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Elftes Kapitel. Ein neuer Mitwirkender

Der an die Annehmlichkeiten der höchsten Gesellschaftskreise, die wir jetzt zeitweise verlassen müssen, gewöhnte Leser wird ohne Zweifel die Erschütterung, die mit dem Herabsteigen aus dem Hause des Herzogs und seiner erhabenen Gesellschaft in einen von diesen Höhen des Daseins weit entfernten Kreis verbunden ist, schwer empfinden. Nur selten bewegt sich das Dasein ausschließlich auf diesen Höhen; die Forderungen des täglichen Lebens erheischen die Unterstützung der niedriger Geborenen und Gestellten, so daß selbst Herzoge nicht allein fertig werden können. Wir müssen uns deshalb ohne weitere Entschuldigungen sofort in ein Zimmer verfügen, das von den stolzen Räumen in Schloß Billings so verschieden war, wie man es sich nur vorstellen kann – ein kleines Wohnzimmer in einem kleinen Pfarrhaus im Herzen von London, das zu einer der älteren Kirchen gehörte, die dann im Strom des fortschreitenden Lebens aufgegeben worden sind. Die in ihrer Art schöne Kirche lag dicht dabei, eine der Kirchen Wrens, die für eine große protestantische Gemeinde, die mehr Wert auf die Predigt legte, als heutzutage üblich ist, eingerichtet, aber jetzt fast ganz ohne Gemeinde war. Das Pfarrhaus, ein Haus von sehr bescheidenen Abmessungen, hatte, eingeklemmt zwischen Warenspeichern und Geschäftshäusern, wenig Luft und an trüben Novembertagen noch weniger Licht. Der Pfarrer und seine Frau waren eben von ihrer jährlichen Erholungsreise zurückgekommen, und diese Rückkehr zum Nebel, der Feuchtigkeit, den Gaslampen und dem unaufhörlichen Rasseln der schweren Wagen, die um die Ecke fuhren und wenige Schritte von der Thür des Geistlichen geladen und abgeladen wurden, war nicht gerade sehr erheiternd. Wie konnte er inmitten dieses Lärms seine Predigten schreiben, oder über seine Arbeit nachdenken? Diese Frage stellte seine Frau oft voll Entrüstung. Aber freilich, die fünfzig und einigen Leute, die die St. Albankirche füllten, wenn die ganze Gemeinde ausrückte, waren nicht sehr kritisch. In diesen Gegenden müssen die Bewohner nehmen, was sie kriegen können, und noch dankbar sein, und Mrs. Marston meinte, es wäre ganz gut, wenn sie an andern Orten auch dazu genötigt wären.

