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Die slawischen Nationalstaaten

Marschall Erzherzog Joseph war auf der Rückreise von der Tiroler Front, fast um die gleiche Stunde, da der Kaiser aus Schloß Gödöllö nach Schönbrunn zurückgekehrt war, in der Wiener Hofburg eingetroffen. Alle Versuche des Kaisers waren bisher fehlgeschlagen, Klärung und Festigkeit in die leidenschaftlich bewegten, drohenden Verhältnisse zu bringen, die seit dem Tage des kaiserlichen Manifestes, seit der Lossage von Österreich, seit der Verkündigung der Personalunion mit dem Hause Habsburg, die Kräfte des ungarischen Königreiches teils verzehrten, teils zu Auflehnung und Trotz aufstachelten. Sicher war, daß der alte, mächtige Graf Stephan Tisza unter der niederschmetternden Wucht aller Erlebnisse die Sammlung, die Richtung, das Bewußtsein seiner sonst gebietenden Persönlichkeit verloren hatte, die allein vielleicht noch Kämpfer der Ordnung, Erhalter des Bestehenden um sich hätte scharen können. Sicher war, daß die Kampfansage der neuen, demokratischen Gedanken an das System von gestern, der Kampfruf nach einem völlig selbständigen, mit niemand mehr verknüpften Ungarntum eigentlich von allen Ungarn aufgenommen wurde. Dem Apostel der neuen Demokratie, dem wildesten Forderer der ungarischen Selbständigkeit, dem Grafen Michael Károlyi, mißtraute der König. Er hatte in Gödöllö alle Möglichkeiten mit Michael Károlyi besprochen, unter denen der Graf als Ministerpräsident an die Spitze des Landes treten könnte. Da der Graf in Gödöllö noch einmal vor den König gerufen worden war, war im Vorraum die Königin Zita rasch auf ihn zugetreten:

»Retten Sie den König!«

»Ich will gewiß gern tun, was an mir liegt,« hatte Graf Károlyi geantwortet, »aber alle Throne zugleich kann der Kaiser nicht retten. Er muß sich entscheiden. Auch er muß etwas dazu tun.«

Die Königin hatte den guten Willen, die Friedensliebe des Kaisers betont. In ihrer Stimme war ein schwaches, kaum merkliches Zittern gewesen.

Wirklich hatte dann der Kaiser den Grafen gebeten, ihn nach Wien zu begleiten. Er war als »designierter Ministerpräsident« mitgereist. Indes er im »Hotel Bristol« auf Mitteilungen aus Schloß Schönbrunn wartete, die ihn zum König, zu dem neuen österreichischen Ministerpräsidenten Professor Lammasch, zu seinem eigenen Schwiegervater, dem neuen Außenminister Grafen Andrássy rufen sollten, fuhr Kaiser Karl selbst in die Hofburg. Dort sprach er mit Erzherzog Joseph.

Der alte Plan wurde Beschluß: den ungarischen Erzherzog jetzt, in gefährlichster Zeit, an die Spitze des Landes zu stellen. Vielleicht bewog sein Ansehen die Parteien, ein neues Kabinett zu ermöglichen, wenn er als »homo regius« die Gegensätze schlichten half. Dann mußte nicht unbedingt ein Graf Michael Károlyi der Retter sein. Der Erzherzog konnte noch andere finden. Der Kaiser ernannte den Prinzen endgültig zum Oberkommandanten aller ungarischen Truppen. Er legte die Kabinettsbildung in seine Hände. Kaiser und Erzherzog fuhren nach Schönbrunn. Dem nachfragenden Grafen Károlyi teilte der Obersthofmeister Graf Hunyady mit, daß der Kaiser keine Aufträge für ihn hätte. Nachmittags reisten beide, Erzherzog und Graf, beide im gleichen Zuge, nach Ungarn ab.

