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Zwölftes Kapitel. Halb getraut

Früh am nächsten Morgen war in St. Alban alles in Bewegung. Der Küster war angewiesen worden, die Kirche ganz besonders sorgfältig auszufegen, was diesen Beamten sehr überrascht hatte. Wegen der Trauung – aber Trauungen waren doch nichts Ungewöhnliches in St. Alban – weniger ungewöhnlich als irgend etwas andres. Taufen waren viel seltenere Ereignisse, und verdienten mehr Berücksichtigung, denn wenn das Paar erst verheiratet war, sah St. Alban es wohl kaum jemals wieder, während ein in der Nachbarschaft geborenes Kind doch Aussicht bot, daß es dort heranwuchs und die guten Werke der Gemeinde förderte, oder es wurde vielleicht ein Nutznießer der milden Stiftungen, und das war auch ganz wünschenswert – denn der milden Stiftungen waren viele, und der berechtigten Bewerber wenige. Aber die Trauung war es, um die all dieses Wesen gemacht wurde. »Das muß ganz 'was Feines sein,« sagte der Küster zu seiner Frau. »Es wäre gut, wenn du deinen Sonntagshut aufsetztest und dein gutes Tuch umnähmest. Manchmal wird ein Zeuge zum Unterschreiben gebraucht, und dabei fallen 'n paar Schillinge ab.« In der Nachbarschaft der Kirche war demnach alles Erwartung. Die beste Altardecke war aufgelegt, die Ueberzüge von den Kissen der Kanzel und des Lesepults entfernt, und die Kirche war geheizt worden, obgleich das doch Kosten verursachte. Mr. Marston hatte die ganz richtige Empfindung, daß besondere Vorbereitungen gerechtfertigt seien, wenn die Anwesenheit eines Herzogs in Aussicht stehe und die einer Herzogstochter gewiß war. Er selbst kam früh, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war, und er konnte seine Aufregung nicht verbergen.

»Ist jemand hier gewesen?« fragte er, fast noch ehe der Küster ihn hören konnte.

»Nein,« antwortete Simms und fügte hinzu: »Die Taufen, Herr Pfarrer. Wollen Sie die nach der Trauung vornehmen?«

»O, die Taufen,« versetzte der Pfarrer, »sind die Leute hier? – Ja, natürlich nach der Trauung.« Dann aber fügte er, als ob ihm plötzlich etwas einfiele, hinzu: »Hm, Simms, am Ende wäre es besser, wenn wir die zuerst vornähmen – halten Sie sie wenigstens bereit, daß wir damit anfangen können – es kommt jemand zur Trauung, der – sich vielleicht etwas verspätet ...«

»O, Sie kennen die Gesellschaft, Herr Pfarrer,« sagte der Küster.

Gerade in diesem Augenblick kam Mrs. Marston im besten Hut und einem weißen Shawl herein. Sie trat durch die Sakristeithüre, was eine Gewohnheit von ihr war, obgleich es den Bestimmungen zuwiderlief, und als sie vorbeiging, schoß sie einen Blick auf ihren Gatten und begab sich dann in ihren eigenen Stand, der sich ganz vorn in der Nähe der Kanzel befand. Der weiße Shawl war für Simms überzeugend, ohne daß ein weiteres Wort gesprochen wurde. Wenn sie die Gesellschaft nicht gekannt hätte, wäre Mrs. Marston nie so erschienen. Dadurch erhielt die ganze Geschichte den Anstrich der Ehrbarkeit, während sie vorher, wie Simms dachte, einigermaßen zweifelhaft ausgesehen hatte, denn ganz gewiß gab es in der Gemeinde niemand Namens Winton, selbst wenn der Bräutigam nicht »zu fein« ausgesehen hätte, um zu dem Orte zu passen. Aber wenn sie Freunde des Pfarrers waren!

