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Kiel

Noch im Oktober hatte sich, gemeinsam mit den obersten Befehlshabern der Landmacht, der Chef der Seekriegsleitung zu dem Entschlusse durchgerungen, die deutsche Hochseeflotte zu einem letzten Schlage gegen den Feind auszuspielen. Nicht die Erwägung allein, daß vielleicht das Seeglück die Engländer geschlagen und geschwächt zu den nahen Waffenstillstandsverhandlungen führte, hatte die beiden Befehlsstellen zu dem Vorhaben gebracht. Die deutschen Heere waren auf dem Rückmarsch. Vom Meere her konnten sie in der Flanke beunruhigt und, wenn die Engländer in Antwerpen Truppen ans Land schafften, im Rücken sogar gefährdet werden. Der Sicherungsabsicht mischte sich Hoffen auf innere politische Wirkung bei, die von letztem großen und erfolgreichen Einsatz ausstrahlen müßte. Auch das Heroische eines kühnen Gedankens vor tatenlos schmachvollem Ende mochte mitsprechen. An den Admiral von Hipper, den Chef der Hochseeflotte, den Führer im Treffen an der Doggerbank, erging der Befehl, mit den Schiffen zum Schlagen auszufahren.

Den Aufmarsch seiner Streitkräfte begann der Admiral in der vierten Oktoberwoche. Ohne Reibung setzten sich, rasch und mit gewandter Technik die ersten Vorbereitungen in Tat um, zumal dies durch Leute geschah, die sich die Schnelligkeit der Bewegung, oft genug am Feinde, mit der Gewohnheit furchtlosen Wagemuts bewahrt hatten. Die Tauchboote fuhren aus. Von Emden, von Cuxhaven, von Wilhelmshaven. Sie fuhren in zwei Staffeln, zehn Boote mit Sperrbrechern am 25. Oktober, zwölf mit Sperrbrechern vier Tage später. Und auch die leichten Streitkräfte dampften mit erstem Alarm. Sie eilten mit den ersten Tauchbooten fort. Ihr Aufmarsch galt den Vorposten. Die Boote lagerten sich vor die englischen Flottenstützpunkte. Sie warteten, sie lauerten auf den Anmarschwegen der britischen Schiffe. Als die zweite Bootsstaffel am 29. Oktober die Heimathäfen verließ, ging die vierte Aufklärergruppe nach Cuxhaven hinauf. Der Befehl des Admirals war gewesen, dort Minen an Bord zu nehmen; das tat die Gruppe, mit den Minen kam sie auf Schilligreede wieder an. In den Bassins von Wilhelmshaven lagen die Schwerstreitkräfte. Das erste Geschwader der »Helgolandklasse«, acht Dreadnoughts, befehligte der Vizeadmiral Boediker. Das dritte Geschwader der »Königsklasse«, in seiner Mitte das Flaggschiff des Flottenchefs »Baden«, befehligte der Vizeadmiral Krafft. Unter Kontreadmiral Meurers Kommando warteten die Schiffe der »Kaiserklasse«, das vierte Geschwader. An sie alle erging der Befehl des Flottenchefs am 28. Oktober 1918. Sie alle sollten nach Schilligreede. Sie waren vierundzwanzig Stunden später bereit. Die Kolosse begannen sich zu rühren. Aber plötzlich gab es einen Zwischenfall.

Heizer des dritten Geschwaders verweigerten den Dienst. Sie lehnten sich nicht offen auf: sie versagten an den Feuern. Sie heizten so, daß die Befehlserfüllung gefährdet war. Allmählich wurden sie kühner. Sie rissen von Schiff zu Schiff die Brände aus den Kesseln. Von den Türmen des »König«, des »Markgraf«, des »Kronprinz«, des »Kurfürst« funkten Signale die Meldung davon dem Linienschiff »Baden« zu. Dort las aus ihnen der Flottenchef von Hipper noch kein Ereignis von tieferem Ernst. Auf Schilligreede sollten die Befehlshaber durch Ansprachen die Heizer begütigen. Langsam dampften die Schlachtschiffe fort. Auf Schilligreede lagen sie jetzt einen Tag.

Es war am Abend dieses Tages, daß auch das erste Geschwader aufbrechen sollte. Aber unmittelbar vor der Ausfahrt gab es Unruhen auch hier. Ein Teil der Matrosen lief zusammen. Auf dem Vorderdeck der Schiffe rotteten sie sich zu wilden Haufen. Unklares Reden, unklares Murren war unter ihnen. Und endlich der Schrei:

»Wir machen nicht mehr mit!« – –

Jetzt überstürzten sich die Signale. Ratlose Offiziere gaben sie. Noch immer übersah Admiral von Hipper die Bewegung nicht. Zuchtlose und Pflichtvergessene glaubte er zu erkennen: keine Sturmzeichen. Einen Augenblick erwog er, daß er durch eine Gruppe Unbotmäßiger aus unbekanntem Grund einen großen, feststehenden Operationsplan nicht durchkreuzen lassen dürfe. Er befahl Strenge. Gleich darauf marschierte die zwölfte Torpedodivision im Bassin auf. Sie legte sich um Schiff und Schiff. Denn die Torpedoleute gehorchten. Vierhundert Meter vor jedem Dreadnought zogen sie den Todesring, aus dem kein Entrinnen war. Dann schwenkten sie die Rohre aus, an den Torpedos bereit, die Schlachtkolosse im Hafen zu versenken. Aber da entschloß sich Admiral von Hipper mit jäher Willensmeinung anders. Die Härte so furchtbaren Gerichts über Schiffe der eigenen Flotte brachte er zuletzt nicht auf. Ihm schien es genug, wenn er die offenen Meuterer unschädlich machte. Marineinfanterie, handfeste Seesoldaten, aus Wilhelmshaven heraufgeholt, stürmten auf die »Thüringen« und »Helgoland«. Die Rädelsführer brachten sie in Haft von Bord. Die Torpedodivision zog sich zurück. Die Großkampfschiffe waren gerettet. Darüber war ein neuer Morgen herangebrochen. Für den Flottenchef zugleich die Einsicht: mit dem Geiste des Aufruhrs auf zwei Geschwadern konnte kein Vorstoß gegen den Feind gelingen. In der Frühe des letzten Oktobertages gab er den Vorstoß auf.

Das Ereignis meldete er nach Spa. Die Flotte schickte er auseinander. Trennung der Geschwader schien ihm noch das Beste. Vizeadmiral Boediker sollte mit seinen Schiffen nach Brunsbüttel, Kontreadmiral Meurer in Wilhelmshaven verbleiben. Dem Vizeadmiral Krafft befahl er, das dritte Geschwader nach Kiel zu führen. Auf seinen Fahrzeugen hatte der Aufruhr begonnen. In Kiel sollte die Besatzung, in strengem Dienst, bei hartem Geschützexerzieren, wieder zur Besinnung kommen.

Die drei Geschwader schienen gehorchen zu wollen. Sie suchten nicht mehr den Feind. Sie hatten die Heimathäfen zu suchen.