 

Der Kaiser blieb in Schönbrunn. An der italienischen Front ging eine große Schlacht, die Engländer hatten einen kleinen Vorteil errungen. Trotz der furchtbaren Gefahr, die in der Absage der ungarischen Truppen, in der Möglichkeit des Fortschreitens solcher Absage lag, hielt bisher die Front. Sie schlug sich sogar, wenn man die Ausdehnung des Kampfes, den Einsatz der Massen bedachte, die der Gegner ohne wesentlichen Erfolg vorführte, genau wie sonst. So groß war die politische Spannung des Augenblickes, daß der Kaiser nicht daran denken konnte, sich in die Mitte seiner kämpfenden Truppen zu begeben, auch wenn ihn ein verzweifelter Ruf, daß er die Zersetzung im Rücken der Kämpfer beschwöre, aus der »Isonzoarmee« darum anflehte. Zwar zeigte der Tag der Ankunft aus Gödöllö noch leidliche Stille. Der niederdrückende Beschluß, vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten den Friedensweg ohne Deutschland zu suchen, war unabänderlich. Vielleicht brachte wirklich der Erzherzog in Ungarn Ordnung. Vielleicht glückte dem neuen österreichischen Ministerpräsidenten, auch wenn der Kaiser lange skeptisch von der Weltfremdheit des Professors und seinen erschütterten körperlichen Kräften gesprochen hatte, doch der Übergang vom alten Staat zum Staatenbund. Wenn dies geschah, noch ehe man sich zu den Friedensverhandlungen setzte, war alles gewonnen. Schon am Tage nach der Ankunft des Kaisers leistete der Professor den Ministereid. Aber schon der erste Tag seiner Präsidentschaft brachte – nach dem kurzen Aufatmen, nach vierundzwanzigstündiger, scheinbarer Entspannung, weil man von neuen Männern doch noch mögliche Wirkung erhoffte – Sturm auf Sturm. Minister und Kaiser wurden machtlos, ratlos und steuerlos über Nacht.

Dem Kaiser unterbreitete die Militärkanzlei am Vormittage des 28. Oktobers die Meldung:

»Hoftelegramm.
Angekommen in Wien
28.10.1918 12 Uhr.

An die Militärkanzlei Seiner Majestät.

Gegeben persönlich durch General d. Inf. Snjariè.

Bürgermeister von Ossijek meldet durch Landesregierung: Garnison Ossijek hat Gehorsam verweigert. Nationalratsmitglieder versuchen in Kasernen zu beruhigen. Ohne Erfolg. Lage eine hoffnungslose.

Nasice brennt. Güter Grafen Bejaèevic werden geplündert.

Virosititz meldet größte Gefahr. Meuterer nähern sich Stadt. Pöbel schließt sich überall an.

Nationalrat verweigert Führung. Landesregierung und Nationalrat glauben, daß sofortige Amnestie und Entlassung der Mannschaften nach Hause einziges Mittel wäre, um zu helfen. Waffen für Bürgergarde dringendst.

Nr. 2735
Militärkommando Agram.«

Vom Vortage lief eine Depesche des »Flottenkommandos« ein. Dem Chef des Generalstabes berichtete der Admiral von Horthy:

»Laut Meldungen verläßlichen militärischen Vertrauensmannes bei Fortbesatzungen, sonstigen Heeresformationen und Flottenbemannung Meutereibewegung unmittelbar bevorstehend, mit dem Ziele, nach Aufteilung von Proviant, Monturen und Geldverlägen, bzw. nach Verlassen der Schiffe, in ihre Heimat abzuziehen. Ich werde morgen persönlich durch Ansprachen Bewegung niederzuhalten trachten.

Telegraphische Kalmierungen und zum Ausharren bis Friedensschluß ermahnende Enunziationen der Führer und Nationalräte an die Heeres- und Marinemannschaften, gefolgt von Entsendung von Vertretern der Nationen in die Hauptkriegshäfen Pola und Cattaro könnten vielleicht noch Katastrophe abwenden« – –

Der Verbindungsoffizier des »Armeeoberkommandos« bei der Flotte meldete – mit vielen bedrohlichen Einzelheiten – aus der Kriegshafenstadt Pola:

»Vertrauensmänner des ›Prinzen Eugen‹ erklärten dem Schiffsarzt, zu dem sie besonderes Vertrauen haben, daß die ganze Aktion bereits seit drei Monaten in Vorbereitung, daß sie einer unbedingten Einflußsphäre (die sie nicht nennen wollen) ehrenwörtlich verpflichtet sind, am 1. November unbedingt Schiffe zu verlassen, um in ihre Heimat abzugehen. Auch bei der ganzen Armee im Felde soll angeblich dieser Tag als Stichtag bekannt worden sein. Matrosendeputationen behaupten, daß ungarische Regimenter Front verlassen werden. Auf einigen Schiffen eine Art passiver Resistenz bereits ausgebrochen. Gesamte Detail-Offiziere von ›Viribus‹ haben sich heute erschossen« – –

Der Verbindungsoffizier gab zugleich die Erklärung:

»Springender Punkt der Unruhen der Ungarn ist das Verhältnis Kroatiens zu ihrem Staat und die Aufforderung des Grafen Károlyi an alle Ungarn, in ihre Heimat zurückzukehren.