Mr. Marston befand sich in seinem Arbeitszimmer. Es war ein kleiner Raum dicht neben der Hausthür, der gewählt worden war, damit die Gemeindeglieder ohne Umstände den Pfarrer erreichen könnten, aber nur wenige störten ihn. Im gegenwärtigen Augenblick hatte sein Küster ihm eben die Neuigkeiten aus der Gemeinde mitgeteilt und erwähnt, daß am nächsten Tage um elf Uhr eine Trauung stattfinden solle, die, wie Mr. Sayers, der ihn während seiner Abwesenheit vertreten hatte, hoffte, der Pfarrer selbst vollziehen werde. Der einzige Gemeindedienst, der in St. Alban gelegentlich vorkam, waren Trauungen, und demgemäß war der Pfarrer nicht überrascht. Er ließ das Gas anzünden, obgleich es noch früh am Nachmittag war, um das Buch, worin die Aufgebote verzeichnet wurden, nachsehen und sich überzeugen zu können, daß alles in Ordnung sei. Das Gas wurde angezündet, aber der Fensterladen nicht geschlossen, und durch den oberen Teil des Fensters schien der trübe, graue, farblose Himmel, gegen den sich die entblätterten Zweige eines armen kleinen Bäumchens, das in dem Grasplätzchen vor der Thüre ein kümmerliches Dasein fristete, mit trostloser Schärfe abzeichneten. Das Zimmer war unangenehm warm. Der Pfarrer saß mit dem Rücken gegen das Feuer, las die eingetragenen Aufgebote und sah, daß alles in Ordnung war. Als er aber das Buch zugeklappt und weggelegt hatte, kam ihm ein plötzlicher Gedanke, und er öffnete es noch einmal. Wo hatte er doch den Namen schon einmal gesehen? Es war ein sonderbarer Name, ein Name, der gar nicht zum Kirchspiel St. Alban paßte. Was hatte sie hier zu suchen, eine Dame mit einem solchen Namen? Er legte das Buch zum zweitenmal weg, ergriff es aber gleich wieder und schlug es abermals auf. Pendragon Plantagenet Fitz-Merlin Altamont! Solche Namen hört man nicht oft aneinander gereiht. War es vielleicht eine Schauspielerin, die die schönen Namen ihrer Rollen benutzte? Oder war es – konnte es möglicherweise ...? Mr. Marston konnte sich von dem Eindruck nicht frei machen. Er hatte morgen auch zwei Taufen, die ihn viel mehr hätten in Anspruch nehmen sollen, denn neue Gemeindeglieder waren die interessantesten Dinge von der Welt für den Pastor. Aber der Gedanke an die zweite Möglichkeit ließ ihn nicht los, und die Taufen verloren ihre Wichtigkeit. Lange grübelte er nach, beunruhigt durch die Fragen, die in ihm aufstiegen, und endlich konnte er es nicht mehr ertragen. Er ergriff das Buch und ging über den Hausflur, der noch in der Nachmittagsdämmerung lag, zu seiner Frau, deren kleines Wohnzimmer an der andern Seite fast nur durch das Kaminfeuer erleuchtet wurde. Sie war über sein Kommen sehr erfreut. »Dachtest du, es wäre schon Theezeit?« fragte sie. »Bei dieser Dunkelheit freilich kein Wunder, aber es ist erst drei. Lieber Himmel! Wenn ich an den schönen Sonnenuntergang denke, den wir noch gestern eine Stunde später gesehen haben. Aber London wird schlimmer und schlimmer.«

»Warum lässest du denn das Gas nicht anzünden?« fragte der Pfarrer mürrisch. »Ich muß dir 'was zeigen, aber man kann ja hier nicht sehen.«

»Du sollst im Augenblick Licht haben,« entgegnete Mrs. Marston, »das ist das Gute am Gas. Es verdirbt die Bilderrahmen und zerstört die Blumen, aber man hat immer Licht zur Hand, und es ist stets rein und macht keine Mühe. Da!«

Das aufflammende Gas blendete sie einen Augenblick, dann öffnete Mr. Marston sein Buch und zeigte mit dem Finger auf den Eintrag. »Sieh da, Mary, sieh dir dies 'mal an. Hast du jemals einen solchen Namen gesehen? Was steckt wohl dahinter?«

Mrs. Marston konnte ohne Brille nicht lesen, und die mußte erst gesucht werden. Sie hatte eben angefangen, eine Brille zu gebrauchen, und konnte sich gar nicht damit befreunden, ebensowenig wie mit dem Eingeständnis, daß sie sie nötig hatte, und die Brille war niemals zur Hand. Der Pfarrer hatte gute Augen und betrachtete die Vergrößerungsgläser seiner Frau mit unverhehlter Verachtung. Es machte ihn ärgerlich, wenn er sie umhergehen und danach suchen sah. »Wo steckt nur meine Brille?« sagte sie gewöhnlich dabei.

»Kannst du sie dir nicht an den Hals hängen oder in die Tasche stecken oder sonst 'was thun?« fragte er dann.

Als sie aber endlich gefunden war, legte er das Buch aus den Tisch und wartete, mit dem Finger an der betreffenden Stelle, während sie las. Ihre beiden unter dem Gas über das Buch gebeugten Köpfe, und der bleiche, zum Fenster hereinschauende Himmel schufen ein sonderbares Bild, denn er war lebhaft, während sie, noch unruhig damit beschäftigt, ihre Brille aufzusetzen, keine weitere Bemerkungen machte. »Reginald Winton,« las sie langsam, »Junggeselle, aus dieser Gemeinde. Ich kenne bestimmt niemand dieses Namens in dieser Gemeinde, – warte 'mal, vielleicht ist es der neue Verwalter bei Mullins und Makins ... oder ...«

»Das ist nicht der Name,« antwortete der Pfarrer, der die größte Lust hatte, sie zu kneifen, aber er zügelte sich. »Das ist kein Verwalter, darauf kannst du dich verlassen, aber es ist der andre Name – sieh dir den andern Namen 'mal an. Wo hast du den schon gesehen? Was hat die ganze Geschichte zu bedeuten?« Mr. Marston hatte sich in eine große Aufregung hineingearbeitet und vergaß, daß sie ganz unvorbereitet war. Sie las etwas stotternd, denn die Handschrift war nicht sehr leserlich.

