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Dreizehntes Kapitel. Der Hochzeitstag

Es war kein angenehmer Tag am Grosvenor Square. Als der Herzog in seiner Droschke ankam, wurde ihm die Thür von der Person geöffnet, die das Haus beaufsichtigte, während die Familie auf dem Lande war – einer alten Dienerin, der diese Stelle als eine Art Versorgung übertragen worden war. Sie war sehr verwirrt und teilte ihm flüsternd mit, Lady Jane sei vor ein paar Minuten »mit einem Herrn« angekommen. »Ihre Herrlichkeit befindet sich in der Bibliothek, Euer Durchlaucht, und der Herr ist bei ihr,« sagte das alte Weib, knicksend und zitternd – denn wenn auch Lady Janes Anzug für eine Braut sehr einfach war, so trug sie doch immerhin ein weißes Kleid, und es ist ja ziemlich bekannt, daß die Damen mitten im Winter ihren täglichen Geschäften nicht in solchen Kleidern nachzugehen pflegen. Der Herzog überlegte einen Augenblick und entschied sich dann dafür, seine Tochter nicht sehen zu wollen, bis ihr Begleiter sie verlassen hätte. Er zitterte vor Wut und Aerger über seine Niederlage, hatte aber doch das Bewußtsein, daß die Rache in seiner Hand liege. Dieses Bewußtsein ließ ihn einsehen, daß es klüger sei, Winton nicht wieder zu sehen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, sich fortreißen zu lassen, oder seine Absichten zu verraten, sondern aufzupassen, bis er fortgehe, und inzwischen seine Pläne zu machen. Er befahl der alten Haushälterin, ihm mitzuteilen, wenn der Herr gegangen sei, und hierauf stieg er hinauf nach dem Zimmer seiner Tochter und untersuchte es sorgfältig. Lady Jane bewohnte zwei Zimmer, die mit einem dritten in Verbindung standen, worin ihre Zofe schlief. Das war ein weites Gebiet, um es unter Schloß und Riegel zu halten, und dazu war ihr Vater entschlossen. In der Gärung, worin sich sein ganzes Wesen befand, sah er nichts Unwürdiges in dieser halb heimlichen Untersuchung der geschlossenen Zimmer, ihrer Fenster und Thürschlösser und aller der Einrichtungen, die erforderlich waren, um sie vom Rest des Hauses abzuschließen. Mit seinen eigenen Händen entfernte er alle Schlüssel, nachdem er sämtliche Thüren bis auf eine verschlossen hatte; und in dieser ließ er den Schlüssel von außen stecken, um den letzten Zugang zu dem Gefängnis abschließen zu können.