Ungarn sagen: ›Behalten wir Kroatien, so müssen wir nach Hause gehen, um unsere Heimat gegen ähnliche Angriffe wie in Fiume zu schützen. Behalten wir Kroatien nicht, so haben wir keine Küste und keine Häfen und brauchen keine Marine. Auf jeden Fall müssen wir daher weggehen.‹

Kroatische Stimmung wechselt. Wird man gesamtes südslawisches Reich garantieren, so würden sie bleiben, da ja dann nach ihrer Meinung Marine ohnehin zum südslawischen Staat kommt. Vorläufig wollen beide weggehen.

Deutsche sind ruhig. Andere Nationalitäten unausgesprochen. Jetzt verlangt jede Nationalität Hersendung eines Abgeordneten. Für Ungarn müßte dies unbedingt ein Abgeordneter der Károlyipartei sein.

Geschieht bis zum i. nichts, so gibt es eine unabsehbare Katastrophe und Pola ist den Bolschewiken ausgeliefert.«

Alles bei der Flotte schien plötzlich in Brand und Alarm. Furchtbar brachen die Einzelheiten davon an einem einzigen Tage herein. Und nicht nur die Erhebung der Matrosen drohte. Die Unglücksbotschaften überstürzten sich. Noch gestern hielt die Front. Noch heute hielt sie. Aber Marschall Boroevic depeschierte am 28. Oktober nachmittags:

»AOK. dringend.
VI. Armeekommando meldet:

Es mehren sich die Fälle, daß zur Front dirigierte Truppen Gehorsam verweigern. Erklären, nicht mehr zu kämpfen und nach rückwärts zu marschieren. Es gelingt bloß in vereinzelten Fällen und vorübergehend, Ordnung zu schaffen. Zum Erzwingen des Gehorsams durch Waffengewalt fehlen die hierzu notwendigen Truppen. Taktische Kalküls und Entschlußfassungen sind wertlos, da auch auf die bisher vollkommen guten Truppen kein Verlaß ist.«

Meldung schlug hinter Meldung ein. Grell zeigte sich unbarmherzig das Gesamtbild dieses einen Oktobertages, daß eigentlich die ganze Situation verloren war.

 

Der Krieg war für die Monarchie zweifellos in jeder Form zu Ende. Ob ihn der Gegner durch Waffen gewonnen hatte oder anders, war gleich im Augenblick solchen Zerfalles. Es ging auch gar nicht mehr um Schlacht oder Krieg. Eine andere Frage hatte sich erhoben: Reichsbestand oder Anarchie. Der Chef des Generalstabes selbst stand unter dem Eindruck, daß die militärischen Vorgänge zurücktraten gegenüber den politischen Ereignissen bei der Armee, gegenüber den inneren Fragen des Reichsdaseins. Sie sah er« noch unentwirrbarer, wenn die Front zersprengt war. Ganze Truppenteile begannen den Abmarsch. Indes die Ungarn von der Hochfläche der »Sieben Gemeinden« abzogen, traf jetzt auch noch die Nachricht ein, daß selbst die deutsche »Edelweißdivision« den Gehorsam verweigerte. Vielleicht brachte er die Massen zur Ruhe, zum Stehen, wenn der Kampf aufhörte. Die schwersten Bedingungen des Gegners konnten nicht schwerer sein, als die Gefahr der im zersplitterten Hinterland auftauchenden, alles überschwemmenden Armee. An die Flotte wandte sich der Kaiser selbst mit Bitten, nur wenige Tage noch auszuharren. Den ungarischen Ministerpräsidenten wies er an, die gewünschten Abgeordneten schleunigst zu den Matrosen zu entsenden. Der »Edelweißdivision« erteilte Baron Arz nicht mehr Befehle. Er versuchte durch Anruf ihrer Ritterlichkeit etwas zu erreichen.