Sie trafen einige Minuten nach elf ein, in zwei sehr unauffälligen Wagen, von denen niemand sagen konnte, ob es Mietskutschen oder eigene waren. Der Bräutigam kam zuerst, mit einem Herrn, der noch »feiner« aussah, als er selbst. Die Braut kam etwas später in Bekleidung einer achtbaren ältlichen Dienerin und einer andern Dame, deren Kleid und Aussehen so waren, wie man es in St. Alban nie zuvor erblickt hatte. Mrs. Simms war in Beziehung auf Kleider nicht sehr bewandert, aber sie verstand genug, um zu wissen, daß die Einfachheit des Anzugs dieser Dame eine Einfachheit war, kostbarer und großartiger, als der feinste Staat, der je in St. Alban zur Schau getragen worden war. Die Braut selbst war in einen großen, alles verdeckenden grauen Mantel gehüllt. Sogar die bei ihr befindliche Dienerin sah wie eine Herzogin aus, und war offenbar über einen kleinen, traulichen Schwatz mit Mrs. Simms erhaben. Im ganzen war es eine geheimnisvolle Gesellschaft. Neben der Sakristei befand sich ein kleines Zimmer, in das die Damen geführt wurden, um dort zu warten, bis alles bereit sei, während die Herren etwas ungeduldig in der Kirche standen, wo der Bräutigam häufig besorgt nach seiner Uhr sah. Jetzt aber trug sich das Sonderbarste von allem zu. Der Pfarrer, der ihnen zu Ehren die Kirche hatte heizen, die Ueberzüge von den Kissen abnehmen lassen – er, der die Umstände genau genug gekannt hatte, um berechnen zu können, daß jemand spät kommen werde – der Pfarrer schenkte ihnen jetzt, wo sie da waren, gar keine Beachtung. Simms beeilte sich, ihn davon in Kenntnis zu setzen, daß sie alle da seien, aber jener that so, als ob er nichts höre. Simms kam zum zweitenmal, um anzukündigen, »die Herren sagen, sie seien alle da, und alles sei bereit,« aber Mr. Marston rührte sich nicht. Er hatte seine Uhr vor sich aus dem Tische liegen, warf von Zeit zu Zeit einen Blick darauf, und war bleich und erregt. Der Geistliche war bereit, die Hochzeitsgesellschaft war bereit, und es schlug ein Viertel nach elf. Zum besseren Verständnis sei hier bemerkt, daß nach zwölf Uhr mittags in England keine Trauungen mehr vollzogen werden dürfen. Anm. d. Uebers.

»Wir wollen die Taufen vornehmen, Simms,« sagte der Pfarrer mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Die Taufen, Herr Pfarrer!« rief der Küster, der seinen Ohren nicht traute. Dafür eine Hochzeitsgesellschaft warten zu lassen! Aber was konnte Simms machen? Er mußte dem Pfarrer gehorchen, das war seine erste Pflicht. Ganz verblüfft ging er hin, um die beiden Taufgesellschaften aus den Ständen herbeizuholen, wo sie warteten, ganz vergnügt, daß sie erst eine Trauung mit ansehen sollten, ehe sie an die Reihe kamen. Auch sie waren wie vom Donner gerührt, als sie hörten, daß sie zuerst kommen sollten.

»Sind Sie sicher, daß das kein Irrtum ist?« fragte jemand von ihnen, und als er, gefolgt von den bescheidenen Leuten, das Kirchenschiff hinaufging, fuhr der ältere der Herren, der, der Augengläser trug, Simms beinahe an.

»He, holla! Was gibt's da?« rief er, als ob er auf der Straße und nicht in der Kirche wäre.

Simms hielt an und kam näher, als es Lord Germaine, der Wintons Begleiter war, angenehm erschien. Er legte seine Hand zusammengekrümmt an eine Seite seines Mundes und flüsterte hinter dieser Schutzwand hervor: »Zwei Taufen, gnädiger Herr ...«

»Taufen?« rief Lord Germaine, »aber, mein guter Mann, doch nicht vor der Trauung. Bestellen Sie eine Empfehlung an den Herrn Pfarrer – Lord Germ – ich meine nur meine Empfehlungen,« fuhr er eilig fort, »und wir warteten alle, wir wären wirklich alle da und warteten. Er kann doch Braut und Bräutigam nicht zweier Taufen wegen warten lassen,« und dann betrachtete er die beiden armen Mütter durch seinen Kneifer, so daß diese aus Verlegenheit einen Knicks machten – »die Taufen können ganz gut nach zwölf Uhr stattfinden.«

»Ich werd's dem Pfarrer bestellen,« entgegnete Simms – aber er führte die Taufgesellschaften nichtsdestoweniger an die Stufen des Altars, denn der Pfarrer war ein Mann, der Gehorsam verlangte. Erst dann ging er und richtete seine Bestellung aus.