»Jane Angela Pendragon Plantagenet Fitz-Merlin Altamont, Jungfrau, aus der Gemeinde Billings. Lieber Himmel,« war der guten Mrs. Marston erste Bemerkung, »nun, das sind ja für eine Person Namen und Silben genug.«

»Und das ist alles, was dir auffällt?« fragte ihr Gatte.

»Nun, es ist ein sonderbarer Name – meinst du das, William? Sehr albern, einem Mädchen so viele Namen zum Unterzeichnen zu geben. Wenn sie sie alle braucht, wird sie wohl nur die Anfangsbuchstaben schreiben. Sie wird sich Jane Angela unterzeichnen, weißt du, oder wahrscheinlich nur Angela P. P. F. – oder F. M. – Altamont, so wird's wohl sein. Angela Altamont, es klingt wie ein Name aus einem Roman.«

»Na, nun kommen wir endlich der Sache näher!« rief der Pfarrer. »Die Romanschriftsteller benutzen in der Regel die Namen der Aristokratie. Jetzt ist also die Frage: ist dies eine heimliche Trauung und die Braut eine arme junge Dame, die nicht weiß, was sie thut, ein junges Mädchen, das mit dem Hauslehrer seines Bruders durchgeht oder mit einem Musikanten, das arme Ding?«

»Lieber Gott, William, was für 'ne Einbildung du hast!« antwortete Mrs. Marston, und in ihrer Ueberraschung setzte sie sich und zog das Buch näher zu sich heran. »Warum sollten sie gerade nach St. Alban kommen?« fügte sie dann hinzu. »Musikanten wohnen in unsrer Gemeinde nicht. Und die armen Leute geben ihren Kindern jetzt manchmal so großartige Namen. Die arme Nähterin in der Baumwollgasse, weißt du noch? Ihr Kind hieß Ethel Sybil Celestine Constantia – erinnerst du dich noch, wie wir lachten?«

»Aus dem ›Familienkalender‹,« versetzte der Pfarrer mit einer wegwerfenden Handbewegung, »und lauter christliche Namen, das ist ganz 'was andres. Es waren die Heldinnen aus den letzten Romanen; aber meinst du, eine arme Nähterin würde jemals auf Pendragon und Plantagenet verfallen. Nein, denk daran, was ich sage, dies ist eine vornehme Dame, ein armes, irregeleitetes Mädchen, die alles für das wegwirft, was sie für Liebe hält. Armes Kind, armes Kind! Und der Form ist in jeder Hinsicht genügt, so daß ich kein Recht habe, mich zu weigern, die Trauung zu vollziehen. Sayers ist ein Dummkopf!« rief Mr. Marston. »Ich würde sofort Nachforschungen angestellt haben, wenn ich zu Hause gewesen wäre und es wäre mir ein solcher Name vor Augen gekommen.«

»Lieber Himmel!« sagte Mrs. Marston. Das hatte bei ihr nicht viel zu bedeuten, aber sie wiederholte den Ausruf mehreremal. »Gewiß ist es eine wahre Liebe,« fuhr sie endlich fort, »sonst würde sie nicht so weit gehen, und wer weiß, William, ob das nicht besser ist als all ihre Großartigkeit? Lieber Himmel! Ich wollte, wir wüßten etwas mehr über die Verhältnisse. Wenn der Herr hier in der Gemeinde wohnt, könntest du ihn nicht rufen lassen und Aufklärung verlangen?« Der Pfarrer schritt in ganz ungewöhnlicher Erregung im Zimmer auf und ab. Etwas Aehnliches war ihm in seinem friedlichen Pfarrerdasein noch nicht vorgekommen.