Noch ahnte der Gegner nicht den ganzen Umfang eines Sieges, den er durch Schlachten nicht erfochten hatte. Noch sah er nicht, wie es überall im Innern war. Soeben hatte der Ministerpräsident Lammasch, um das Werk der Liquidation in der Monarchie zu neuem Aufbau durchzuführen, den ersten Ministerrat seines Kabinetts eröffnet, als abermals eine Hiobspost, niederschmetternder als jede andere, unmittelbar in die Sitzung schlug. In Böhmen war die Revolution ausgebrochen. Die Staatsgewalt hatte der Nationalrat an sich gerissen. Der kaiserliche Statthalter Graf Coudenhove, soeben erst in der Reichshauptstadt eingetroffen, um sich Vollmachten zu holen, war unmittelbar nach seiner Abreise von Prag abgesetzt worden.

Kein Bericht kam, wie die Ereignisse in Prag sich zugetragen hatten. Niemand wußte ihr Endziel. Niemand wußte, was jetzt in Ungarn kam. Von tausendköpfiger Menge war Graf Károlyi gestern in Budapest erwartet und begrüßt worden. Er hatte ihr eröffnet, daß er nicht als Ministerpräsident aus Wien zurückkehre. Seine Mission sei gescheitert. Enttäuscht hatte es die Menge gehört, mit dumpfem Murren. Mit Erzherzog Joseph sprach der Kaiser über eine Stunde. Bisher hatte der »homo regius« keine Entwirrung schaffen können. Das Hoftelegramm des Generals Snjariè war die endgültige Abfallsansage Kroatiens gewesen. Vielleicht war endgültig auch Böhmen verloren.

 

Noch war es nicht länger her als vierzehn Tage, daß offener Aufruhr und der Versuch eines Umsturzes in Böhmen unternommen worden war. Die tschechischen Sozialdemokraten, der »Sozialistische Block«, hatten die Arbeiter zur Erhebung und zur Ausrufung der Republik aufgefordert. Am 14. Oktober sollte am Altstädter Ring in Prag der habsburgischen Herrschaft ein Ende gemacht werden.

Die Arbeiterführer waren so gut wie die übrigen tschechischen Politiker fast alle von der Selbständigkeit überzeugt, mit der der Tschechoslowakische Staat aus dem Weltkrieg hervorgehen müsse. Niemand hatte einen Zweifel daran, daß Professor Massaryk bei dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, niemand, daß das Haupt der »Pariser tschechischen Regierung«, Benesch, in Frankreich alles erreicht hatten, was für den neuen Staat überhaupt zu erreichen war. Aber noch war die Verbindung mit den Landsleuten im Auslande selten, gefährlich und schwer. Es stand für die Gruppen, die den Abschied von Österreich um jeden Preis wollten, nicht fest, was Professor Massaryk als Letztes für die Tschechoslowakei erstrebte, ob Republik oder neues Königtum. Was der Umbau in Österreich noch erreichen wollte, war allen deutlich: auch den selbständigen tschechoslowakischen Staat unter dem Hause Habsburg. Als die bulgarische Armee zusammengebrochen war, als der Ministerpräsident Freiherr von Hussarek den sozialistischen Tschechenführer Tuszar zu sich gebeten und ihm eröffnet hatte, daß man sich darauf einrichten müsse, einen Frieden mit vielen Opfern zu schließen, war von dem Gerufenen die Frage gestellt worden:

»Was gedenkt aber die österreichische Regierung im Innern zu tun?«

Der Ministerpräsident hatte sich auf seine darüber schon abgegebenen Erklärungen berufen. »Nationale Autonomie in den Grenzen der historischen Länder« wolle die Regierung schaffen.

»Es scheint mir zu spät zu sein für solche Pläne,« war die Antwort des Tschechenführers gewesen, »ich mache Sie aufmerksam, mit aller Entschiedenheit – und auch den Kaiser –, es ist der letzte Moment, daß man mit dem Vorschlag eines Bundesstaates kommen könnte. Aber ich weiß nicht, ob man in vierzehn Tagen mit Ihnen darüber sprechen wird.«

Der Kaiser trug sich, in vorwärtstreibender Entwicklung, mit Umbauplänen, die täglich greifbarer wurden. Vielleicht wurden die Bundesstaaten wirklich geschaffen. Vielleicht behauptete sich der Kaiser durch sie dennoch; es konnte aber auch sein, daß später, wenn das Haus Habsburg trotz aller Rettungsversuche fiel, die Bürgerlichen ein anderes Königtum begehrten. Auch davor wollten die radikalen Sozialisten sich geschützt, ihre Unabhängigkeit von den Bürgerlichen wollten sie gesichert wissen. Sie drängten auf ein Losschlagen. Sie wollten endgültig geschaffene, unumstößliche Tatsachen sehen: die erklärte und durchgesetzte Republik sicherte sie allein.

