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Neuntes Kapitel. Sie handelt für sich selbst

Eine so traurige Gesellschaft hatte der Herzogin kleines Wohnzimmer seit Jahren nicht beherbergt. Sie selbst hatte in alten Tagen, als ihr zuerst alle Verhältnisse des Lebens, in das sie gestellt worden war, klar wurden, manch stille Thräne dort geweint, allein in späteren Jahren hatte sie sich mit der Entsagung des reisen Alters darein gefunden, und sie hatte inmitten all der widrigen Umstände, die sie umgaben, zu viel zu thun, um sich persönliche Klagen gestatten zu können. Aber Lady Jane hatte nie eine der Bürden kennen gelernt, die ihrer Mutter Leben so sorgenvoll machten. Als Winton, noch voll Erregung über den Auftritt, den er soeben in der Bibliothek des Herzogs erlebt hatte, und zu fassungslos, um ihr das Vorgefallene erzählen zu können, hereinstürzte, war das beinahe ihre erste Erfahrung über die Nachtseite des Daseins. Anfänglich war er nicht im stande gewesen, seine Entrüstung über die unwürdige Behandlung, die ihm widerfahren war, ganz zu unterdrücken. Er sagte ihr mit einem gezwungenen Lächeln und flammenden Augen, er habe kaum Zeit, mit ihr zu sprechen, er müsse augenblicklich gehen, ihr Vater habe ihn hinausgeworfen. Aber als er etwas ruhiger geworden war und den Schmerz wahrnahm, den er ihr verursachte, that er sein Möglichstes, die Folgen seines ersten, unbewachten Ausbruchs wieder gut zu machen. Ihre Blässe, die Thränen, die sie nicht zurückzudrängen vermochte, ihr Antlitz, das statt des gewöhnlichen Frohsinns den tiefsten Seelenschmerz ausdrückte, alles das erinnerte ihn an die Thatsache, die er vergessen hatte, daß für sie die Frage noch eine andre Seite hatte. Er versuchte, seine Worte zurückzunehmen, das abzuschwächen, was er im ersten Ausbruch seiner Verbitterung gesagt hatte. »Wir dürfen doch schließlich nicht vergessen, daß es ein großer Schreck für ihn war. Ich bin ein Nichts, ein Hergelaufener, nicht würdig, mich auf dieselbe Stufe mit einer Herzogstochter zu stellen,« sagte er, aber immer noch mit dem Lächeln des verwundeten Stolzes und der Bitterkeit um die Lippen. Lady Jane war zu gebrochen, um viel sagen zu können: sie hörte zu wie ein Märtyrer am Marterpfahl, und duldete schweigend, daß sie mit Speeren und Pfeilen durchbohrt wurde. Ihr Vater! Er war geprüft worden und hatte die Probe nicht bestanden. Was sie unter Rang verstand, das war die ausgesuchteste Höflichkeit, die vornehmste Demut. Ein Mann, der einem andern die Thüre weisen konnte, der unter irgend welchen Umständen einen seiner Gäste fühlen lassen konnte, daß er in seines Gastfreunds Augen kein Fürst sei – ein solches Wesen verstand Lady Jane einfach nicht. Es verwundete sie so tief, daß sie anfänglich sogar die Thatsache übersah, es sei ihr Geliebter, der so aus dem Hause gewiesen worden war. Sie stellte zaghaft einige Fragen, in der Hoffnung, die Sache in milderem Lichte sehen zu können, und als ihr dies nicht gelang, versank sie in Schweigen, mit einem Gefühl von Scham und tief demütigendem Schmerz, den selbst Winton nicht begreifen konnte. Keine andre Hand, kein andrer Vorgang hätte einen so schweren Schlag gegen die Ueberlieferungen ihres Lebens führen können. Ihre Hand in der des Geliebten, saß sie da, aber sie fühlte sich selbst von ihm getrennt. Der Boden schien ihr unter den Füßen zu wanken, sie war unfähig, zu denken oder sich klar zu machen, was nun geschehen solle, bis Winton, seine Aufregung meisternd, nur um einem neuen Schreck zu verfallen, ihr Stillschweigen zu fürchten anfing. »Jane!« sagte er, »Jane, du willst mich doch nicht aufgeben, weil dein Vater mich abgewiesen hat?« Lady Jane wandte ihm das Antlitz zu, lächelte tief schmerzlich und drückte leise seine Hand. Dann machten sich ihre Empfindungen in einem Thränenstrome Luft, und sie schluchzte so leidenschaftlich, wie sie vielleicht noch nie im Leben geschluchzt hatte. Er zog sie an seine Brust, und sie weinte an seinem Herzen und wollte sich nicht trösten lassen. Winton hatte nur eine unklare Ahnung, wie sehr ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttert, wie ihre Welt in Trümmer gestürzt worden war. Er glaubte, der Untergang seiner eigenen Liebe sei die Ursache, und sie ringe sich in diesem herzzerreißenden Schmerzensausbruch zu dem Entschlüsse durch, ihr ein Ende zu machen.