»Du weißt sehr wohl, daß er nicht zur Gemeinde gehört,« versetzte Mr. Marston. »Wahrscheinlich hat er die gesetzliche Zahl von Nächten hier geschlafen, und außerdem weiß er, daß ich kein Recht habe, mich einzumischen. Das Aufgebot ist vollständig in Ordnung, und ich kann mich nicht weigern, sie zu trauen. Und welches Recht habe ich, den Mann kommen zu lassen und ihn auszufragen? Er würde mir schon 'was vorzureden wissen. Wenn es so ist, wie ich denke, wird er mir wohl schwerlich die Wahrheit sagen.«

»Lieber Himmel!« wiederholte Mrs. Marston. »Ein Geistlicher müßte wirklich mehr Befugnisse haben; was hast du davon, daß du Pfarrer bist, wenn du nicht einmal in deiner eigenen Kirche eine Trauung hindern kannst, einerlei, ob du sie billigst oder nicht?«

»Na, Mary, es ist doch nicht gebräuchlich, den Pfarrer um seine Einwilligung zu bitten, was?« erwiderte er lachend, für den Augenblick durch den Gedanken erheitert. Allein das brachte kein neues Licht in Beziehung aus das, was zu thun war, und ob überhaupt etwas geschehen sollte, und er zog sich keineswegs befriedigt in sein Arbeitszimmer zurück, da es unvernünftig gewesen wäre, um halb vier nach dem Thee zu klingeln. Mr. Marston that sein Möglichstes, sich zu beruhigen, seine Arbeit wieder aufzunehmen und die Erinnerung an eine Welt, die nicht in Nebel gehüllt war und wo gesunde Lüfte wehten, aus seinem Geiste zu verbannen. St. Alban war eine gute Stelle, die Kirche besaß Vermögen genug für zwei oder drei, und es war ein großes Glück gewesen, daß er sie bekommen hatte, aber manchmal fragte er sich, ob eine Landgemeinde mit zweihundert Pfund jährlich und Bauernhäusern statt der Warenspeicher nicht besser wäre. Das war aber Thorheit, denn hier ereignete sich doch manchmal etwas Aufregendes, was den Geist angenehm beschäftigte, und das war doch ein großer Vorzug. Er hatte sein Buch zum vierten- oder fünftenmal aus der Hand gelegt, um zu überlegen, ob er den Bräutigam rufen lassen, wie seine Frau vorgeschlagen hatte, oder ob er ihn selbst aufsuchen solle, als plötzlich Mrs. Marston in das Zimmer stürzte, und diesmal hatte sie ein dickes Buch in der Hand. Der Pfarrer sah überrascht auf und legte seine Theologie beiseite. Sie kam, wie er bei sich sagte, wie ein Wirbelwind, aber das war durchaus kein passender Vergleich für eine starke, behäbige Frau von fünfzig, die eine große Achtung für ihre Möbel besaß. Allein sie trat mit einer sicheren, um nicht zu sagen siegesgewissen Miene ein, mit ihrem Buch in der Hand, das sie vor ihn auf den Tisch legte, indem sie einige Papiere beiseite schob.

»Da!« rief sie atemlos und erregt. Die Seite war mit einem großen Wappen geschmückt, die gedruckten Zeilen waren unregelmäßig, wie ein Gedicht, und, ach, wie viel teurer, als Gedichte für viele britische Herzen! Es war, wie wir wohl kaum zu sagen brauchen, ein Adelsregister, ein altes Adelsregister, worin die neuesten Nachrichten fehlten, aber für den vorliegenden Zweck nicht zu alt. »Da!« sagte Mrs. Marston, ihren Zeigefinger schüttelnd. Der Pfarrer sah verwirrt hin und las. Er las und erbleichte vor Ehrfurcht und Besorgnis; dann sah er seiner Frau mit vor Aufregung stockendem Atem ins Gesicht. Er war zu erschreckt, selbst um die Worte zu finden. »Hab' ich's dir nicht gesagt?« Denn eine Herzogstochter – an so etwas Großartiges hatte er nie gedacht! Aber seine Frau war in der Freude über ihre Entdeckung weniger zurückhaltend. »Ich war natürlich sicher, daß wir im Adelsregister Aufschluß finden würden, wenn die Sache so war, wie du dachtest, und da steht's ganz ausführlich: ›Lady Jane Angela Pendragon Plantagenet Fitz-Merlin Altamont.‹ Mir blieb der Atem stehen. Wie gut du raten kannst! Und ich schwatze da von Mrs. Singers Kind! Wahrhaftig, ich glaube, es ist eine der vornehmsten Familien im Lande,« sagte Mrs. Marston.