Während er damit beschäftigt war, stand das so seltsam verbundene und getrennte Paar in der Bibliothek und wartete auf seinen Eintritt, die bittere Süßigkeit der letzten Stunde des Zusammenseins auskostend. Sie ahnten nicht, daß es in einem ernsteren Sinne ihre letzte Stunde sein sollte. »Bis morgen!« Das war die äußerste Grenze, die sie sich steckten. Morgen war keine weitere Unterbrechung möglich; die unvollendete Trauung wurde wieder aufgenommen, und dann war alles in Ordnung. Selbst der Herzog, so unvernünftig er war, würde es bei ruhiger Ueberlegung nicht mehr für thunlich halten, einen neuen Versuch zu machen, diejenigen zu trennen, die vor Gottes Angesicht fast verbunden waren. Trotz der durch diese Unterbrechung ihnen bereiteten Qualen hatten sie Mut genug, zu glauben, daß es sich nur um ein paar Stunden handeln könne. Wintons Ungeduld und Entrüstung waren anfänglich allerdings nahezu dem Wahnsinn gleichgekommen, aber Lady Jane hatte sich gesammelt, noch ehe sie das Haus erreicht hatten, und that ihr Möglichstes, ihn zu beruhigen. Sie suchte selbst dem Schlimmen eine gute Seite abzugewinnen. Morgen würde alles in ihres Vaters Gegenwart beendet werden. Einmal überzeugt, daß die Sache zu weit gegangen war, um sich noch aufhalten zu lassen, wie konnte er sich weigern, seine Einwilligung zu etwas zu geben, das ja doch geschehen würde, mit oder ohne Einwilligung? Diese Lösung aller Schwierigkeiten gefiel ihr. »Meine Mutter kommt ganz bestimmt,« sagte sie, »sobald die Eisenbahn sie bringen kann. Sie wird mir zur Seite stehen, und das ist doch viel, viel besser, als Lady Germaine, und dann gibt's keine Heimlichkeiten mehr, die so widerwärtig sind, nicht wahr, Reginald? So hat auch das Schlimmste einen guten Kern.« Winton konnte nicht sprechen, die Enttäuschung und die Leidenschaften, die im Busen des Mannes toben, hatten ihn übermannt – Wut und Entrüstung, verwundeter Stolz und das unerträgliche Bewußtsein der erlittenen Niederlage. Allein er ließ sich besänftigen, er gab derjenigen nach, die sich selbst Gewalt angethan, um seinetwillen so vieles, was ihr widerstrebte und ihren Ueberlieferungen zuwiderlief, überwunden hatte. Lady Jane ließ nicht einmal die Scham anmerken, die sie darüber empfand, daß sie wider Willen in ihres Vaters Haus zurückgeschleppt worden war. »Morgen,« sagte sie mit zärtlichem Lächeln, »morgen!« Als es ihnen klar wurde, daß der Herzog sich nicht zeigen wolle, wußte sie auch darin mit einer Sophistik, die sie beruhigte, etwas Gutes zu finden. »Siehst du, Reginald, er weiß nichts mehr zu sagen. Daß er kommt und uns seine Einwilligung anbietet, können wir nicht erwarten. Alles, was wir verlangen können, ist, daß er seinen Widerspruch aufgibt. Wenn er die Absicht hätte, dabei zu beharren, wäre er gekommen und hätte dich fortgeschickt und uns eine neue Scene gemacht. Das habe ich immer gefürchtet. Und zum Dank für seine Nachsicht mußt du jetzt gehen. O, glaubst du, ich wünschte dein Fortgehen? Aber es ist am besten und ehrenhaftesten. Was konnte unter diesen Umständen anders geschehen, als daß du mich nach Hause brachtest? Ja, dies ist mein Heim, bis dein Haus auch das meine ist – bis morgen,« schloß sie, ihm liebevoll zulächelnd. Winton ging, zerrissen von Ungewißheit, Verwirrung und Verdruß, in dem düsteren Zimmer auf und ab.

»Mein Heim ist das deine!« rief er aus. »Und wie trostlos ist dieses Haus für dich, mein Lieb, ohne eine Seele, die für dich und deine Bequemlichkeit sorgt, sogar ohne Feuer und Dienerschaft – und heute! Es ist nicht auszuhalten! Und wie, wie kann ich gehen und dich an unserm Hochzeitstage allein lassen? Es ist mehr, als Fleisch und Blut ertragen können! Jane, ich habe schlimme Ahnungen, ich kann nicht so hoffnungsvoll sein, wie du. Wenn du dich der Gewalt der Umstände in der elenden Kirche fügtest, hier gibt's doch keine Gewalt irgend welcher Art. Schick mich nicht fort, geh mit mir, mein süßes Lieb. Der Weg ist frei, niemand, als die alte Frau ...«

»Unsre Ehre!« antwortete Lady Jane. »Ich habe sie meinem Vater verpfändet. Und wenn ich mit dir ginge, würde das nur zu einer neuen Trennung führen. Ich bin ganz gewiß besser bei Lady Germaine aufgehoben – bis morgen – bis morgen,« wiederholte sie leise. Die Bibliothek lag dicht neben der Hausthür, unmittelbar an der Straße, der Freiheit. Auch für Lady Jane war die Versuchung groß, aber sie überwand sie. Kurze Zeit schwankte sie, aber sie blieb fest; schon im nächsten Augenblick hatte sie sich, mit mehr Ruhe als zuvor, wieder vollständig in der Gewalt. Sie war es schließlich, die ihn mit zärtlicher Ueberredung und süßem Flehen veranlaßte, fortzugehen. Sie geleitete ihn bis zur Thür und schob ihn beinahe mit liebender Gewalt hinaus. »Morgen holst du mich ab – morgen! Es ist nicht so gar lange bis morgen,« sagte sie, ihrem vom Schmerz gepeinigten Verlobten zuwinkend. Es war gut, daß niemand in der Stadt war – niemand an Grosvenor Square. Nur ein vorübergehender Milchjunge sah die Herzogstochter in ihrem weißen Kleide – eine wunderbare Erscheinung an diesem trüben Londoner Tag – an der Hausthür stehen und sich von ihrem Geliebten verabschieden, wie ein einfaches Bürgermädchen. Sie schloß die Thür hinter ihm mit eigener Hand, während die arme alte Mrs. Brown, in einer Aufregung, wie sie sie nie zuvor empfunden, aus der Ecke hervorkam, wo sie Wache gehalten hatte.