 

Die Revolte auf den Linienschiffen hatte sich über Nacht erhoben, unbegreiflich den Befehlshabern, indes begründet durch den Geist deutscher Flottenpolitik, durch das Zuständliche im Marineapparat seit Kriegsbeginn. Seit noch früherer Zeit. Es war der Großadmiral von Tirpitz gewesen, allmächtig bis hart vor dem Kriege, der das Programm der großen Linienschiffsgeschwader als ersehntestes Kampfmittel um jeden Preis durchzuführen gedachte. Auch er, der allmählich alle wichtigen Stellen um sich mit Männern seiner Gedanken oder Männern geringer Widerstandskraft zu besetzen wußte, gab sich über die Funktionen der deutschen Flotte so unklare Rechenschaft wie Kaiser Wilhelm II. Auch er vermochte nicht, obgleich er die Hilfe des Kaisers hatte, die deutsche Flottenstärke so zu steigern, daß sie die Beherrscherin der Meere oder eine Seemacht würde, mit der niemand einen Zweikampf wagte. Aber obgleich dieses Ziel nicht erreicht werden konnte, überschritt auch er, oder vor allem er, die Grenzen einer Seemacht, wie sie etwa Frankreich gezogen waren und von England noch ertragen wurden. Auch er verkannte die selbstverständlichen und von niemand mißdeuteten Aufgaben jeder Flotte für ihr Land, er überschätzte den ihr von selbst bestimmten Rahmen. Das Bauen der Geschwader, das die Welt beunruhigte, das Englands Mißtrauen immer wach erhielt, förderte er mit Energien, die um des Hauptzieles willen bewußt waghalsige Opfer brachten.

Die Grundlage seiner Flottenstrategie war, daß die Entscheidung in einem Seezusammenstoße von Briten und Deutschen nahe den heimatlichen Stützpunkten fallen müsse. Alle Baupläne und Entwürfe waren bedingt durch die natürlichen oder von veralteter Technik geschaffenen Verhältnisse der Heimatküste. In der Nordsee verlangten die Wassertiefen der Flußmündungen, in Wilhelmshaven die Enge von Schleusen und Bassins Bescheidenheit der Maße auch im Bau von Seeriesen. Sie hatten Beschränkung zu wahren in Länge, Breite, Tiefgang. Aber der Großadmiral setzte alles daran, vor allem hier die Möglichkeiten neu zu weiten. Neue gewaltige Schleusen, neue gewaltige Hafenanlagen wurden gebaut. Ihren Aufwand steigerten noch die Kosten, mit denen der Flottenvorkämpfer nunmehr, ungeheuerlich für jede Kampfeinheit, überall die größten Typen anstrebte. An Schutz und Schwimmfähigkeit gab der Großadmiral ihnen alles, was ihnen das Ausharren gegenüber überlegenem Feind ermöglichen könnte. Die leichten Streitkräfte sah er zunächst als eine Waffe an, die dem Gegner die nahe Blockade erschweren sollte, mit der der Großadmiral rechnete. Durch die deutsche Technik ließ er auch die leichten Streitkräfte mit kostspieligsten Errungenschaften modernen Waffenwesens versehen; nur sparte er bei ihnen durch Ansetzen kleinen Tonnengehalts und kleinen Aktionsradius. Seine Kritiker, seine Widersacher, die Linksparteien im Reichstag, die das Reich unter Rüstungsopfern nicht verbluten, am Welthorizont nicht selbst beschworene Wetter wollten heraufziehen lassen, beschwichtigte er durch Zugeständnisse. Stets war er bereit, am Flottenpersonal zu sparen. Der Großadmiral glaubte an Weltwetter, die sich am Horizont wieder verziehen mußten, er glaubte nicht an Krieg, für den nach seiner Auffassung Kaiser Wilhelm II. nicht geschaffen schien. Es galt nur, das Rüstzeug späterer Zeit zu schaffen, ein blitzblankes, starkes Instrument. Menschen waren immer da. Er hielt auch nicht viel von den Tauchbooten. Sie waren eine »Maschinenfrage«. Vorläufig hatte die Technik zuverlässige Maschinen nicht. An Massenbauten problematischer Unterseewaffen wollte er um so weniger Riesensummen verschwenden, je weniger er davon überhaupt hatte, wiederum in der Überzeugung von Wilhelm II. Kriegsabneigung. So reihte er Geschwader an Geschwader, verzichtete auf Tauchboote, die erst Engländer und Franzosen einmal ausproben sollten, und sparte an Mannschaften.

Es warf dann der Kriegsausbruch 1914 sein ganzes Programm mit einem Schlage um. Was als Stärke der Zukunft gedacht war, bedeutete schwersten Nachteil der Gegenwart, fast Kampfunfähigkeit. England verhängte die Blockade. Aber sie hatte ungeheuerlichen Umkreis: der bescheidene Aktionsradius der leichten Streitkräfte erreichte sie nicht. Die Mannschaftsersparnisse der Flotte zeigten sich jetzt als so groß, daß der Dienst der Flotte litt. Die »Maschinenfrage« der Unterseeboote hatte, knapp vor den Toren des Krieges, die Erfindung des »Dieselmotors« gelöst. Fiebrig begann der Bau der Tauchboote, für die aber Offizier und Soldat und Maschinist nicht da waren. Alles war anders gekommen, als der Großadmiral von Tirpitz sich gedacht und errechnet hatte. Überall stand die Admiralität vor völlig unerwarteten Problemen. Nur überlegene geistige Kraft, nur einheitlich überlegener Wille konnte, als die Not brannte, Rat und Ausweg aus den Irrtümern von Jahren, aus den Folgen der Irrtümer schaffen.

 