Die Not im Lande ließ die Arbeiter leicht sich erhitzen. Sie wurde zugleich ein Deckmantel der Werbung. Die Arbeitsruhe wurde von den Gewerkschaften und Verbänden für den 14. Oktober im ganzen Lande befohlen. Eine Proklamation flatterte von Fabrik; zu Fabrik, von Arbeitsstätte zu Arbeitsstätte:

»Einig im Beschlusse mit dem sozialistischen Rate des tschechoslowakischen arbeitenden Volkes in allen böhmischen Ländern, erheben wir heute feierlichen Protest gegen die Ausfuhr von Lebensmitteln und Kohle, gegen die Verwüstung unserer Länder, gegen den Mord am Volke!

Vier schreckliche Leidensjahre sind zu Ende. Die zahllosen Gräber unserer Leute, das zu Skeletten umgewandelte arbeitende Volk und die stummen Schrecken in unseren Familien treiben uns zur Abwehr. Wir haben mit den Männern zu Ende gesprochen, die uns von der kaiserlichen Regierungsmacht aufgezwungen worden sind, und es wäre eine Erniedrigung für das Volk, weiter noch mit Faktoren zu verhandeln, die dem Volk nicht verantwortlich sind. Indes sie uns mit der einen Hand immerfort Versprechungen gaben, haben sie uns mit der anderen Hand unablässig beraubt.

Die Zeit hat sich erfüllt. Schon haben wir die Fesseln untergebener Sklaven abgeschüttelt, wir sind zur Selbständigkeit auferstanden. Aus eigenem unbeugsamen Willen und unter der Sanktion der ganzen demokratischen Welt erklären wir, daß wir als Vollzieher der neuen staatlichen Souveränität, als Bürger der freien tschechoslowakischen Republik heute hier stehen.

Wir erklären, daß jeder Versuch einer Ausfuhr und Plünderung unserer Länder ein gleicher Raub, ein gleiches Verbrechen gegen unseren souveränen Staat ist, wie es der Überfall Belgiens zu Beginn des Krieges war.

Jeder solche Schritt wird alle Massen des tschechischen arbeitenden Volkes zur verzweifelten Abwehr treiben. In dieser gemeinsamen Abwehr gegen den Hunger und Tod werden mit uns die Massen des deutschen arbeitenden Volkes eins sein.

Wer sich diesem Willen des arbeitenden Volkes entgegenstellt, wird dem arbeitenden Volk auch verantwortlich sein. Jeder neue gegen uns gerichtete Gewaltakt wird für uns eine neue Anklage bleiben vor dem internationalen Tribunal. Das Recht auf Leben und Freiheit wird uns niemand mehr nehmen. Unsere Sache ist die Sache der ganzen Welt. Sie hat einen ruhmreichen Sieg bereits errungen! Wehe denen, die es wagen sollten, die auferstandenen Völker auf der ruhmreichen Bahn zur neuen Zukunft aufzuhalten!«

Überall flammte es am Tage der Ansage empor. In Budweis, in Èaslau, in Jungbunzlau zogen Gruppen durch die Stadt:

»Es lebe die tschechoslowakische Republik!«

Nationalfahnen und rote Fahnen stiegen an den Häusern empor, in Podebrad und Kolin, in Pilsen, in Rokyzan wurden Staatswappen und Adler zertrümmert, von den Staatsgebäuden gerissen oder übertüncht. In Strakonitz durchlief ein städtischer Polizist mit Trommelschlag die Stadt:

»Heute um 10 Uhr vormittags wurde in Prag der tschechoslowakische Staat als Republik proklamiert. Die Häuser sind zu beflaggen.«