»O, gnädiges Fräulein, gnädiges Fräulein!« rief sie händeringend. Sie hatte unter der Dienerschaft eine Stellung eingenommen, die kaum hoch genug war, um ihr Gelegenheit zu geben, mit Lady Jane zu sprechen, und nun war sie die einzige, die die Erbprinzessin bedienen sollte. Welch ein Gedanke! Lady Jane war, wie man sich vorstellen kann, keineswegs leicht zu Sinne, aber sie blieb lächelnd stehen, um der alten Dienerin Mut einzusprechen.

»Die alte Mordaunt wird bei mir bleiben,« sagte sie. »Sie wird gewiß gleich kommen, Mrs. Brown, Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorge zu machen, es dauert ohnehin nur bis morgen. Wenn Sie in meinem Zimmer Feuer anmachen wollen, kann ich auch dorthin gehen.«

»Ja, gnädiges Fräulein, o, gnädiges Fräulein! Ich fürchte, das gibt eine traurige Geschichte,« sagte die alte Hausverwalterin.

Lady Jane besaß viel zu viel Herzensgüte, um diese Teilnahme zurückzuweisen, aber es war beinahe mehr, als ihre Kraft zu tragen vermochte. Sie konnte es nicht hindern, daß sich ihre Augen füllten. »Ja, es ist ein ganz seltsamer Vorfall,« entgegnete sie, »aber Mrs. Mordaunt wird Ihnen alles erzählen, wenn sie kommt.« Sie war froh, daß sie in die Bibliothek entrinnen konnte, ehe sie zusammenbrach. Als sie sich umwandte, um diesen großen, kalten, unwohnlichen Raum allein wieder zu betreten, wurde ihre Seele von Schreck erfüllt. Die Vorhänge waren herabgelassen, das Kamin war kalt, kurz, es machte den Eindruck wie ein Zimmer, aus dem eben ein Toter fortgetragen worden ist, nicht wie ein Raum, der ein Weib in dem Augenblick aufnehmen soll, wo sein Leben seinen Höhepunkt erreicht hat – an seinem Hochzeitstag! Solange ihr Geliebter anwesend gewesen war, hatte sie sich brav gehalten, fast zu brav, da sie versucht hatte, ihm den Glauben beizubringen, es sei nichts, sie mache sich keine Sorgen. Aber als sie ihn gehen sah, senkten sich Wolken und Dunkelheit auf Lady Jane hernieder, und während sie mit Mrs. Brown sprach, zuckten ihre Lippen schmerzlich. Als sie allein war, fanden ihr bedrücktes Herz und ihre hämmernden Schläfen in einem plötzlichen leidenschaftlichen Thränenausbruch Erleichterung. War es wirklich nichts, wie sie versucht hatte, ihm einzureden? Eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich ihrer – trauriger, als irgend etwas, was Winton empfand, als er, halb wahnsinnig und wütend, nach Rache dürstend und mit einer Empfindung erlittenen Unrechts, die bei der Trostlosigkeit der ganzen Sachlage ihm sogar eine gewisse Erleichterung brachte, Lord Germaines Haus zueilte. Dort konnte er wenigstens überlegen, Pläne machen und seiner Wut und seinem Seelenschmerz Worte leihen. Dieser Trost war Lady Jane versagt. Als sie dem bitteren Drang, zu weinen, nachgegeben und gefühlt hatte, wie sich die Wolke auf sie herabsenkte, mußte sie sich ohne fremde Hilfe wieder sammeln und ihre Fassung wieder zu gewinnen suchen, so gut sie konnte. Ein Gefühl eisiger Kälte, das so oft tiefe Gemütsbewegungen begleitet, ließ sie zusammenschauern. Sie zog ihren Mantel fester um sich und stieg langsam in dem schweigenden Hause die Treppe hinan, dann und wann stehen bleibend, um in ihrer nervösen Erschöpfung Atem zu holen, und angsterfüllt das Erscheinen ihres Vaters erwartend. Kam er am Ende gar nicht? Lady Jane dachte nicht im entferntesten daran, daß sie mit allen diesen Zögerungen und Pausen geradeswegs in ein Gefängnis gehe. Etwas Derartiges würde ihr nie in den Sinn gekommen sein. Sie glaubte noch an die Vernunft, an liebevolle Güte und Treue. Wenn ihr Vater einsah, daß er nichts machen könne, würde er nachgeben; ihre Mutter kam ihr gewiß in dieser größten Not ihres Lebens zu Hilfe. »In jedem Uebel steckt ein guter Kern,« flüsterte sie bei sich, aber nicht so tapfer, wie sie dieselben Worte zu ihrem Geliebten gesagt hatte. Das Haus war so kalt, jeder Ton weckte in der Einsamkeit einen lauten Wiederhall, kein lebendes Wesen war sichtbar, sie fühlte sich allein, verlassen, die schleichenden Stunden vor sich – an ihrem Hochzeitstage!