Aber die oberste Befehlsgewalt über die Marine war zersplittert auf bedenklichste Art. So unklar war die Frage, wer zuletzt wirklich zu beschließen, wer zu entscheiden hatte, daß der Flottenerziehung, den Flottenaufgaben im Kriege, ausgesprochene Richtlinien kaum mehr gewiesen werden konnten. Nicht der Großadmiral von Tirpitz hatte, als der Krieg da war, die wirkliche Macht der Führung, obgleich gerade ihn seine Vergangenheit als den bestimmenden Machtträger hätte vermuten lassen. Einflüsse in der Umgebung des Kaisers, die an dem persönlichen Wesen des Großadmirals manchen Zug nicht mit freundlichen Blicken sah, Einflüsse namentlich des Admirals von Müller, der als Chef dem Kaiserlichen Marinekabinett vorstand, versuchten gegen den Großadmiral den Chef des Admiralstabes auszuspielen. Mystische Anlagen im Seelischen des Kabinettvorstandes, dem das Seeoffizierkorps ein fremder Körper war, der selbst höhere Führung nie geübt hatte, wußten sich dem kaiserlichen Bedürfnis nach mystischer Romantik immer unentbehrlicher zu machen: aus seelisch verwandten Strömungen, die einander täglich begegneten, erwuchs unverantwortliche Macht, die in die nüchternen Notwendigkeiten des Kriegsinstrumentes zwar gebieterisch, aber nicht immer nach Kenntnissen, Erfahrung und Sachlichkeit eingriff. An der Seite des Großadmirals wuchs, früher sein Mitarbeiter und sein Mitkämpfer, der Admiral von Pohl empor, als Chef des Admiralstabes mit größerem Einspruchsrecht bekleidet als zuvor. Nicht allein der Admiralstabschef sollte fortan mehr zu sagen haben als bisher, auch die Stellung des Chefs der Hochseeflotte, des Admirals von Ingenohl, erfuhr bedeutende Stärkung. Überdies verschob ein Wechsel in den höchsten Stellen die Befehlsgewalten. Den Admiralstabschef löste, als der Admiral von Pohl selbst der Führer der Hochseeflotte wurde, der Admiral von Holtzendorff ab. Auch ihn, der ein Grandseigneur von bestrickender Liebenswürdigkeit, ein Mann von blendender Erscheinung, einst von ausgesuchten Fähigkeiten, doch jetzt ebenso von der Erschöpfung kommenden Alters, wie von seinem Behaglichkeitsbedürfnis belastet war, auch ihn, der hundert gute Einfälle bei blinkendem Weine hatte, die seinem Gedächtnis verwischt am nächsten Morgen waren: auch ihn hatte die Fürsprache des Admirals von Müller hochgehoben, den die Seeoffiziere und die Männer des Marineamts – im Anklang an den berüchtigten Beichtpriester des Zaren Nikolaus II. – allmählich den »Rasputin der Marine« nannten. Und als der Großadmiral von Tirpitz als Staatssekretär des Reichsmarineamts überhaupt seinen Abschied nahm, trat abermals ein neuer Mann auf den Schauplatz, Admiral von Capelle, vor langen Jahren als Korvettenkapitän wirklich bei der Flotte, dann fast ausschließlich mit Verwaltungsfragen im Reichsmarineamt beschäftigt, ein Marinefachmann am grünen Tisch, kaum mehr ein Seeoffizier. Es kam 1917 noch hinzu, daß eine neue »Seekriegsleitung« geschaffen, Admiral von Holtzendorff in Spa ihr Haupt, der Admiralstabschef zu einer machtentkleideten Figur umgebildet wurde. Es war eine unaufhörliche Bewegung, mehr von Würdenträgern, als Trägern der Gewalt, von denen keiner durch überlegene Fähigkeit oder Haltung die wirkliche Führerschaft an sich zu bringen imstande war. Zwischen ihnen allen schien nur der Admiral von Müller die Fäden zu knüpfen, an denen er den Chef der Seekriegsleitung, den Staatssekretär, den Flottenchef, nie aber die Flotte bewegte. Nichts geschah unterdes. So war es zu später Stunde, daß der Admiral Scheer die »Seekriegsleitung«, der Admiral von Hipper die Flottenführung erhielt. Zwar knüpften sich an ihre Namen zwei Schlachtrufe von Klang: Skagerrak und Doggerbank. Aber entscheidende Wandlung hatte sich im Geiste der deutschen Flotte inzwischen vollzogen.

Vier Jahre lang kauerten die Matrosen nunmehr schon zwischen den Eisenrippen, oder, wie sie es nannten, im »Bergwerk« der Linienschiffe.

 

Sie kauerten in ihren Kasematten, zwischen nackten, eisernen Wänden, sie hockten auf eisernen Bänken vor eisernen Tischen, von denen sie jede Holzverkleidung, jede schmückende Leiste hatten fortreißen müssen, als der Krieg ausbrach. Sie taten vier Jahre ihren Dienst, manche schritten ins siebente Jahr, ihr bürgerlicher Beruf war ihnen entglitten, sie hatten jeden Zusammenhang mit ihm verloren. Zu ihren Familien, von denen sie nur aus Briefen wußten, wie sie lebten, hatten sie bloß die Wege der Sehnsucht. Tötlich war dieser Dienst auf den Linienschiffen, in dem es kein Aufrücken gab, weil die Tatenlosigkeit nie die Verhältnisse änderte und die einmal Ausgebildeten, unersetzlich für jede marschbereite Flotte, stets an den gleichen Hebeln, mit den gleichen Griffen ihre leere, maschinierte Übung hielten. Ihre Kampflust, ihre Frische, die zweimal in der Gefahr der Schlacht die Gesichter ihrer Führer vor Stolz hatten leuchten lassen, waren längst verflogen. Die Besten unter ihnen, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, immer mehr davon, holte andere Verwendung fort. Die Besten fuhren auf den Tauchbooten aus, sie waren Flieger im Orient, im Baltenland, sie lagen in Flandern, in Cattaro und Pola, von dort her jagten sie im Mittelmeer. Schließlich wurden die Linienschiffe kaum mehr als ein Kämpferreservoir für Tauchbootwaffe und Fliegerwaffe, immer schwächer an Zahl, noch schwächer an Kerntruppen, immer deutlicher mit den Wesenszeichen einer Etappe, kaum mehr verwendungsfähige Waffe der Front.

In aller Herren Länder fuhren die Seeoffiziere umher. Die auf den Linienschiffen verblieben, sahen und hörten, was ihre Kameraden in der Ferne vollbrachten, mit der stumpf werdenden Bedrücktheit zu lange gefesselten Ehrgeizes. Die Divisionsoffiziere auf den Linienschiffen wurden allmählich an Zahl zu knapp, um den Umgang mit den Matrosen, denen sie befahlen, so vertraulich zu halten, daß ein einziger Geist beide, Offiziere und Seesoldaten, zu einer Einheit machte. Den Seesoldaten fehlte Seefahrt und Kampf, den Seeoffizieren die Gelegenheit zu Auszeichnung und Beförderung, den höheren Führern die Möglichkeit, große Entschlüsse mit kraftvollem Schwunge durchzuführen. Vier Jahre lang wurde exerziert. In Wilhelmshaven und in Kiel. Öde lag die Flotte.