Der Pfarrer saß noch immer in der Sakristei und betrachtete mit sehr ängstlicher und besorgter Miene seine Uhr. »Ist jemand gekommen?« fragte er.

»Sie sind alle da, Herr Pfarrer,« antwortete Simms. »Sie würden doch gewiß das Brautpaar nicht warten lassen, meinte der feine Herr.«

»Ich werde wohl besser beurteilen können, was meine Pflicht ist, als der Herr,« versetzte der Pfarrer scharf und ging ohne ein weiteres Wort in die Kirche, trat an den Taufstein und winkte den Taufgesellschaften, näherzutreten. Inzwischen war die Braut aus dem Wartezimmer herausgeführt und ihr der Mantel abgenommen worden. Sie war einfach in Weiß gekleidet mit einem langen Schleier über ihrem kleinen Hut. Lord Germaine hatte ihr den Arm gereicht und schritt mit ihr dem Altar zu, als die Stimme des Pfarrers verkündete, daß die andre Feierlichkeit begonnen habe. Die Hochzeitsgesellschaft sah sich betroffen an, aber was konnten sie machen? Obgleich Lord Germaine einer von den Zweiflern und Spöttern war, hatte er doch nicht den Mut, eine gottesdienstliche Handlung zu unterbrechen. Da standen sie und warteten, eine sonderbare Gruppe. Als Lady Jane merkte, worum es sich handelte, versuchte sie aufmerksam zu sein und den Gebeten und Vorlesungen, die so wenig zu den Umständen paßten, zu folgen. Winton, der an ihrer Seite stand, war rot vor Verdruß und Ungeduld und konnte sich kaum ruhig halten. Mit fieberhafter Angst sah er nach seiner Uhr. Lord Germaine drückte den Kneifer fester vor die Augen und betrachtete den Pfarrer, als ob dieser ein fremdartiges Tier gewesen wäre. Lady Germaine hatte Mühe, ein lautes Lachen zurückzudrängen, nachdem sie die ganze Gruppe einen Augenblick aufmerksam gemustert hatte. Wäre die Sache nicht so furchtbar ernst, dann wäre sie hoch komisch gewesen. Und die armen Leute am Taufstein konnten auch keine rechte Andacht finden. Sie waren bei dem Gedanken, daß sie einer vornehmen Hochzeit im Wege standen, bis in die innerste Seele erschreckt und konnten es nicht lassen, nach der Braut zu schielen oder wenigstens die weiße Schleppe ihres Kleides, die sich in schwerem Faltenwurf auf dem Fußboden ausbreitete, zu betrachten. Sie meinten es gut und wollten wirklich andächtig sein, aber es gibt Dinge, die zu anziehend für die menschliche Natur sind.