So ging Jane mit müden, zögernden Schritten, verzagenden Herzens leise die Treppe hinauf, mit dem Verlangen, ihr Brautkleid abzulegen und ihre Demütigung zu, verbergen, vergeblich nach ihrem Vater ausschauend, dessen Kommen in dieser Einsamkeit, selbst wenn er sie nur angeklagt und gescholten hätte, ihr einen gewissen Trost gebracht haben würde. Der Herzog beobachtete, unbemerkt von ihr, mit einer hämischen Freude über ihre niedergeschlagene Miene und ihre müden, langsamen Schritte ihre Bewegungen. Bis zu ihrer Thür folgten ihr seine Blicke mit einer Gier, die sich nicht beschreiben läßt. Noch im letzten Augenblick konnte sie umdrehen, das Haus verlassen, entfliehen. Gewalt würde er gegen seine Tochter keinesfalls gebraucht haben. Sie mit Worten zu zerschmettern, war eins, Gewalt zu gebrauchen ganz etwas andres. Seine Hand gegen sie zu erheben, das war unmöglich. Wenn sie sich umwandte, die Treppe hinab floh und das Haus verließ, dann mußte er sie gehen lassen; es gab kein Mittel, sie aufzuhalten. Und wenn noch eine dritte Person zugegen war, selbst nur Mrs. Brown, mußte er sich beherrschen, durfte ihr nichts befehlen, wovon er nicht überzeugt war, daß sie es thun würde, mußte sie als vernünftiges Wesen behandeln. Das ging dem Herzog durch den Sinn, als er ihre Schritte auskundschaftete und ihr mit durch den dicken Teppich unhörbar gemachten Schritten folgte. Er hörte sie stöhnen, aber das machte keinen Eindruck auf ihn. Für jeden andern Menschen hätte das Stöhnen der verwitweten Braut an diesem Tage, der ihr Hochzeitstag werden sollte, nein, beinahe geworden wäre, etwas Erschütterndes gehabt. Aber den Herzog ließ es kalt. Er folgte ihr in einiger Entfernung, sich sorgfältig davor hütend, daß sie ihn bei einem zufälligen Umwenden nicht erblicke, denn er war entschlossen, ihr keine Gelegenheit zu geben, ihn mit Bitten zu bestürmen. Als er ihre Thür ins Schloß fallen hörte, erschien ein Leuchten des Triumphs in seinen Zügen. Rasch eilte er vorwärts, drehte den Schlüssel im Schlosse und steckte ihn in die Tasche. Er hörte sie im Zimmer umhergehen und bemerkte, daß sie bei dem unerwarteten Geräusch stille stand, als ob sie überlege, was das gewesen sein könne. Aber es blieb alles ruhig; Lady Jane ahnte noch nichts. Sie hatte angefangen, in ihrem Kleiderschrank noch etwas zu suchen, das sie an Stelle des Brautkleids anziehen könne, und sie glaubte, die Schrankthür habe beim Oeffnen das Geräusch hervorgebracht. Er aber stahl sich unbemerkt und unbeobachtet die Treppe wieder hinab. Wer sollte ihn auch bemerken? Es war ja niemand im Hause als seine Tochter, die in ihrem Zimmer eingeschlossen war, und Mrs. Brown mit ihrer Nichte unten. Der Herzog zog sich in die Bibliothek zurück, wo er schon so manchmal gesessen und nachgedacht hatte, aber so wie heute doch noch nie. Die alte Hausverwalterin hatte sich aufgerafft, ein Feuer angezündet und den Tisch zum Gabelfrühstück für zwei Personen gedeckt. Sie wenigstens konnte ihre Pflicht thun, wenn niemand anders sie that. Mrs. Brown hatte dasselbe Gefühl, wie ein zurückgesetzter General, wenn der Augenblick gekommen ist, wo er sich auszeichnen kann. Sie hatte diese Gelegenheit noch nicht gehabt. Jetzt endlich, nahe am Ende ihres Lebens, war sie gekommen. Der Herzog, der so eigen war, sollte einmal im Leben kennen lernen, was eine Kotelette, eine echte englische Kotelette in höchster Vollendung ist. Ihr Hilfsmädchen war fort, um das Fleisch zu holen, und so zündete sie in ihrer Hingebung das Feuer selbst an. So weit würden nur wenige Leute in ihrer Begeisterung gehen. Und Lady Jane, das süße Geschöpf, die augenscheinlich mit ihrem Papa etwas gespannt war und den netten jungen Herrn so rasch als möglich fortgeschickt hatte, damit der Herzog und er sich nicht träfen, was konnte für das arme Kind wohl so gut sein, wie eine Kotelette? Die alte Hausverwalterin machte sich mit der warmen Empfindung des Wohlwollens und im Bewußtsein der Macht an ihre Arbeit – ja, der Macht, die Härte des Schicksals zu mildern und für sich selbst Ruhm und Auszeichnung zu ernten. Konnte es wohl edlere Beweggründe geben? Von den drei Leuten im Hause war sie die glückliche, wie das bei den Verwickelungen und Launen des Schicksals zu gehen pflegt.