Manchmal durften die Mannschaften an Land. Sie gingen nach Wilhelmshaven und Kiel. Dort stauten sich, ungünstig in gedrängten Notquartieren, die verzettelt lagen, vieltausendköpfige Haufen wartender hungernder Seesoldateska an, in der Rolle eines Etappenkorps, das den Nachschub, die seltene Auffüllung, die Ausbildung von Mannschaften im ersten Stadium, allerlei andere Bedürfnisse für die Kampfflotte zu besorgen hatte. Dort sammelte sich, dort sammelte die Marineleitung, was untauglich – körperlich oder seelisch – auf den Schiffen wurde. Nie hatte der Gegner versucht, die Seefestungen Kiel und Wilhelmshaven ernstlich anzugreifen. Die Seefestungen rosteten ein, da sie in Sicherheit sich wiegten. Bewegung war in ihnen nur durch die Arbeiter der kaiserlichen Werften. Durch ihre Reihen schritt ungehindert die Politik, in der zweiten Kriegshälfte noch freier als zuvor. Die Arbeiterschaft der kaiserlichen Werften schied sich endlich voneinander nur dadurch, daß sie in Kiel der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands«, in Wilhelmshaven der »Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« sich zubekannte. Auf den Linienschiffen lasen verödete, gelangweilte Seesoldaten, mäßig ernährt zwischen Eisen, Monate ohne Weib, propagandistische Schriften und sozialistische Blätter, in Wilhelmshaven und Kiel besprachen sie, was sie gelesen, wenn sie sich nicht bei Hafendirnen umtrieben. In Wilhelmshaven und Kiel hörten sie, was die Arbeiterführer ihrem Anhange sagten. Es war dann schon im Jahre 1917 gewesen, daß ein Aufruhr auf einzelnen Schiffen der Hochseeflotte emporgeschlagen hatte, und daß die Untersuchung der Meuterei die Führer der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei« Dittmann, Haase und Ledebour als mitverstrickt in die Hauptursachen festgestellt hatte. Ein abschreckendes Beispiel an einigen Wenigen der Meuterer war sofort gegeben worden. Die Untersuchung unter dem Vizeadmiral von Dalwig lief weiter geraume Zeit. Aber als sie abgeschlossen war, hatten Marineleitung und Regierung, zugleich die Volksvertretung nicht den Mut, die Urteilsfolgen auszusprechen. Die Marineleitung fürchtete den Eindruck bei dem Gegner, der neue Urteilsvollstreckungen als Ergebnisse neuer Meutereien hinstellen könnte; die Regierung scheute Verwicklungen, scheute die Kampfansage der sozialistischen Parteien, wenn sie die zwar überwiesenen, schuldigen Arbeiterführer den Gerichten überlieferte. Der Reichstag stand unbehaglich vor dem Ereignis. Im Bewußtsein der Öffentlichkeit, der Befehlsstellen, aller Beteiligten, von denen Beschlüsse in der Angelegenheit hätten gefaßt werden müssen, verwischte sich die Tatsache der Revolte. Die Mannschaft auf den Schiffen tat wieder Dienst. Sie schien beruhigt. In freien Stunden fuhr sie weiter nach Wilhelmshaven und nach Kiel.

Unruhe hatte bei dem Ereignis der Revolte, mehr noch bei der Art, wie sie geahndet wurde, die Seeoffiziere erfaßt. Sie hatten bisher ein einziges, kaum sühnbares Verbrechen gekannt: Verweigerung kaiserlichen Dienstes. Daß es auch Aufruhr geben konnte, hatten sie überhaupt nicht begriffen. Jedem politischen Denken war der Seeoffizier fremd. Er war erzogen in Dienst und Überlieferung, erzogen zu Kampf, Opfer und Tod. Daß auch er vier Jahre lang in Untätigkeit verharren mußte, konnte Verdrossenheit wecken. Aber der Wille des Kaisers forderte Gehorsam. Das ganze Denken der Seeoffiziere, das Denken ihrer Führer, mußte sich nach der Revolte aufbäumen und umstellen. Sie hatte gezeigt, daß selbst von außen her Rebellion gepredigt werden durfte, ohne daß die entlarvten Prediger Strafe büßten. Milde war plötzlich die Losung auf allen Linien. Und immer verworrener, immer unverständlicher wurde ihnen, die im »Bergwerk« saßen gleich den Matrosen, vereinsamt mit ihrem Offizierstum, wie überhaupt die Entwicklung weiterging von Krieg und Vorgängen in der Heimat.

Eine Waffenstillstandsbitte war an den Feind ergangen. Sie hatten bis heute alle nur an den Sieg geglaubt. Plötzlich hißten die deutschen Heere die weiße Flagge. Sie hatten alle bisher nur einen inneren Feind gekannt: die Sozialdemokraten. Plötzlich wurde Philipp Scheidemann, der ihnen bisher als der leibhaftige »Gottseibeiuns« bezeichnet war, den sie gar nicht anders nannten, kaiserlicher Staatssekretär im Kabinett des Prinzen Max. Sie wußten auch nicht, was dies für ein Prinz war, der Schritt um Schritt der Majestät die Rechte beschnitt. Alles in ihrem Denken stürzte um. Sie taten jetzt »Dienst für Kaiser und Scheidemann«. Keiner wußte, was daraus werden sollte. In ihren Reihen war der Kampf mit neuen Dingen und neuen Ideen. Die Matrosen sprachen von Wilson, vom Frieden, von Völkerfrühling und Weltverbrüderung. Sie mußten dem Feinde von gestern nur die Hand hinstrecken, damit der Feind sie als Bruderhand ergreife. Die harten, stets gefahrumdrohten Männer der Tauchboote, die Offiziere und Soldaten der leichten Streitkräfte, die immerzu in losen Gefechten und in Scharmützeln herumfuhren, kannten diese Bruderhand als schmetternde, eisengepanzerte Faust. Sie lehnten jeden Händedruck ab. Sie schossen, wenn der Gegner kam. Aber in Wilhelmshaven, in Kiel, auf allen Linienschiffen klangen laut die Lieder der Versöhnung. Die Offiziere wußten auch nicht mehr, ob ihre Matrosen überhaupt noch Soldaten waren, denen man befehlen konnte. Zwischen geduldeten Agitatoren waren sie Politiker geworden. Die Offiziere wußten auch nicht mehr, ob man Aufrührerische noch an die Wand stellte, wenn sie Befehle zwischen den neuartigen, berauschten Verbrüderungsreden nicht hörten. So waren sie, die Führer wie die Offiziere, völlig ratlos geworden, als die Heizer die Feuer aus den Kesseln rissen und als die Matrosen murrten.

 

Admiral von Hipper hatte zunächst die Trennung der Geschwader verfügt. Am Herde des Aufruhrs wollte er auch, wie er es zuerst angeordnet hatte, die Schiffe des Konteradmirals Meurer nicht belassen; sie sollten sogleich, nachdem der größere Teil der Flotte abgedampft war, spätestens nach vierundzwanzig Stunden, aus der Hafenatmosphäre fort auf das freie Wasser gezogen werden. Aber am 1. November 1918, als sie fahren sollten, rissen auch die Heizer auf dem Linienschiff »Friedrich der Große« die Feuer aus den Kesseln. Die Dockarbeiter rebellierten, als die Ausfahrt angetreten werden sollte. Die Schleusenarbeiter weigerten sich, die Tore ins Meer zu öffnen. Noch immer glaubte der Chef der Flotte an Gruppen böser, aufrührerischer Geister. Er hatte an der Doggerbank, bei Skagerrak die Kreuzer seines Befehls in musterhafter Haltung fechten sehen. Er hatte sie in musterhafter Ordnung bis in den Spätsommer geführt. All diese Schiffe hielten sich aufruhrfrei auch jetzt, ein Körper von zehntausend Mann, von deren Haltung der Admiral auf die willige, nur von zweifelhaften Burschen verwirrte Grundart der Mannschaft auch bei den anderen Geschwadern schloß. Ohne Zwischenfall war in der Tat auch am gleichen Tage das erste Geschwader nach Brunsbüttel abgegangen. Von Kiel funkte der Admiral Krafft, daß er mit dem dritten Geschwader eingelaufen war. Vorstellungen sollten auch die Ungebärdigen in Wilhelmshaven noch einmal beruhigen. Es gelang nach ein paar Stunden, die Dockarbeiter, die Schleusenöffner zur Besinnung zu bringen. Da wollten auch die Heizer wieder feuern. Der Flottenchef konnte jetzt vielleicht doch ein wenig freier atmen. Denn auch das vierte Geschwader lag, in Stille und Gehorsam, bald auf Schilligreede.