So fand die Herzogin die beiden. Auch sie war bleich, ihre Augen flammten, ihre Nasenflügel bebten. Sie sah ihre Tochter in dieser Leidenschaft, die nur Thränen, aber keine Worte hatte, und Wintons bleiches, von Verzweiflung und tiefem Seelenschmerz erfülltes Antlitz, worin eine noch furchtbarere Angst vor etwas, das er noch nicht kannte, zu lesen war, über sie gebeugt. Als sie eintrat, richtete er einen flehenden Blick auf sie. War es wahr, was er gesagt hatte? War alles aus? Die Herzogin trat an ihres Kindes Seite, ergriff die Hand, die in dessen Schoße lag, und liebkoste sie. »Mein liebes Kind,« sagte sie, »dies ist nicht der Augenblick, schwach zu sein, und du bist nicht dazu gemacht, in einer so entscheidenden Stunde zu unterliegen, Jane. Wir haben nur sehr wenig Zeit, zu einem Entschlusse zu kommen, ehe Reginald fort geht.«

Sie hatte ihn noch nie beim Vornamen genannt, und es lag ein schwaches Lächeln in ihren Augen, als sie den seinen begegneten – ein Lächeln der Verzeihung und mütterlicher Liebe, obgleich er noch nicht um Verzeihung gebeten hatte. Der Klang ihrer Stimme brach den Bann, der Lady Janes Fassung gefangen hielt, und es ging Winton mit einem matten Gefühl des Glücks in all diesem Jammer zu Herzen, als er wahrnahm, daß ihre Mutter einen gewissen Einfluß auf sie ausübe, den sie nicht fühlte, wenn er allein mit ihr war. Zeigte es ihm nicht, daß er ihr zweites Ich war, und daß sie in seiner Gesellschaft ihrer Natur freien Lauf ließ? Aber als die Herzogin eintrat, ward alles heller und hoffnungsvoller. Als sie hörte, was sich zugetragen hatte, war sie weder überrascht, noch niedergeschlagen. Sie strich das weiche Haar aus ihres Kindes Stirn zurück und gab ihm einen tröstenden Kuß. »Ihr Liebsten,« sagte sie, »der Wendepunkt, den ich vorausgesehen habe, ist eingetreten. Reginald muß so bald als möglich gehen. Jetzt ist es deine Sache, zu sagen, was geschehen soll. Du bist mündig, du hast das Recht, für dich selbst zu entscheiden. Als du zuerst mit mir sprachst, warnte ich dich. Bisher hast du noch nie die Last des Lebens auf die eigenen Schultern genommen, aber jetzt ist der Augenblick gekommen. Ich werde mich nicht einmischen, nichts sagen, und auch Reginald wird nichts sagen, wenn ich ihn richtig beurteile, du selbst mußt entscheiden, was du thun willst.«