Ehe Mrs. Brown jedoch angefangen hatte, ihre Koteletten zu braten, kam die alte Mordaunt, Lady Janes treue Dienerin seit deren Kindheit, in großer Angst und Sorge an. Sie hatte ihrer Herrin Sachen, die am Morgen in Lady Germaines Haus geblieben waren, abgeholt, und war von Lady Germaine aufgehalten worden. Mit schwerem Herzen hatte sie die Adresse »Lady Jane Winton« von den Koffern entfernt. Die Heirat hatte sie zwar ebenso wenig wie der Herzog gebilligt. Es verletzte ihren Stolz, daß »Mylady« einen Bürgerlichen heiraten wollte, und noch dazu heimlich und in einer abgelegenen Kirche der City! Aber daß sie nun verheiratet und doch nicht verheiratet, als halbe Ehegattin »vom Altar weggerissen« worden war, das war mehr, als man ruhig mit ansehen konnte. Die Alte war von allen Beteiligten am tiefsten beleidigt, am unglücklichsten und gebrochensten. »O, fragen Sie mich nicht,« antwortete sie, den Kopf schüttelnd, als Mrs. Brown, sehr bescheiden und achtungsvoll um Mitteilungen bat. »Es ist schlimmer als eine Revolution – schlimmer als die Sozialdemokraten,« rief die Alte ihn ihrem Verdruß. »Ich billige es nicht, habe es nie gebilligt und werde es nie billigen. Bis wir an die Kirchthür kamen, hätte ich alles gethan, um's zu hindern. Aber Gott sei mir gnädig! Wenn man nicht 'mal mehr den Altar heilig hält, was soll man da noch achten?« Sie ließ die Koffer mit den ausgekratzten Adressen in den Hausflur bringen. Es war niemand da, der sie hinaustragen konnte – keine Bedienung, woran Mrs. Mordaunt gewöhnt war. »Holen Sie einen von den Bedienten,« hatte sie zuerst gesagt, aber dann war ihr eingefallen, daß zu dieser Jahreszeit keine Bedienten im Hause an Grosvenor Square anwesend seien. »Verwünscht! Als ob die Geschichte nicht schon schlimm genug wäre, keine Bedienten, keine Bequemlichkeit, niemand als Mrs. Brown, um alles zu besorgen!« Mrs. Mordaunt war zu angegriffen, um sogleich zu ihrer jungen Herrin zu gehen. Sie ließ sich dagegen herab, in die Küche einzutreten, wo es wenigstens warm war, aß eine Kotelette und erholte sich etwas, ehe sie hinauf ging. Hatte ihre Ankunft schon große Aufregung verursacht, so sollte es gleich noch schlimmer kommen. Die Hausverwalterin fiel beinahe in Ohnmacht, als sie, durch ein ungeduldiges Klingeln aufgeschreckt, die Thür öffnete und die Herzogin einer Droschke entsteigen sah.

»Gott steh uns bei!« rief die alte Frau, und wenn jetzt die Königin gekommen wäre, hätte sie das nicht im geringsten mehr überrascht.