An alle Orte freilich hätte der Flottenchef die kampfunlustigen Schiffe entsenden dürfen, nur an einen Bestimmungsort nicht: nach Kiel. Unausgesprochenes lag in der Atmosphäre der Hafenstadt, vor deren Berührung der Konteradmiral Küsel, der Chef des Stabes beim Stationskommando, den kaum eingetroffenen Geschwaderführer mit schweren Besorgnissen warnte. Keinesfalls dürfe Admiral Krafft die Matrosen in Massen an Land beurlauben. Am besten hielte er sie ganz auf den Schiffen. Urlaubsverweigerung hielt dagegen der Chef des Geschwaders für bedenklich. Unbestimmt und gespannt sei die Haltung seiner Leute, Bürgschaft und Verantwortung übernehme er dafür nicht, daß sein Urlaubsverbot – zumal an dem kommenden Sonntag – nicht Unruhen rufe. Die beiden Admirale kamen überein, die Matrosen nicht in Massen, nur in kleineren Schwärmen in die Stadt zu lassen. Bald darauf liefen die Matrosen an Land.

 

Sie kamen, als die Nacht hereinbrach, nicht zurück. Einzelne kamen spät. Sie hatten eigenmächtig die Urlaubsfrist überschritten. Versammlungen der Arbeiterschaft waren abgehalten worden, da und dort, die Matrosen hatten mitgehört und mitgesprochen. Im »Kieler Gewerkschaftshaus«, zu dem seit Kriegsbeginn den Seesoldaten der Zutritt gestattet war, hatten erregte Menschen viel von politischen Dingen, vom Wandel der Zeit, viel von Weltbrüderlichkeit naher Zukunft gesprochen. Und die Matrosen hatten sich in eifernden Gruppen zusammengefunden, sie hatten Rückkehrbefehl und Dienst, der ihnen nicht mehr das Unantastbarste schien seit dem Erlebnis ihres ertrotzten Bleibens in der Heimat, sie hatten Zeit und Umwelt vergessen. Der Befehl des Geschwaderchefs bestand nicht mehr. Aber noch hatten sie nicht richtig gerechnet. Der Konteradmiral griff ein.

Alles schien ihm verloren, Zucht und Gehorsam, die ganze bestehende Ordnung, wenn er noch eine Minute länger auf seinen Schiffen Zustände duldete, die kein Soldat ertrug. Das erfolgreiche Beispiel der Wenigen mußte über Nacht alle verderben. Er befahl, die Deserteure und Urlaubsüberschreiter zu verhaften. Einige hundert wurden an Bord gebracht. Als Lauffeuer ging die Meldung davon von Schiff zu Schiff. Die Mannschaften berieten. Ihnen schien das Verbrechen nicht schwer. Sie wollten einen Bittgang versuchen, um den Kameraden zu helfen. Sie sandten eine Abordnung an den Konteradmiral, von jedem Linienschiff einen Sprecher. Auch im »Gewerkschaftshaus« berieten Leute der Marine, daß die Haftbefehle wieder zurückgenommen werden müßten. Aber die Bittabordnung wurde nicht empfangen. Der Zutritt zum »Gewerkschaftshaus« sollte von morgen an den Matrosen überhaupt verboten sein.

Der Admiral blieb hart. Einmal mußte Aufrührern auch die Faust gezeigt werden.

Keinesfalls durften sie auf den Schiffen bleiben. Ihre Anwesenheit war Pestgefahr. Die Luft sollte endlich wieder keimfrei auf den Schiffen werden. Die erste Kompagnie des ersten Seebataillons marschierte an Bord auf. Sie hatte die Aufrührer in die Forts der Festung abzuführen. Aber plötzlich weigerte sich die Kompagnie. Die beiden Konteradmirale, auf dem Geschwader und im Stationskommando, verloren nicht den Kopf. Die zweite Kompagnie des gleichen Seebataillons marschierte auf. Sie gehorchte. Sie nahm die Aufrührer in die Mitte. Sie führte sie ab. Aber dies war erst der Anfang des 2. Novembers.

Die Matrosen in der Stadt – vornehmlich Ersatztruppen – beschlossen, sich abermals im »Gewerkschaftshaus« in noch größerer Zahl zu versammeln, obgleich das Betreten des Hauses wirklich verboten worden war. Wieder liefen, wie gestern, die Urlauber von den Schiffen zu den Stadtmatrosen.

Kommende Dinge lagen, als noch verhaltene Erregung, über Hafen und Stadt. Marineinfanterie erhielt Befehl, in Bereitschaft zu warten. Einige der Infanteristen murrten. Die erste Kompagnie des ersten Seebataillons, das auf den Schiffen schon den Gehorsam verweigert hatte, marschierte eigenmächtig in die Kaserne zurück. Der Rest der Marineinfanterie behielt die Bereitschaft. Patrouillen zogen durch den Ort. Das »Gewerkschaftshaus« hielt Wache besetzt. Die Tore waren verschlossen. Die Stadtmatrosen und die Urlauber stauten sich vor dem Hause. Sie dachten noch nicht an Gewalt. Was sie sich zu sagen hatten, konnten sie auch anderwärts tun. Sie riefen neuerlich eine große Versammlung, für den gleichen Nachmittag um 3 Uhr, auf der Kieler »Waldwiese« aus. Dann zogen sie auf den Exerzierplatz. Dort wurde, vor großer Menge, Rede um Rede gehalten. Der Torpedoheizer Artelt sprach. Drei Sprecher der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands«, Männer im Arbeitskittel, erklärten, daß sie mit allen Mitteln die Freilassung der Verhafteten unterstützen wollten. Der Torpedoheizer Artelt eilte in das Parteibureau der Unabhängigen Sozialisten, um sich die Unterstützung ganz zu sichern. Noch hatten die Reden nicht Drohung oder Kampfansage. Dennoch spürte jeder, daß die Dinge auf des Messers Schneide waren.

Zwei Kompagnien Soldaten erhielten Befehl, die Menge zu zerstreuen. Als sie an dem Orte der Versammlung anlangten, war es still. Die Menge war schon auseinandergegangen. Die Nacht brachte keinen Zwischenfall.

