh, keine Entsagung und darf das Leben genießen!«

Von Feld und Wald strömte erquickende Frische und tiefe Stille herein. Das eintönige dumpfe Geräusch der Dreschmaschine, das man aus der Ferne vernahm, und das aus der Tiefe des Hauses dringende, gedämpfte Klappern einer Nähmaschine erhöhten noch den Eindruck der Stille.

Plötzlich erklang eine helle, klare Frauenstimme:

»Bronia! Bronia! Bronia!«

Roman erhob das Haupt.

»Eine angenehme, klangvolle Stimme!« dachte er. Dann wurde er wieder von tiefer Stille umfangen. Der Blumenstrauß im Kruge strömte einen Waldduft aus, der an Fichten und feuchte Moose erinnerte. Auf den grünen Farrenkrautblättern, die auf beschriebenen Papierbogen lagen, zeichnete ein Sonnenstrahl, der über sie hinglitt, goldene Arabesken.

Mit einer langsamen Bewegung ließ sich Roman am Fenster nieder. Er warf das Haupt nach rückwärts und verharrte, die Hände gefaltet, lange in dieser Stellung. Ihm war unendlich wohl, und dieses physische Wohlbehagen war eine Wirkung der einfachen, reinen Umgebung, in deren Mitte er sich befand.

Sein Blick glitt wieder prüfend über Stephan's Zimmer. Wie schön ist es hier, wenn alles rund umher grün, der Duft der Waldblumen Herz und Geist erfrischt, die Sonnenstrahlen alles vergolden und der Himmel in herrlichster Bläue glänzt. Aber im Winter?

Im Winter, an einem dunklen, kalten Abend, wenn die schneebedeckte oder vom Regen gepeitschte Gegend einem Abgrunde gleicht, wo die Melancholie im Windesrauschen seufzt, klagt und jammert, sitzt hier beim Lampenlichte ein einsamer, junger Mann. Sein Haupt ist über die Arbeit gebeugt, seine Hand fliegt über die Papierbogen, die bald mit klarer, deutlicher Schrift bedeckt sind. Auf dem Tische liegen Bücher, Landkarten, Broschüren. Die schreibende Hand ist weder weiß noch zart; man sieht, daß sie schwere Arbeit nicht gescheut hat. Draußen ächzt und heult der Wind; im Hause ist es still. Nur aus einem der Zimmer erklingt lautes Lesen einer klaren, frischen Frauenstimme. Der junge Benedictiner, dessen Antlitz, vom dunklen Hintergrunde sich abhebend, vom Lampenlichte umstrahlt wird, bildet ein Ganzes mit der Stille, der Einsamkeit, der Kälte und der Nacht. Die Welt mit ihrem Lärm, ihrer fiebernden Hast, ihrem Glanz und Taumel liegt so weit von hier entfernt, daß man glauben könnte, die Finsternis jenseits des Fensters sei ein zwei verschiedene Planeten trennender Raum. Der Benedictiner hatte jenem Planeten entsagt. Warum? In der einen Ecke des Zimmers steht an die Wand gelehnt eine Sense, in deren glänzendem Metall das Lampenlicht blitzende Funken entzündet. Auf jener Wand taucht ein großes, schwarzes Kreuz aus der Dunkelheit empor.

Roman fuhr sich über Augen und Stirn. Er empfand ein aus Achtung und Erstaunen gemischtes Gefühl.

Plötzlich wurde die Thür laut und hastig geöffnet und im Rahmen derselben erschien ein hochgewachsener, sehr magerer Mann. Im ersten Augenblicke erkannte ihn Roman nicht. Eine Weile stand der Ankömmling, die Hand auf der Thürklinke, unsicher, ob er den Freund seiner Jugend vor sich sehe oder ob dies ein Anderer sei. Endlich wurde sein auffallend weißes Gesicht von einem Lächeln erhellt und er rief:

»Romek!«

Dann fügte er leiser hinzu:

»Wenn ich nicht irre!«

Roman hatte sich beim Eintritte des Fremden langsam erhoben und stürzte nun mit einem Freudenrufe auf ihn zu:

»Casio Domunt!«


 


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