Die Herzogin war, wie wohl kaum erwähnt zu werden braucht, in das Geheimnis der Vorkehrungen, wodurch Lady Jane zu Reginald Wintons Frau gemacht werden sollte, eingeweiht. Sie litt an einer Erkältung, zum Teil wirklich, zum Teil vorgeschützt, aber doch genug, um an diesem Morgen das Zimmer zu hüten und ihre Gäste der Sorge ihrer Schwester zu überlassen, die zu Besuch in Schloß Billings war. Wie man sich denken kann, erhob sie sich nach einer unruhigen Nacht in großer Aufregung und dachte an ihre Jane, wie sie sich auf ihre Trauung vorbereitete und sie niemand stützte und tröstete, als Lady Germaine. Lady Germaine war sehr gütig; sie hatte die ganze Sache in die Hand genommen und war mit ihrem Gatten ganz allein zu dem Zwecke nach der Stadt zurückgekehrt, die Ausführung des Planes zu ermöglichen. Indessen war der Gedanke doch furchtbar für die Herzogin, daß ihrem Kinde in diesem wichtigsten Augenblick des Lebens niemand als Lady Germaine zur Seite stehe. Die Gedanken der Mutter beschäftigten sich in ihrem stillen Morgenzimmer natürlich ausschließlich mit diesem Gegenstände. Sie stellte sich vor, wie ihr Kind erwache, sich klar mache, was für ein ereignisreicher Morgen herangebrochen sei, und nach ihrer Mutter verlangen werde; wie sie ihr Gebet mit der ganzen Inbrunst spreche, die die Umstände natürlich erwecken mußten; wie sie ihr vergangenes Leben noch einmal an sich vorüberziehen lasse und sich dann mit scheuer Ehrfurcht der seligen Zukunft zuwende. Obgleich diese Zukunft so nahe vor der Thür stand, würde Jane doch an die Heimat, an die Eltern, die sie liebten, denken und einige Thränen vergießen, weil diese wichtigste Handlung ihres Lebens fern von ihnen, ja, im Widerspruch mit einem von ihnen, stattfand. Die Herzogin, die durch das, was sie wußte, ebenso wie durch das, was sie nicht wußte, durch die Thatsachen ebenso wie durch ihre Vorstellungen, sehr ergriffen war, brach hier selbst in Thränen aus, die sie hastig trocknen mußte, um ihrer Kammerjungfer unbefangen ins Gesicht zu sehen, welche ihr eine Nachricht brachte, die sie im Augenblick zur sorgenvollsten Thätigkeit aufstachelte. Der Herzog war plötzlich mit dem Frühzuge nach der Stadt gefahren! Nachdem er seine Post durchgesehen hatte, war er sehr aufgeregt gewesen, hatte aber Bowles (das war Seiner Durchlaucht Kammerdiener) nichts gesagt, als daß Geschäfte ihn nach der Stadt riefen. Er war schon eine Stunde fort, als seiner Frau die Nachricht überbracht wurde. Der Leser kann sich vorstellen, wie wenig Zeit verging, ehe die erschreckte Mutter folgte. Sie fuhr ganz still in einem geschlossenen Wagen fort, ohne daß jemand etwas merkte, erreichte den nächsten Zug und kam zwei Stunden später als ihr Gatte in London an. Er hatte sich gerade achselzuckend, aber nicht ohne Eßlust, zu Mrs. Browns Koteletten niedergelassen, als sie vorfuhr und plötzlich bleich und schmerzbewegt bei ihm eintrat. Ihre Augen durchliefen forschend das Zimmer, ehe sie ein Wort sprach, – dann löste sie ihren Mantel und setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf den nächsten Stuhl.

»Was hast du mit Jane gemacht?« hatte sie fragen wollen, aber nun schien es ihr, als ob Jane entronnen und alles vollbracht sei. Die Erleichterung, die sie empfand, war so groß, daß sie hätte lachen oder weinen mögen, aber sie wagte keins von beiden. Statt dessen sah sie ihren Gemahl an, der sie mißtrauisch betrachtete. »Ich habe einen Schreck bekommen, als ich von deiner plötzlichen Abreise hörte,« sagte sie. »Ich fürchtete, es sei etwas Schlimmes vorgefallen. Ich werde sofort zurückkehren, und niemand erfährt, daß ich mein Zimmer verlassen habe, aber ich muß erst wissen ...«

»Was?« fragte er mit wachsamem Mißtrauen – es war eine schwere Prüfung. Die Herzogin that alles, was eine Frau thun konnte, jeden bedenklichen Ausdruck aus ihren Zügen zu verbannen und nur die Miene liebevoller Besorgnis zu zeigen. »Ich wußte nicht, was ich denken sollte,« sagte sie. »Ich war sehr besorgt, aber es kann wohl nichts sehr Schlimmes sein, wie ich hoffe, da ich dich ...« Wie schwer ist es, etwas zu sagen, was nicht wahr ist! Während sie diese Gemeinplätze aussprach, beobachteten ihre Augen jede seiner Mienen aufs ängstlichste. Endlich schien ihr das Herz stille zu stehen. Sie sah, daß zwei Gedecke aufgelegt waren. »Hast du jemand bei dir?« fragte sie mit stockendem Atem.