»Ohne Zweifel,« entgegnete der Pfarrer. »Ich habe gehört, der gegenwärtige Herzog sei nicht reich, aber das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Die arme junge Dame! Armes, irregeleitetes Kind – denn natürlich hat sie keine Ahnung vom Leben und weiß nicht, was sie zu thun im Begriff ist. Und was mag der Mann wohl sein? Natürlich ein Schurke,« sprach Mr. Marston erregt, »der sich die Unerfahrenheit eines jungen Mädchens zu nutze macht.«

»Mein Lieber,« versetzte Mrs. Marston, »es mag vielleicht so sein, wie du sagst, aber wenn du nachrechnest, wirst du finden, daß sie achtundzwanzig ist. Achtundzwanzig ist nicht so sehr jung. Und Reginald Winton ist ein ganz hübscher Name.«

»Gerade der richtige Name für einen Hauslehrer oder einen Musikanten oder etwas derart,« antwortete Mr. Marston voll Verachtung. Er war selbst seiner Zeit Hauslehrer gewesen, aber daran dachte er im Augenblick nicht. Er erhob sich und würde im Zimmer umhergegangen sein, wie er es bei seiner Frau machte, wenn es groß genug gewesen wäre. Da das also nicht ging, pflanzte er sich vor dem Feuer auf, wodurch er seine Rockschöße in große Gefahr brachte und seine eigene Hitze erhöhte: indessen achtete er in seiner Erregung nicht darauf. »Und nun ist die Frage, was soll geschehen?« setzte er hinzu.

»Ich meine, du hättest mir gesagt, es ließe sich gar nichts machen? Ich werde selbst morgen in die Kirche gehen, William, und wenn du glaubst, ich könnte mit der armen jungen Dame sprechen – vielleicht, wenn eine Frau mit ihr redete – wahrscheinlich hat sie keine Mutter. Das Buch ist so alt, man kann sich nicht darauf verlassen, aber ich bin der Ansicht, kein Mädchen, das noch eine Mutter hat, könnte so etwas thun. Was meinst du, wenn ich etwas früher hinginge und spräche mit ihr und suchte ihr Vertrauen zu gewinnen, daß sie einsähe, wie unrecht sie thut ...«

»Du willst mit einer Braut am Altar sprechen?« versetzte der Pfarrer, den das Unpassende dieses Gedankens über alle Maßen entsetzte. »Nein, nein, es muß sofort etwas geschehen – es ist keine Zeit zu verlieren. Ich muß an den Herzog schreiben.«

»An den Herzog!« Diese Vorstellung ließ Mrs. Marstons Atem stocken.

»Ich hoffe,« versetzte ihr Mann, den Kopf in den Nacken werfend, »wir beide wissen, daß ein Herzog auch nur ein Mensch ist, und ich bin ein Geistlicher. Ich verlange nichts von ihm, ich will ihm nur einen Dienst leisten. Es wäre sündhaft, wenn ich zögern wollte. Die Frage ist nur, wo ist er zu finden, und wie können wir ihn noch rechtzeitig erreichen? In der Stadt befindet er sich in dieser Jahreszeit wahrscheinlich nicht, ich glaube, es ist, außer dir und mir und noch ein paar Millionen, jetzt niemand in der Stadt, Mary, aber das kann uns nichts helfen – die Frage ist, wo hält er sich am wahrscheinlichsten auf? Dem Himmel sei Dank, es ist noch Zeit für die Post!« rief Mr. Marston, warf sich auf seinen Stuhl und suchte sein bestes Briefpapier hervor.