Winton befolgte Ihrer Durchlaucht Wink, wenn auch mit Widerstreben und beunruhigtem Gemüt. Er verstand nur zum Teil, was sie meinte. Am liebsten würde er die Geliebte festgehalten haben, um ihr noch einmal zuzurufen: »Du wirst mich nicht aufgeben, weil dein Vater mich fortschickt?« Aber er gab dem Blick der Herzogin nach, wenn auch mit dem Gefühl, daß das ein fast ebenso unwiderstehlicher moralischer Zwang sei, wie der, womit ihm ihr Gemahl die Thür gewiesen hatte. Sich vom Sofa, worauf er mit Jane saß, erhebend, blieb er vor ihr stehen, und seine Hand hatte noch lange die Nachempfindung der ihrigen, die sie, wie er meinte, nur widerstrebend frei gemacht hatte. Dieser Vorgang brachte sie völlig wieder zu sich. Sie sah sich mit einer um Erbarmen flehenden Ueberraschung um. »Soll ich allein bleiben,« fragte sie mit zuckenden Lippen, »jetzt, wo ich der Stütze am meisten bedarf?« Und dann trat eine Pause ein. Jane und Winton schien es, als ob die Räder des Lebens angehalten seien und die Welt stille stehe. Niemand sprach, er war dazu nicht im stände, und die Herzogin wollte nicht. Jane saß einen Augenblick, der eine Ewigkeit schien, vollkommen regungslos zwischen ihnen, mit thränenden Augen, bleichen Wangen, zitterndem Munde und Händen, die sie krampfhaft im Schoße gefaltet hatte, als ob sie sich aneinander klammerten, weil sie keinen andern Halt fanden. Als sie endlich wieder sprach, klang ihre Stimme heiser, und die Worte kamen mühsam und mit Pausen dazwischen.

»Was soll ich entscheiden?« fragte sie. »Es war – ist alles – entschieden, – als wir – in der Stadt – erkannten ... Wir können uns nicht verlassen, er – und ich! ... Davon kann jetzt – keine Rede mehr sein. – Nicht wahr? ... Vielleicht verstehe ich's nicht ... es scheint, – als ob ich's nicht verstanden hätte ...« Ihre Züge arbeiteten krampfhaft, aber es gelang ihr, sie in der Gewalt zu behalten. »Ihr meint – wegen der Einzelheiten?« schloß Lady Jane.

Winton, der sich in einem Zustand übermäßiger Aufregung und Spannung befand, konnte es nicht mehr ertragen. Er sank vor dem Sofa, worauf sie saß, auf die Kniee, umklammerte ihre Hände und vergrub sein Angesicht darin. Lady Jane machte eine davon frei und legte sie mit dem mütterlich-nachsichtigen Lächeln, das das Vorrecht der Liebe ist, auf sein gebeugtes Haupt. »Glaubt er, ich sei ein Kind?« fragte sie ihre Mutter mit leiser Verwunderung in den Augen, »oder ich sei nicht fest?« Sie selbst war wieder ruhig, gesammelt, während die andern zitterten. »Gibt es denn noch etwas zu entscheiden für mich?« fragte sie. Niemand wußte später, was in der letzten aufgeregten halben Stunde, die ihnen noch verblieb, gesagt oder gethan worden war. Sie waren übereingekommen, daß »die Einzelheiten«, wovon Lady Jane mit Erröten gesprochen hatte, später geordnet werden sollten, wenn sie alle ruhiger und mehr Herr ihrer selbst sein würden – ein Zustand, den keines der kleinen Gruppe erreichte, bis Winton der Bahnstation zurollte und Lady Jane und ihre Mutter in trostloser Stille in dem kleinen Zimmer saßen, das während der letzten Woche Zeuge so vieler Aufregungen gewesen war. Zusammenfahrend erhob sich die Herzogin, als die kleine französische Uhr auf dem Kamin Eins schlug. »Liebste,« sagte sie, »wir müssen so viel thun, was falsch aussieht, wir Frauen. Du und ich, wir müssen beim Frühstück erscheinen, als ob nichts vorgefallen wäre. Es darf weder rote Augen, noch Zerstreutheit geben. Wenn wir nicht vorsichtig sind, wird's die ganze Welt bald wissen. Was mich anlangt, ich bin, leider, daran gewöhnt, aber du, Jane ...«

Lady Jane antwortete nicht sogleich. »Zu etwas, Mama,« sagte sie nach einer Weile, »bin ich felsenfest entschlossen ...«

Die Herzogin betrachtete sich prüfend im Spiegel, um zu sehen, ob sie rot oder blaß oder überhaupt anders aussah, als gewöhnlich. Sie wandte sich um, um zu hören, was das für ein neuer Entschluß sei.