Dann kam der erste Novembersonntag herauf. Ruhig lagen die Schiffe des ersten Geschwaders vor Brunsbüttel, und eben jetzt übernahm, ohne jede weitere Zwischenrede, das vierte Geschwader in alter Ordnung den Vorpostendienst. Aber in Kiel stieg die Gärung.

Mit der Stimmung, mit den wirren Absichten der Matrosen hatte eine Versammlung nichts zu tun, in der um die Mittagsstunde im »Gewerkschaftshaus« der Reichstagsabgeordnete Stubbe zu den Werftarbeitern sprach. Die Matrosen wollten sich, unabhängig von der Veranstaltung des Abgeordneten, an diesem Tage zusammentun. Schon am frühen Nachmittag verließen sie die Kasernen. Admiral von Souchon, seit ganz kurzer Frist erst Gouverneur, gebot Einhalt. Die Ereignisse vom Vortage waren ihm Warnung. Jetzt schickte er, um die zweite Nachmittagsstunde, Patrouillen hinter den umherschwirrenden Matrosen drein. Sie hielten an allen Straßenecken, sie riefen unter Trommelschlag den Befehl in die Stadt, alle Matrosen hätten unverzüglich in die Kasernen zurückzukehren. Es war so weit schon gekommen, daß niemand mehr dem Rufe folgte. In den Straßen wuchs die Menge, die sich, bunt durcheinandergemischt, Soldaten, Frauen und Werftarbeiter, drei Stunden später langsam gegen den Exerzierplatz vorschob. Dort war schon wieder der Torpedoheizer Artelt bereit, die Versammlung zu eröffnen, auf die bedächtig der Gewerkschaftsvorsitzende Garbe einsprach, damit sie mit ihren Wünschen und Forderungen noch wenige Tage warte. Aber die Matrosen begannen ihn zu überschreien. Die »Generalkommission der Gewerkschaften« hätte während des ganzen Krieges überhaupt die Sozialdemokraten an der Nase herumgeführt. Keinen Tag wollten sie länger warten. Sie beschlossen, sogleich die Verhafteten des dritten Geschwaders und, wenn man schon daran war, zugleich die Kameraden zu befreien, die noch von dem Aufruhr von 1917 her in den Gefängnissen saßen. Sie gaben das Zeichen zum Aufbruch. Die Menge marschierte die Hamburger Chaussee entlang. Sie sang die »Arbeitermarseillaise«. Hochrufe wurden laut, auf die »Internationale«, auf die »Republik«. Die Parole lief durch den ganzen Zug:

»Weg mit dem Kaiser!«

Die Menge zog dem Bahnhof zu. Dort stand eine Streifschar, jeder Mann ein Unteroffizier. Die Patrouille wurde entwaffnet ohne Widerstand. Die Waffen nahm man auch den Seeoffizieren, die den Zug durch Zufall kreuzten. Sie mußten es geschehen lassen. Die Militärbehörden hatten, damit die Wachen und Patrouillen sich verstärkt fühlten, besondere Einheiten noch aus Kapitulanten und Maschinenapplikanten gebildet, die sie verläßlich glaubten. Auf dem Markte war, als die Aufrührer und ihr Anhang vorbeikamen, solch eine Gruppe im Sammeln. Schimpfworte flogen auf, die Truppe verlor sich im Dunkel. Aber an einer Straßenkreuzung stand eine Patrouille der 1. Torpedodivision in fester Ordnung. Ein Leutnant zur See trat vor. Er forderte, daß die Menge sich sofort zerstreue. Sie johlte. Eine Salve krachte, die Menge wich. Sie erkannte, daß es blindes Feuer gewesen war, und kam wieder vor. Die nächste Salve krachte scharf. Matrosen an der Spitze des Zuges stürzten. Die Meuternden rissen die Waffen von ihren Schultern, die Schüsse fielen von allen Seiten. Alles vollzog sich mit Blitzesschnelle. Verstärkungspatrouillen rannten aus den Nebenstraßen herbei. Automobile der Feuerwehr fuhren in die Menschen. Fluchtartig zerstoben sie.

Dreißig Mann der ersten Torpedodivision lagen tot oder schwer getroffen. Der Seeleutnant Steinhäuser war als Erster erschossen worden.

 

Die Meuterei der Matrosen war offenkundig geworden. Sie hatte nicht alle ergriffen, aber sie sprang von Schiff zu Schiff und spaltete die Mannschaften. Sie griff von Kaserne zu Kaserne, in denen sie Lager schuf und Lager teilte. Vom »Großen Kurfürst« führte der Heizer Podolskie eine Abordnung zu der Opferstätte, an der gestern die ersten Aufrührer unter den Schüssen der Torpedoleute gefallen waren. Aufreizende Reden forderten Rache. Um die gleiche Zeit rissen Mannschaften der ersten Matrosendivision ihre Waffen an sich. Die fünfte Kompagnie stürmte vor den »Eichhof«, darin Gefangene waren. Sie verlangte ihre Freilassung. Zuverlässig war noch die erste Werftdivision. Ihre erste Rekrutenkompagnie nahm die Ausschreitenden gefangen, entwaffnete sie und führte sie ab. Als Eskorte und Eskortierte im Kasernenhof ankamen, vor der Stadt, in den Marineanlagen der »Wik«, murrten wieder die alten Leute über die Grünschnäbel, die es noch mit der Schneidigkeit versuchten. Auch die Alten waren für gemeinsame Sache mit den Meuterern.

Torpedodivision und Werftdivision standen einander im Kasernenhofe gegenüber: die Werftdivision befehlsbereit. Ob auch die alten Leute bei der Torpedotruppe murrten, die Waffen wurden ihnen genommen. Zwischen den Mannschaften hielt der Seekapitän Bartels eine Ansprache.

Soldaten hätten keine Politik zu treiben, sondern zu gehorchen. Unruhig hörten die Mannschaften zu. Wieder war der Torpedoheizer Artelt zur Stelle. Er brachte eine Matrosengruppe zum Divisionskommandeur. Ihm legten die Matrosen ein politisches Programm vor. Und die Kameraden sollten freigegeben werden. Der Divisionär lehnte ab. Der Torpedoheizer wußte einen Ausweg: Soldatenräte, wie das russische Heer sie geschaffen hatte, Soldatenräte aus der Mitte der Matrosen, die allein über das Schicksal der Kameraden und Brüder zu entscheiden hatten, Soldatenräte sollten gewählt werden – –

Beide Divisionen wählten. Vier Mann für jede Kompagnie traten zur ersten Sitzung zusammen. Ihr meldete der Seekapitän Bartels, daß der Gouverneur eine Abordnung des neuen Rates zu sprechen verlange. Sie eilte im Automobil zu Admiral von Souchon, indes unter den zurückgebliebenen Soldaten sich letzte Zucht und letzte Ordnung löste. Ein Trupp von Heizern drang in die Wohnung des Festungskommandanten. Sie erklärten ihn für verhaftet. Der Kommandant wehrte sich. Er wurde erschossen. Zweitausend Matrosen versuchten den Sturm auf die Arreste in der »Wik«. Sie hatten ihre Waffen mit. Vierzehn Applikanten standen als Schutzwache in der »Wik«. Die Vierzehn erklärten, daß der Weg durch die Tore nur über ihre Körper führe. Der Angriff rottete sich zusammen. Eine Telephonmeldung, aus den Fenstern herabgeschrien, brach ihn wieder ab. Der Admiral hätte befohlen, daß die Arreste geöffnet würden. Der Admiral hätte den Soldatenrat anerkannt.