Die ganze Zeit hatte Mrs. Marston die schönste Gelegenheit, wenn sie sie nur hätte benutzen können. Sie saß am ganzen Leibe zitternd in ihrem Stand in der vordersten Reihe und beabsichtigte jeden Augenblick, sich zu zwingen, ihre Pflicht zu thun. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, daß sie eines Geistlichen Frau sei und nicht furchtsam sein dürfe, und daß es ihre Pflicht sei, zu sprechen. Aber wie viel leichter war ihr gestern abend die Absicht erschienen, als jetzt die Ausführung! Denn eins hatte sie nicht vorausgesehen: Lady Germaines Anwesenheit. Sie hatte sich nur ein armes Mädchen vorgestellt, das wahrscheinlich keine Mutter hatte, und für das es vom höchsten Wert gewesen wäre, wenn es mit einer Frau sprechen konnte. Aber die Anwesenheit der andern Dame brachte die gute Pfarrerin ganz aus der Fassung. Da saß sie und sah zitternd und bebend vor Angst und Blödigkeit zu, und doch drängte sie ihr Herz zum Handeln. Und wie hübsch und einfach sah die Braut aus, das arme Ding, und er hatte sie gewiß sehr lieb. So hätte er sie sicher nicht angesehen, wenn es eine Heirat aus selbstsüchtigen Beweggründen gewesen wäre. Aber als sie das Lachen bemerkte, das »die andre Dame« kaum unterdrücken konnte, verdrängte Schreck alle andern Empfindungen in Mrs. Marstons Seele. Lachen in der Kirche, Lachen während einer gottesdienstlichen Handlung! Sie hatte sich auf die Kniee niedergelassen, aber trotzdem schenkte sie, fürchte ich, dem Gebet wenig Aufmerksamkeit. Und selbst der Pfarrer war nicht ganz bei der Sache. Er versprach sich zweimal, und seine Augen ruhten nicht auf dem Buche, sondern aus der Thür. Kam denn noch immer niemand? Gütiger Himmel! Wie langsam schlich die Zeit dahin. Es war schließlich nicht später als halb zwölf, als die Taufgesellschaften sich von den Knieen erhoben. Er hatte in der Verwirrung schneller gelesen, statt langsamer. Noch zwanzig Minuten – und die armen Leute traten vom Taufstein zurück, und schlichen in die erste Sitzreihe, um ihre Augen an der Feierlichkeit zu laben, die nun folgen sollte. Die andre kleine Gesellschaft hatte sich schon vor ihm aufgestellt, und Simms war mit großer Dienstbeflissenheit beschäftigt, sie an die richtigen Plätze zu bringen. Es war nichts zu machen. Kein Zeichen, daß jemand käme. Nun, mehr als seine Pflicht kann kein Mensch thun! Der Pfarrer trat mit den Empfindungen eines Märtyrers vor, öffnete sein Buch und räusperte sich. Er war so aufgeregt und nervös, daß er kaum verständlich sprechen konnte. Bei der ersten Anrede mußte er sich sehr häufig räuspern, und die Gestalten schwammen vor seinen Augen. Er hatte den unklaren Eindruck, es stehe ein süßes, aber bleiches Gesichtchen, sehr feierlich und ergriffen, aber doch ruhig, vor ihm, und daneben ein Mann, der nicht wie ein Abenteurer aussah. Selbst während des Lesens kam ihm der Gedanke, daß er sich für dies junge Paar interessiert haben würde, auch wenn er weiter nichts von ihnen gewußt hätte. Kam denn wirklich niemand? Er wußte kaum, wie er anfing. Dreiviertel, und er wußte nichts mehr, was er hätte thun können, um Zeit zu gewinnen! Stotternd, teils vor Aufregung, teils um die Sache hinzuziehen, fuhr er fort und erhob bei jedem zweiten Wort die Augen, kurz, er beging in fünf Minuten mehr Unschicklichkeiten, als im ganzen bisherigen Verlauf seiner geistlichen Amtsthätigkeit. Als er an die Worte kam, »und wenn irgend jemand begründeten Einspruch erheben kann«, fiel ihm ein, daß das eigentlich ein Hohn sei. Er machte eine lange Pause, und sah sich in einer Art Todesangst um. »Irgend jemand!« Nicht eine Seele – nur Simms, der diensteifrig wartete und an die Schillinge dachte, die ihm in Aussicht standen, und Mrs. Simms, die die Augen aufriß, und die armen Leute, die hatten taufen lassen. Wer von allen diesen würde wohl Einspruch erheben? Und alles ganz ruhig, nicht ein Laut drang von außen herein, außer dem Lärm des gewöhnlichen Verkehrs. Nun setzte er seine feierlichste Miene auf und sah dem Brautpaar voll und streng in die Augen. »Und ich fordere – und befehle euch beiden – so wahr ihr – am Tage des furchtbaren Gerichts –« Schreckliche Worte, und er sprach sie, eins nach dem andern, mit langen Pausen dazwischen. Ein solcher Geistlicher war gewiß noch niemals dagewesen. Lord Germaine hielt seinen Kneifer fest auf ihn gerichtet und studierte diese unbekannte Erscheinung einer neuen Gattung. Lady Germaine, vollständig überwältigt von dem fou rire, das sich ihrer während der Taufen bemächtigt hatte, und fühlend, daß dies ein Erlebnis ganz absonderlicher Art sei, preßte ihr Taschentuch in den Mund und stellte sich hinter Winton, damit die krampfhafte Heiterkeit, die sie nicht zurückdrängen konnte, nicht bemerkt werde. Und jetzt war sogar diese Beschwörung vorüber. So langsam man die Worte auch sprechen mag, es sind eben nur wenige. Der Pfarrer war in Verzweiflung. Noch eine kleine Weile, und sie waren so fest vereinigt, daß menschliche Macht sie nicht mehr trennen konnte. Er mußte anfangen: »Willst du diese Jungfrau ...« Hier aber hielt er inne, sein gespannt lauschendes Ohr hörte durch den gewöhnlichen Lärm, womit es so vertraut war, etwas Ungewöhnliches. Er machte Simms ein Zeichen und wies mit ärgerlicher, ängstlicher Miene nach der Thür. Lady Germaine konnte sich fast nicht mehr beherrschen, das kleine Taschentuch genügte nicht mehr, noch einen Augenblick, das fühlte sie, und ihr Gelächter würde durch die Kirche schallen.