Allein die Frage, wo der Herzog sich wohl gerade befinden möchte, verursachte beiden viel Kopfzerbrechens. Grosvenor Square, Schloß Billings, Hungerford Place in West Riding, Cooling N.-B., Caerpylcher in North Wales. Als seine Frau einen dieser Namen nach dem andern, mit etwas zweifelnder Aussprache vorlas, rang der Pfarrer die Hände. Die Beratung, die das besorgte Paar hielt, dehnte sich bis zur letzten Minute der Poststunde aus und würde hier zu viel Raum in Anspruch nehmen. Jetzt, wo es so weit gekommen war, hatte Mrs. Marston nicht übel Lust, ihren Mann zurückzuhalten. »Wenn es nun wirklich eine echte Liebe wäre,« sagte sie in einer Pause der Besprechung darüber, ob er im November am wahrscheinlichsten aus seinem Landsitz in Schottland, oder in Wales, oder auf seinem hauptsächlichsten und fürstlichsten Besitztum sei. »Es könnte sich doch wirklich um ihr wahres Glück handeln – und was für ein furchtbarer Schreck würde es für die armen Menschen sein, wenn sie, in dem Glauben, daß alles so hübsch besorgt sei, kämen, um sich trauen zu lassen, und sie fielen dann in die Hände ihres Vaters!« Ihr wurde das Herz weich bei dem Gedanken. Ohne Zweifel war das arme Ding schon frühe der Liebe ihrer Mutter beraubt worden, und andrerseits mußte ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren doch wissen, was es that. Daß eine Tochter ewig ihrem Vater nachgibt, kann man doch nicht erwarten. Und wenn es wirklich eine wahre Liebe war, und das Glück der armen jungen Dame stand auf dem Spiele ...

Der Pfarrer wurde mit diesen Ausführungen sehr rasch fertig. Die Annahme einer wahren Liebe verspottete er in einer Weise, die Mrs. Marston ganz ärgerlich machte. Was wußte eine Herzogstochter von der Armut, fragte er, und wie konnte sie in der Welt für sich selbst sorgen? Und was die Liebe anbetraf, das war in den meisten Fällen Unsinn. Durch das Zusammenleben, und dadurch, daß sie denselben Geschmack und dieselben Gewohnheiten haben, lernen sich die Menschen lieben. Wie konnte wohl ein Hauslehrer, oder ein Fiedler dieselben Gewohnheiten haben, wie Lady Jane, »oder Lady Angela, wenn dir das besser gefällt?« In dieser Tonart fuhr er fort, bis sie ihn hätte ohrfeigen mögen. Und dann mußte er für jeden seiner Briefe – denn er schrieb mehrere, nach Schloß Billings, nach Hungerford und nach Grosvenor Square – einen Groschen extra bezahlen, damit sie die Post noch mitnahm. Schottland und Wales waren hoffnungslos, es war keine Möglichkeit, daß der Herzog, wenn er dort war, noch rechtzeitig eintreffen konnte. Ja, auch so wäre es fast ein Wunder gewesen, wenn er käme. Allein der Pfarrer fühlte, er habe seine Pflicht gethan, und das ist ja immer ein Trost. Er begab sich spät und voll Aufregung zur Ruhe, und mit dem Gefühl, daß niemand sagen könne, was der nächste Tag bringen werde – eine Empfindung, die zweifellos wahr ist, die sich aber dem Gemüt leichter aufdrängt, wenn außergewöhnliche Ereignisse wahrscheinlich sind. Mrs. Marston war während des ganzen Abends etwas kühl gegen ihn gewesen, denn sie hatte vieles, was er gesagt hatte, übelgenommen. Aber erst als jede Möglichkeit, mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, vorüber war, nahm sie Rache und steckte ihm einen Dorn ins Kissen.

»Wenn du nicht so unleidlich gewesen wärest,« sagte sie, »hätte ich dir den Rat gegeben, dich nicht auf die Post zu verlassen, sondern zu telegraphieren. Der Herzog würde dir gewiß die paar Schillinge erstattet haben. Dann hätte er die Nachricht jedenfalls zur rechten Zeit erhalten. So halte ich's für sehr unwahrscheinlich. Und wahrhaftig, es thäte mir um der jungen Leute willen leid. Aber ich hätte an deiner Stelle telegraphiert.«

Seltsam! Daran hatte der Pfarrer gar nicht gedacht.


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