Auf Schiffen des dritten Geschwaders kletterte die rote Flagge hoch. Fast alle trugen sie schnell. In Stadt und Hafen aber drängte sich unabsehbare Menge. Mehr selbsterstaunt, als aufruhrtrunken. Kein Matrose mehr tat Dienst. Sie liefen von den Schiffen fort, durch die Stadt. Tausende blockierten, Gewehr über der Schulter, den Bahnhof. In den Straßen begannen manchmal Maschinengewehre aufzuknattern. Niemand wußte, ob es Zusammenstöße gab, niemand, ob nur in die Luft geschossen wurde. Aber so oft ein Schuß fiel: Matrosen und Menge flüchteten sofort. Feldgraue Truppen waren von außen angesagt. Sie fuhren mitten in die blockierenden Matrosen, die sie erwarteten und entwaffneten. Und noch ein anderer Zug fuhr am Abend des vierten November in die Kieler Bahnhofshalle: mit dem Staatssekretär Haußmann traf aus Berlin der sozialdemokratische Abgeordnete Noske ein. Beide waren am Morgen von der Reichsregierung entsandt worden, über Hals und Kopf, ohne nähere Weisung, nach den ersten, unklaren Meldungen über »Vorkommnisse bei der Marine«.

 

Achtzigtausend Mann meuterten in Kiel. Sie waren Masse ohne Haupt und Führung. Indes schien nur der Anfang des gewaltig wachsenden Aufruhrs blutigrot. Nirgends waren Episoden der Entmenschtheit bisher zu verzeichnen. Aus den wilden Schüssen an den Straßenecken, die noch andauerten, kam für wenige nur Gefahr, gering war zur allmählich sichtbaren Weite der Erhebung die Zahl der Männer, die das Ereignis begrub. Im Kieler Dock zeigte am Morgen des fünften November nur das Linienschiff »König« die rote Flagge noch nicht. Der Besatzung riefen Meuterer zu, von unten, vom Lande her, die Flagge endlich zu hissen. Aber die wehende Kriegsflagge deckten am Mast Kapitän und Signaloffizier. Gewalt lehnten die eigenen Mannschaften ab. Da feuerten die Meuterer von draußen gegen den Mast. Die beiden Offiziere sanken. Alle Linienschiffe trugen jetzt die rote Flagge.

Ohnmächtig zwischen elementaren Erlebnissen standen die Seeoffiziere. Einzelne im Sturm, die keiner sammelte. Sie wagten Widerstand auf keinem Schiff. Die Mannschaften aber nahmen die Vorgesetzten von gestern als Zeitunkundige, die noch die ganze große Wandlung der Völker, die neuen Wege der Brüderlichkeit nur nicht begriffen. Fast alle Offiziere ließen sie unbehelligt. Sie sprachen manchen, wenn sie nur vorher nicht allzu hart befohlen hatten, jetzt gutgemeinte Tröstung zu. Planloses geschah da und dort nur durch überhitzte Rotten. Nachts um 2 Uhr wurde der Admiral Souchon, kaiserlicher Gouverneur von Kiel, in einem Bahnhofszimmer festgesetzt. Morgens gab man ihm die Freiheit wieder. Der Soldatenrat regierte in Kiel. Auf den Schiffen, im Hafen, in der Stadt. Mit dem Soldatenrat allein sollte der Admiral Souchon, der ohne Offiziere stand, mit dem Soldatenrat sollte der Abgeordnete Gustav Noske verhandeln, den alle Matrosen als Mann ihrer Gesinnung nahmen. Aber nirgends war in Wirklichkeit der Soldatenrat zu treffen. Er spukte. Er lebte nicht. Gustav Noske aber wollte Herr der Bewegung werden. Er wußte nichts Besseres: er stellte sich an die Spitze eines Soldatenrates, den eigentlich er selbst erst bildete.

Er verhandelte nicht mit schreienden Matrosenhaufen. Am Morgen nach seiner Ankunft, nach der ersten unruhigen, fruchtlos verschwatzten, von sinnlosem Lärm oft durchhallten Nacht, arbeitete er im Stationsgebäude, in einem Zimmer der Admiralität, wohin er sich Vertrauensleute der Matrosen bestellte. Fünfzig oder sechzig kamen: sieben oder neun sollten ein Ausschuß werden, der als Soldatenrat dann arbeitsfähig war. Im wirren Hin und Her der Kommenden, der Gehenden und Erschreckten, der drohenden Revolutionstragiker und Melder düsterer Hiobsposten führte der hagere, bebrillte Gustav Noske, nie vorher Soldat, im bürgerlich sauberen Rock seine Befehlsgewalt. Mit unverwirrter Entschlossenheit, nüchtern und klar, von den Genossen oft enttäuscht, aufrichtig auch in der Verärgerung, für alle ein Befehler mit der Sprache eines rauhen und norddeutsch trockenen Volksmanntums. Die Furcht der Aufständischen, die sie bedenklicher machte als alles andere, beruhigte er: mit der Regierung wolle er sprechen, daß sie keine Truppen gegen die Kieler schicke. Ihm stellte die Regierung auch in Aussicht, daß sie den Verhafteten von 1917 die Freiheit wiedergeben wolle. Noch nannte die Regierung den Aufstand eine auf Kiel beschränkte Revolte. An der Spitze des Soldatenrates dachte der Abgeordnete Noske nicht daran, radikal die Macht von achtzigtausend Mann zu nutzen. Er sprach nicht von der Abdankung der Hohenzollern, die ihm, gleich als er ankam, die Matrosen als wichtigste Forderung entgegengerufen hatten. Der Sozialdemokrat sprach von der Not durch schlimmen Kriegsausgang, von Reformen, die erfüllt würden, vor allem aber von der Wiederherstellung der Ordnung. Der Ausrufung der Republik in Schleswig-Holstein widersetzte er sich. Noch sah er nicht die Revolution: nur Meuterei. Über Amnestie für die Meuterer wolle er mit der Reichsregierung verhandeln. Vor dem Arbeiterführer wurden die Matrosen nachdenklich.