Er sah sie noch schärfer an. »Jane ist bei mir,« antwortete er.

»Jane!« Die Mutter hatte alle ihre Kraft nötig, um nicht zusammenzubrechen und ihren Seelenschmerz und ihre Enttäuschung durch einen leidenschaftlichen Thränenstrom zu verraten, aber ihr Herz schien still zu stehen, und die Sprache versagte ihr den Dienst.

»Das heißt,« fügte er langsam hinzu – und das Bewußtsein, daß er so vollständig die Oberhand über die Frauen gewonnen und sie in der Gewalt hatte, war ihm ein unaussprechlicher Genuß – »sie ist im Hause. Ich kam noch zur rechten Zeit, um sie davor zu bewahren, daß sie das Opfer eines – eines Schurken wurde, und jetzt, wo ich sie wieder habe, werde ich sie in guter Obhut halten,« sagte der Herzog mit einer bezeichnenden Handbewegung.

»Das Opfer – eines Schurken? Was willst du mit den Worten sagen? Sie klingen ja gerade, als ob du sie aus einem Roman aufgelesen hättest,« entgegnete die Herzogin, aber ihr Herz schlug so stürmisch, daß sie ihre eigene Stimme kaum hörte.

»Du weißt also nichts von der Sache?« fragte ihr Gemahl mit eisiger Ruhe.

Die Herzogin erhob sich: sie war zu aufgeregt, um still sitzen bleiben zu können. »Ich wußte, wenn du das meinst, daß sie heute – dem Mann, den sie liebt – angetraut werden sollte. Was hast du gethan? Hast du dein eigenes Kind um Glück und Leben gebracht?«

Auch er erhob sich. Er hatte seine Ruhe bewahrt, so lange er konnte, jetzt aber gewann sein Zorn die Oberhand über ihn. »Du warst also mit im Komplott!« schrie er fast. »Du! Ich ahnte es, und doch vermochte ich's nicht zu glauben. Du, die die erste hätte sein sollen, meinen Willen auszuführen und meiner Entscheidung Achtung zu verschaffen.«

»Augustus,« versetzte seine Gattin, sehr bleich, aber mit hoch erhobenem Haupte und sich leicht auf die Lehne eines hohen Stuhles stützend, »die Sache darf nicht zu weit gehen. Jane hat nicht nur einen Vater, sie hat auch eine Mutter, und sie hat stets mit ihrer Mutter Zustimmung gehandelt. Das weißt du.«

»Ihrer Mutter Zustimmung!« rief der Herzog mit lautem, höhnischem Lachen. »Das ist ein großer Vorteil, wahrhaftig! Ihrer Mutter! Was hat ihre Mutter dabei mitzureden? Nichts, rein gar nichts! Das mag einem Unkundigen gegenüber vielleicht ziehen, aber du weißt ganz genau, daß du, ausgenommen als meine Bevollmächtigte, mit Jane und ihrer Verheiratung nicht mehr zu thun hast – nicht mehr ...«

»Vor dem Gesetz mag das so sein,« fiel die Herzogin ein, ihre Fassung wiederfindend, »die Stimme der Natur sagt aber etwas andres; in Beziehung auf mein Kind habe ich mich niemals nur als deine Bevollmächtigte betrachtet. Ich habe dir auf hunderterlei Weise nachgegeben – schlimm genug für dich, daß ich so schwach war – aber was Jane anlangt, habe ich es nie für meine Pflicht gehalten, nachzugeben – und werde es nie thun, das ist eine unerträgliche Zumutung,« sagte sie würdevoll und nicht ohne Leidenschaft. »Mein Recht und meine elterliche Gewalt sind dieselben, wie die deinen – bei keinem von uns beiden sind sie unbegrenzt – denn sie ist alt genug, um für sich selbst urteilen zu können.«

»Ach, das arme Mädchen!« versetzte er, mit dem vollen Bewußtsein, daß er nichts sagen konnte, was sie so sehr reizte, und gleichzeitig mit einer rohen Freude, die Frauen, beleidigen zu können, die ihm so nahe standen. »Das ist des Pudels Kern. Du hast ihr eingeredet, es sei ihre letzte Hoffnung. Sie wollte aus alle Fälle einen Mann haben.«