Aber es erschallte nicht – noch einen Augenblick, und etwas andres schallte durch die Kirche, eine laute Stimme, die »Halt!« rief. Lady Germaines Lachlust war wie weggeblasen. Statt dessen stieß sie einen leisen Schrei aus und trat dicht zu Lady Jane, um sie zu stützen. Lord Germaine ließ den Kneifer aus dem Auge fallen.

»Fahren Sie fort, Herr, fahren Sie fort, thun Sie, was Ihres Amtes ist,« sagte er gebieterisch.

Winton wandte sich zusammenfahrend halb um, und beantwortete dann verwirrt die Frage, die nur zur Hälfte ausgesprochen worden war.

»Ich will,« sagte er, »ich will!«

»Fahren Sie fort Herr,« rief Lord Germaine, »fahren Sie fort!«

Inzwischen eilte jemand bleich, atemlos, wütend, durch das Mittelschiff herbei. Trotz der Aufregung und des Schrecks des Augenblicks konnte sich Mrs. Marston nicht enthalten, einen zweiten Blick auf den Herbeistürmenden zu werfen, um zu sehen, wie ein lebendiger Herzog aussähe. Der Ankommende war weiß vor Erschöpfung und Wut. Bis an die Altarstufen trat er vor und stieß Mrs. Simms und den Küster beinahe heftig zur Seite.

»Halt!« schrie er, »halt! Ich verbiete es – halt – Jane!« und faßte seine Tochter am Arm.

Lady Germaine stieß in ihrer Aufregung einen lauten Schrei aus und legte ihren Arm fest um die Braut, während Winton, halb wahnsinnig, ihre unbehandschuhte Hand ergriff, die schon bereit war, sich in die seine zu legen. So von allen Seiten angefaßt, erwachte Lady Jane erst jetzt aus der feierlichen Andacht, in der sie den wichtigsten Schritt ihres Lebens zu thun im Begriff gewesen war. Die Unterbrechungen und Pausen im Gottesdienst waren unbemerkt an ihr vorübergegangen, sie hatte an nichts Aeußerliches, wie Stimmen und Geräusche, gedacht. Die Feierlichkeit des Augenblicks, das Große, das sie zu vollbringen im Begriff war, das Gelübde, das sie aussprechen sollte, hatte sie vollständig in Anspruch genommen. Selbst jetzt, wo sie so rauh erweckt wurde, glaubte sie, daß die Hand ihres Bräutigams die ihrige suche, weil der Augenblick gekommen sei. Sie reichte sie ihm trotz des fremden Griffs, den sie am Arme fühlte.

»Vorwärts, Herr!« rief Lord Germaine, »thun Sie Ihre Pflicht!«

Allein der Pfarrer konnte für den Augenblick ein Gefühl des Triumphs nicht unterdrücken. Er trat einen Schritt zurück und klappte sein Buch zu. Und in diesem Augenblick ertönte ein leises Rasseln im Kirchturm, und eins, zwei, drei – zwölf Schläge schallten durch die Kirche.