»Ich werde selbst mit meinem Vater sprechen,« beendete Jane den angefangenen Satz.

Wäre eine Kanone in dem friedlichen kleinen Zimmer abgefeuert worden, die Wirkung hätte nicht größer sein können. »Du willst mit deinem Vater sprechen, Jane? Manche Dinge kenne ich besser, als du. Es wird dir wehe thun, liebes Kind – und ganz umsonst.«

»Aber ich glaube, es ist recht. Es darf nichts unversucht bleiben, seine Einwilligung zu erlangen. Mit seiner Einwilligung wäre alles besser. Ich glaube, es ist meine Pflicht. Jetzt wird es ihm auch keinen Schreck mehr verursachen – er weiß es ja. Daß ich mir ihn so vorstellen mußte, das war es, was mir den größten Schmerz verursachte«

»Aber wenn du ihn nun so sehen solltest?« entgegnete die Herzogin und fügte rasch hinzu: »Ich weiß, du hast recht, aber du mußt hart wie Stein sein und dir vornehmen, dich nicht unglücklich machen zu lassen. Jane, dein Vater denkt in vieler Beziehung anders als ich. Ich habe es versucht, dich davor zu bewahren, daß du mit ihm in Widerspruch geratest, aber er ist alt, und du bist jung, ihr habt verschiedene Ansichten. Wenn sein Gesichtspunkt ein andrer ist, darfst du deshalb nicht glauben, daß er unrecht hat, selbst in dieser Angelegenheit – nicht vollständig unrecht.«

Lady Jane schlug ihre milden Augen auf, die in ihrem unerschütterlichen Rechtsbewußtsein fast streng aussahen. »Ich habe manchmal das Gefühl, daß du nichts für unrecht hältst – vollständig,« sagte sie.

»Vielleicht nicht,« versetzte die Herzogin mit einem Lächeln und einem Seufzer.

»Es erscheint mir edel, daß du so denkst, aber ich kann's nicht. So wird mein Vater doch nicht gegen mich sein,« fügte sie etwas traurig hinzu. »Sei unbesorgt, und ich will mir auch etwas Zeit nehmen – heute nicht, wenn er nicht davon anfängt.«

»Er wird nicht davon anfangen,« entgegnete die Herzogin lebhaft. Sie glaubte, sie hätte wenigstens das gesichert.

Hierauf gingen sie zum Gabelfrühstück. Ein etwas müder Ausdruck in Lady Janes Zügen, ein glänzender Schein in ihren Augen, wie ihn der Himmel nach dem Regen zeigt, verriet einigen scharfblickenden Beobachtern, daß ein aufregender Vorfall die Atmosphäre gestört hatte. Aber für einen noch nicht an Sorgen gewöhnten Neuling hielt sie sich brav, und die Herzogin war einfach vollendet. Bei ihr schien jede Bewegung ein ungetrübtes Gemüt, anmutige Herablassung zu verraten. Was konnte auch eine so große Dame für Sorgen haben? Sie war liebenswürdig gegen jedermann und unerschöpflich an Vorschlägen zur Unterhaltung und zu Ausflügen, da der Nachmittag schön zu werden versprach. »Mr. Winton würde ein angenehmer Zuwachs zur Gesellschaft gewesen sein, aber leider ist er heute morgen abgereist,« sagte sie mit vollkommen ruhiger Stimme. »Also war doch nichts daran,« flüsterte die kleine Lady Adela ihrer Mutter zu. Aber Lady Grandmaison, die eine Frau von Erfahrung war, schüttelte den Kopf.

Und am nächsten Morgen stieg Lady Jane bleich, aber mutig, mit heftig pochendem Herzen, aber entschlossen und unerschütterlich die Treppe hinab und klopfte an des Herzogs Thür.


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