Die Herzogin wurde dunkelrot, aber Erfahrung hatte sie weise genug gemacht, die zornige Antwort, die sich ihr fast mit Gewalt über die Lippen drängen wollte, zurückzuhalten. Mit schweigender Entrüstung, die nicht frei von Mitleid war, blickte sie ihn an, und wandte dann den Kopf ab. Die arme Mrs. Brown! Ihre Koteletten, die so gut, so heiß gewesen waren, standen unbeachtet auf dem Tische. An ihr lag es nicht, daß sie sich nicht ausgezeichnet hatte. Manch andres verkannte Genie hat sein Möglichstes gethan, und dann ist irgend ein Zufall dazwischen getreten und hat die größten Anstrengungen vergeblich gemacht. Wäre die Herzogin nur eine halbe Stunde später gekommen, dann würde der Herzog, nach so vieler französischer Sudelküche, das gesunde Vergnügen gehabt haben, wenigstens eine britische Kotelette zu verspeisen, und die Folge wäre wahrscheinlich gewesen, daß er Mrs. Brown zu einer Stellung in seiner nächsten Umgebung erhoben hätte. Allein es sollte nicht sein. Es wurde an jenem Tage überhaupt kein Gabelfrühstück im herzoglichen Hause an Grosvenor Square eingenommen. Die Verhandlungen wurden noch eine Zeitlang fortgesetzt, und dann hörte man, wie die Herzogin hastig die Treppe Hinanstieg. Mit Thränen heißen Zorns in den Augen und unsäglichem Leid im Herzen, begab sie sich vor das Zimmer ihrer Tochter, klopfte leise und rief Jane mit fast brechender Stimme: »Mein Liebling!« rief sie, »mein süßes, einziges Mädchen!« Es lag etwas Herzzerreißendes in dem Tone. Vorher war alles still gewesen, jetzt aber hörte man Bewegung.

»O, Mutter, liebe Mutter! Komm herein, komm herein! Ich vergehe vor Sehnsucht nach dir!« rief Lady Jane, und dann trat eine Pause atemloser Spannung ein, mit einem seltsamen Verdacht einerseits, und andrerseits mit einem Gefühl tiefer Demütigung und Herzwehs, wie sie sich in Worten nicht schildern lassen.

»Ich kann nicht hineinkommen, meine Liebste. O, mein Kind, du mußt Geduld haben. Ich muß sofort nach Billings zurückkehren, wir haben ja das Haus voll Gäste. Du weißt, es geht doch nicht ...« Aber es ging über ihre Kräfte. Sie brach vor der Thür in ein herzbrechendes Schluchzen aus.

Lady Jane eilte tief bestürzt zur Thür, versuchte vergeblich den Griff zu drehen und schüttelte die schweren Thürflügel.

»Ich kann nicht öffnen,« schrie sie verzweifelt.

»Mutter, Mutter, was ist das? Kannst du nicht hereinkommen? Was hindert dich, wenn ich dich so nötig habe – die Leute im Haus? O, Mutter, ich jammre nach dir, ich bedarf deiner,« schrie sie, wie sie es noch nie im Leben gethan hatte. Und dann folgte ein Auftritt, wie er in einem Lustspiel vorkommen und sehr komisch dargestellt werden könnte, und der doch so herzzerreißend war und diese beiden Frauen mit einem Gefühl überwältigender Bestürzung, einem Bewußtsein vollständiger Hilflosigkeit, der bittern Erkenntnis, was für ein Nichts sie waren, erfüllte, das sie bis in die innerste Seele lähmte – nicht nur, daß er die Macht hatte, so zu handeln, sondern auch das Herz dazu, er, mit dem sie das engste Band verknüpfte, den sie geliebt und dem sie gedient, dem sie ganz zu Gefallen gelebt hatten, die eine während des größten Teils ihres Daseins, die andre seit ihrer Geburt. Was hat die Macht, die ein solcher Mann über seine Frau und Tochter besitzt, zu bedeuten, sagen die Leute wohl, er wird sie nie gebrauchen, um sie unglücklich zu machen. Aber es gibt Möglichkeiten menschlichen Elends in manchen Familien, das niemand ergründen kann und das es oft zweifelhaft erscheinen läßt, ob die Familienbande wirklich so segensreich sind, wie man glaubt. Der Herzog fühlte, daß er jetzt zum erstenmal diese Frauen, so zu sagen, unter dem Daumen habe. Er hatte sie so gefesselt, daß sie sich nicht rühren, keinen Widerstand leisten, ja nicht einmal Hilfe herbeirufen konnten, ohne das Familiengeheimnis preiszugeben. Er blieb in seiner Bibliothek und genoß, mit dem Schlüssel in der Tasche, einen Augenblick des Triumphs. Sie hatten sich gegen ihn verschworen, jetzt aber sollten sie seine Macht rennen lernen.


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