»Jane!« hatte der Herzog eben angehoben, und Winton wiederholte seines Freundes Ruf »Vorwärts, vorwärts!« als dieser Klang sich langsam, feierlich, wie der der Schicksalsglocke, auf sie alle herabsenkte. Es lag etwas in dem Klang, das sie alle stille machte, selbst den zornigen und unglücklichen jungen Mann, der seine Trauung unterbrochen und seine Hoffnung in Trümmer sinken sah. Lady Germaine zog ihre Hand zurück, sank auf eine Bank und brach in Schluchzen aus – sie, die noch vor fünf Minuten den unwiderstehlichen Drang zu lachen empfunden hatte: Mrs. Marston weinte in ihrem Stand, und die armen Leute sahen mit voller Teilnahme zu. Des Herzogs Hand ließ den Arm seiner Tochter fahren. Das einzige, was sich nicht änderte, war die Haltung der beiden Hauptpersonen. Sich fest bei den Händen haltend, standen sie vor dem Altar. Selbst jetzt verstand Lady Jane nur halb, was sich zugetragen hatte: es dämmerte in ihr empor, als sie das geschlossene Buch sah, und das Schweigen und den Klang der Glocke empfand. Mit fragendem Blick wandte sie sich Winton zu, lächelte und drückte leise die Hand, die sie hielt. So standen sie da, während die Uhr zwölf schlug, und niemand sprach ein Wort. Als aber die Schläge verhallt waren, erhoben sich mehrere Stimmen gleichzeitig.

»Dem Himmel sei Dank, ich bin zur rechten Zeit gekommen!« rief der Herzog aus. »Jane, keine Scene, mach der albernen Komödie ein Ende und folge mir sofort nach Hause.«

»Ich werde Sie bei Ihrem Bischof verklagen, Herr,« sagte Lord Germaine und vergaß sich so weit, dem Pfarrer mit der Faust zu drohen.

Winton war zu verzweifelt, um sprechen zu können. »Es ist aus,« sagte er im tiefsten Schmerz, »aber wir haben uns einander angelobt, trotz alledem,« fügte er hinzu.

»Lassen Sie meine Tochter los!« fuhr ihn der Herzog an.

»Wir haben uns einander angelobt,« wiederholte Winton. Damit zog er den Trauring aus der Tasche, wo er ihn in Bereitschaft hatte, und steckte ihn zitternd an ihren Finger. »Sie ist mein Weib,« schloß er, sich zur Gesellschaft wendend, als ob er sie als Zeugen anrufen wolle.

Lady Jane zog ihre rechte Hand zurück und legte sie in seinen Arm. Die linke, die den Ring trug, hob sie an die Lippen und küßte diesen. »Ich weiß nicht, was das alles bedeutet,« sagte sie zitternd, doch mit klarer Stimme, »aber ich bin sein Weib.«

»Lassen Sie meine Tochter los!« rief der Herzog noch einmal. Sie sprachen jetzt alle zusammen. Das Paar, das nicht getraut war, wandte sich Arm in Arm um, gerade als ob die feierliche Handlung durchgeführt worden wäre. Wieder faßte der Herzog seine Tochter rauh am Arm. »Jane! Verlaß den Mann! Ich befehle dir, ihn gehen zu lassen! Komm sofort nach Hause!« rief er. »Mr. Winton, wenn Sie einen Funken von Ehre im Leibe haben, werden Sie meine Tochter sofort freilassen. Mein Gott! Sie behaupten, sie zu lieben, und stellen Sie in dieser Weise bloß? Jane, willst du deine Familie lächerlich machen? Komm, komm! Du bedeckst uns mit Schande, es wird deiner Mutter Tod sein.« Er ließ sich herab, zu bitten, so tief war seine Erregung. »Jane, um der Liebe Gottes willen ...«

Lady Germaine erhob sich von der Bank, worauf sie sich geworfen hatte. »O, Herzog!« rief sie, »sehen Sie denn nicht, daß die Sache zu weit gegangen ist? Lassen Sie Jane mit mir gehen, bei mir wird sie nicht bloßgestellt werden. Haben Sie Erbarmen mit Ihrem Kinde! Sehen Sie denn nicht, wollen Sie denn gar nicht sehen, daß es zu spät ist, die Sache noch zu hindern?«

»Lady Germaine,« erwiderte der Herzog, »ich hoffe, Sie können sich die Rolle, die Sie bei dieser Sache gespielt haben, verzeihen, ich kann's nicht. Mit Ihnen wird meine Tochter ganz gewiß nicht gehen. Es gibt nur ein Haus, in das sie gehen kann – das ihres Vaters.« Er faßte ihren Arm fester, während er sprach. »Jane! Dies ist ein schmählicher Auftritt für uns alle, mach ihm sofort ein Ende. Komm nach Haus, das ist der einzige Platz für dich.«