Den Abbau eines Aufruhres begann Gustav Noske in Kiel. Eindämmen wollte er mit harter Faust. Und die Matrosen fügten sich. Ruhiger wurden die Massen. Zwischen letzten Schießereien, die die Aufreizer und Augenblicksnutzer anzettelten und dann mieden, verschwand auch der Torpedoheizer Artelt, der sein Leben im Augenblick des Wagens kostbarer nannte, als es dem schweigsam gewordenen Admiral Souchon schien, wenn er bei Nacht und Zufall sich ohne Stab und Truppe Erkundungsdiensten preisgab. Im übrigen war wichtigste Sorge jetzt, achtzigtausend. Mann zu ernähren, achtzigtausend in Vernunft zu halten. Der neue Gouverneur der Stadt, dem die ganze Provinz zu gehorchen hatte, war fest entschlossen, das Ordnungswerk zu erzwingen. Er bat Admiräle und Stabsoffiziere, Unentbehrlich im fremden Apparat, auf ihren Posten zu verbleiben. Der neue Gouverneur von Kiel war Gustav Noske.

 

Dem Flottenchef Admiral von Hipper hatte Botschaft um Botschaft die Kieler Entwicklung gemeldet. Jetzt wollte er auf den anderen Großkampfschiffen retten, was vielleicht noch zu retten war. Vor Brunsbüttel lag das erste Geschwader. Er befahl ihm, sofort ins offene Meer hinauszugehen. Vor allem fürchtete er die Einwirkung des Kieler Beispieles, von dem ausschwärmende, fahnenflüchtige Matrosen die Kunde vom ersten Tage der Erhebung an in alle Hafenplätze getragen hatten. Aber an dem Morgen, da auch das letzte Schiff im Kieler Dock die Revolutionsfahne emporsteigen ließ, verweigerten, am fünften November, die Mannschaften des ersten Geschwaders den Gehorsam. Die Schleusenarbeiter verhinderten auch ihm die Ausfahrt. Um die gleiche Stunde verließ in Wilhelmshaven die Hälfte der Besatzung das Admiralsflaggschiff »Baden«. Admiral von Hipper scharte seine Offiziere um sich. Er rief den Rest der treugebliebenen Matrosen vor die Kriegsflagge, die er verteidigen wollte, bis Entsatz einträfe. Er erbat Hilfe vom Stationskommando Wilhelmshaven. Er wandte sich an die Kommandantur. Beide waren von ihren Truppen verlassen. Der Admiral entbot Vertrauensleute der unruhigen Mannschaften zu sich. Sie gaben zu, daß sie wenigstens an der Kriegsflagge festhalten wollten. Der Admiral begann unter solcher Voraussetzung mit ihnen zu verhandeln.

Endlich meldete sich zu all den Vorfällen die Seekriegsleitung in Spa. Noch sah Admiral von Scheer nicht den Umfang des Ereignisses. Schiffe mit roter Flagge seien als feindliche Schiffe zu behandeln. Admiral von Hipper sandte Flieger aus. Sie kamen zurück: in Kiel, in Cuxhaven, überall wehte die rote Flagge. Der Flottenchef befahl, »durch Einwirkung der Offiziere auf die Mannschaften zur Aufrechterhaltung der Ruhe beizutragen, solange die Bewegung vom Standpunkte der Regierungssozialisten nicht abweiche«. Kaum war es noch ein wirklicher Befehl. Aber mehr konnte der Admiral nicht tun.

Den Konteradmiral Michelsen, den Befehlshaber der Tauchboote, deren Mannschaften immer noch Unruhen und Umsturzgedanken so fern blieben, wie draußen im Meer die kreuzenden leichten Streitkräfte, schickte er mit allen fahrbereiten Booten nach Helgoland. Das vierte Geschwader auf Schilligreede erklärte sich bereit, zur Sicherung der deutschen Bucht nach Borkumreede abzugehen. Ihr Gehorsam war unsicher. Jeder sah: er zählte nach Tagen. Vorerst übernahmen die kleinen Kreuzer »Königsberg« und »Köln« den Vorpostendienst.

 

Fast überall hatte die Erhebung gegen Krieg und Führer sich durchgesetzt. Nirgends lag Mast oder Schiff vom Sturm zerbrochen. Nur die Flotte als Waffe war stumpf geworden in Mattheit, da der Gedanke an nicht mehr geglaubten und anerkannten Glanz, an überlebte Glorie verwischt und getilgt war von neuen Ideen. Von allen Masten flatterten rot die Flaggen Wilsonscher Weltapostelschaft. Die Matrosen gaben sich zufrieden. Die Matrosen warteten nur mehr der Erfüllung jener Friedensseligkeit, von der ihnen, Monate um Monate, hundert Zungen heimlich geflüstert, von der sie mit heißen Blicken gelesen, an der sie im Vorgefühl im »Bergwerk« sich berauscht hatten. Im »Bergwerk« war der Feiertag in allen Schächten angebrochen. Die Freiheit schritt über die stählernen Planken: ohne Märtyrerscharen und Blut.

Die Erhebung blieb an der Küste. Sendboten fuhren freilich aus eigener Vollmacht im ganzen Reiche umher. Aber die Erhebung selbst sprengte ihren Rahmen nicht. Im Kriegskabinett in der Reichshauptstadt atmeten darum die Minister nicht auf. Noch ließ sich in der Wirrnis überstürzender Geschehnisse dort nicht überblicken, was weiter aus den Hafenstädten kam. Lakonisch blieben alle Nachrichten. Was heute die Marine tat, tat morgen vielleicht das Heer. Der Erste Generalquartiermeister Groener sprach am 5. November 1918 im Kriegskabinett über den Ernst der Stunde.

Der Erste Generalquartiermeister sprach über die schwer bedrohte Lage des Reiches, denn vieles war über Nacht hereingebrochen. Unumstößliches und schon historisch Gewordenes, das als Einwirkung auf die Gesamtlage in das Urteil und in die Beschlüsse eingestellt werden mußte, die von allen Lenkern des deutschen Schicksals zu fassen waren. Nicht nur um der Erhebung willen, die in Kiel und an der Küste war. Und nicht nur, weil auch die deutschen Heere in aussichtsloser Bedrängnis kämpften. Auch die Tore im Süden und Südosten des Landes schienen aufgerissen. In vier oder fünf Tagen hatte sich offenbar eines der gewaltigsten Ereignisse der Weltgeschichte vollzogen: die österreichisch-ungarische Monarchie war niedergebrochen und zerfallen. Neue Staaten hatten sich aufgerichtet oder bauten noch an eigenem Hause. Ungewiß war ihre Haltung gegenüber dem Bundesgenossen von gestern. Vielleicht ließen sie sogar den Durchmarsch des Gegners zu. Deutsche Heereskörper standen in Rumänien und Südungarn. Vielleicht waren sie ganz verloren, denn selbst im königtreuen Ungarn wogten Kämpfe, deren Ausgang nicht einmal für den apostolischen Träger der Krone sicher war. In voller Auflösung schien auch die österreichisch-ungarische Front. Die Schlacht von Vittorio war verloren. Und keine Bedingung war hart und entehrend genug, die Kaiser Karl von Österreich in einem Waffenstillstande über Nacht nicht hätte annehmen müssen.

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