Jetzt trat eine Pause ein, und sie blickten in stummer Ratlosigkeit einander an. Der kleine Kreis der Zuschauer lauschte. Mrs. Marston, deren Thränen kaum getrocknet waren, beobachtete sie mit unruhiger Spannung und erwartete den Augenblick, wo der Herzog kommen und für die rechtzeitige Warnung danken werde. Die jungen Leute thaten ihr wohl leid, und sie fühlte ihretwegen einige Gewissensbisse, aber wenn man sich den Dank eines Herzogs verdient hat – – Der Pfarrer beeilte sich, seinen Chorrock abzulegen, und trat jetzt mit wichtiger Miene und in derselben Erwartung wieder aus der Sakristei.

Lady Jane war die erste, die sprach. »Es ist sehr grausam für uns,« sagte sie, »aber wie die Dinge nun einmal liegen, hat mein Vater vielleicht recht. Ich kann nicht mit dir nach unserm eigenen Hause gehen, Reginald.«

Winton konnte seine Stimme nicht beherrschen, er stieß einen Laut aus, halb Stöhnen, halb Schluchzen. »Gott sei uns gnädig! Nein, das kannst du wohl nicht, mein Lieb – bis morgen.«

»Bis morgen! Dann will ich jetzt in meines Vaters Haus gehen. O, nein,« sagte sie etwas zurückweichend, »nicht mit dir. Reginald wird mich nach Hause geleiten.«

»Lassen Sie meine Tochter gehen, Herr!« sagte der Herzog. »Er soll dich nicht anrühren, er darf dir nicht nahekommen. Was! Du bestehst darauf? Lassen Sie sie frei, Winton, hören Sie? Sie sagt, sie will nach Hause gehen.«

»Vater,« sagte Lady Jane ganz leise, »du bist's, der unsre Würde vergißt. Ich werde nach Hause gehen, wenn Reginald mich geleitet, aber nicht mit dir. Niemand wird unsre Ehre in Zweifel ziehen, aber du hast alles dies verschuldet. Reginald wird mich nach Hause bringen.«

Was der Herzog noch weiter sprach, mag der Vergessenheit anheimfallen. Er mußte zuletzt dabei stehen und, halb betäubt, mit ansehen, wie sie Arm in Arm die Kirche verließen, vor aller Augen wie ein junges Ehepaar. Er folgte ihnen wie in einem Traume und bestieg, eingeschüchtert, aber Rache gelobend, die Droschke, das einzige Fuhrwerk, das Seine Durchlaucht zur Fahrt nach St. Alban am Bahnhof gefunden hatte – und darin fuhr er hinter dem Brougham her, der seine Tochter und ihren – nicht Gatten, aber doch auch nicht Bräutigam – nach Grosvenor Square brachte. Aber wenn er sie erst dort hatte!

Der Pfarrer und seine Frau standen mit offenem Munde und sahen, wie die Herrlichkeit vor ihren Augen zerrann. Der Herzog, dem sie einen so großen Dienst erwiesen hatten, schenkte ihnen nicht mehr Beachtung, als den Taufgesellschaften, die das unbestimmte Gefühl hatten, an der ganzen Sache schuld zu sein. Nicht ein Wort für den armen Geistlichen, der um seinetwillen fast ein Unrecht begangen hatte, nicht einmal einen Blick, nicht die geringste Anerkennung, gerade, als ob er gar nichts damit zu thun gehabt hätte. Auch Simms und seine Frau standen, Mund und Nase aufsperrend, an der Kirchthüre und sahen der Gesellschaft nach, viel zu aufgeregt, um an Schillinge denken zu können. »So werden die Leute behandelt, nachdem sie ihr Bestes gethan haben. Ich habe dir immer gesagt, du solltest dich nicht einmischen,« sagte Mrs. Marston, und das war ebenso unfreundlich, als unwahr. Allein der Pfarrer antwortete nichts. Im Innersten seines Herzens war er sehr ärgerlich. Als aber sich die Aufregung etwas gelegt hatte, wünschte er schadenfroh bei sich, diese feinen Herrschaften von Grosvenor Square möchten einen recht angenehmen Nachmittag haben.


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