Ihm jubelte auf dem Ring die Menge zu. Der Alarm von der Ausrufung der Republik in Prag zog auch durch Pisek. Das Staatswappen fiel vom Portal des Amtsgebäudes. Kaiser Franz Josephs Bildnisse wurden in den Amtsräumen zerrissen. Vom Dache flog die schwarzgelbe Fahne aufs Straßenpflaster nieder, auf dem sie berauschte Fanatiker zertraten. Mit weißroten Flaggen wurde das Kreisgericht, das Postamt, mit der altslawischen Trikolore das Rathaus geschmückt. Soldaten zogen mit der Trikolore, mit rotweißen Bändern um. Wie in allen Städten wurde die Proklamation auch hier verlesen und an die Mauern geschlagen. Die Straßen waren nachts noch hell vom Zug der Lampions.

Überall in den kleinen Städten des Landes war wenigstens ein geringer Teil der Nichtarbeiter mit den Schildträgern der Erhebung, mit den Arbeitern gegangen. Vom Ereignis überrascht, hatten sich da und dort die Bezirkshauptleute zum Schwur auf den neuen Freistaat drängen lassen. Aber nicht nur in den kleinen Städten war es schließlich den Behörden gelungen, noch einmal die Ordnung des alten Staates herzustellen. Gendarmerie hatte Ruhe geschaffen. Vor allem in der Hauptstadt selbst war der Aufstand offenkundig mißglückt.

Sein Gedanke endete in dem Protest gegen Lebensmittelausfuhr und Kohlenverschleppung. Zwar feierten fünfunddreißigtausend Arbeiter. Auch durch ihre Reihen wanderte die Proklamation. Aber auf dem Altstädter Ring blieb sie unverlesen. Hader im Nationalrat hatte die ganze Unternehmung uneinheitlich werden lassen, hatte ihr jegliche Unterstützung durch einheitliche Parteien genommen. Und der Statthalter hatte sich mit Entschlossenheit gegen alle Zwischenfälle gerüstet. Noch kannte er den Kern der Bewegung nicht. Er sah nur Vorwand und Maske. Aber er hatte sich gewappnet. Er hatte die Garnison alarmiert. Den Zugang zum Altstädter Ring hatte er sperren lassen. Die Massen wurden in die Vorstädte abgedrängt. Der Abgeordnete Sveceny akklamierte in der Vorstadt Ziskow die Republik. Aber schon am Nachmittage herrschte Ruhe in der Hauptstadt. So hätte die Erhebung auch auf dem Lande scheitern müssen, wäre sie dort selbst stärker gewesen. Nur ein beklommenes Gefühl blieb eine Zeitlang von dem Zwischenfall bei Arbeiterführern und Nationalrat.

 

Der kaiserliche Statthalter Graf Coudenhove hatte sich im Zusammenhange mit den Ereignissen des 14. Oktober an die Wiener Regierung mit der Anfrage gewendet, schriftlich und telephonisch, welche Weisungen die Regierung für sein Verhalten hätte. Sie verlangte, daß jedes Blutvergießen vermieden und »der Übergang zum Nationalstaat in die Wege geleitet werde«. Vor allem wünsche sie »keinen Eklat«. Graf Coudenhove war der Meinung und wurde in ihr noch bestärkt, daß ein Abkommen zwischen der Regierung und der Entente bestehe, das eben durch einen Eklat nicht gestört werden solle. Aber er wollte Klarheit gewinnen. Seine Auffassung, daß er Versuchen der Gewalt in Böhmen nur Gewalt entgegensetzen könne, wenn er sich behaupten wollte, daß die Autorität der Regierung sich nur mehr durch Truppen auf der Straße aufrechterhalten lasse, verdichtete sich immer mehr, je tiefer er durch die Berichte über die Geschehnisse des 14. Oktobers in ihre Zusammenhänge eindrang. Am 27. Oktober erreichte ihn die Nachricht von der Neubildung des österreichischen Kabinetts, an dessen Spitze Professor Lammasch trete. Am Tage darauf reiste der Statthalter nach Wien, um auf die Klarstellung der Prager Verhältnisse zu drängen. Da er am Wiener Franz-Joseph-Bahnhofe eintraf, erhielt er die Meldung, daß die provisorische Regierung in der böhmischen Hauptstadt gebildet sei. Sie fordere ihre Anerkennung. Der Statthalter eilte in den Ministerrat.

Dort empfing ihn die Frage, was eigentlich in Prag vorgehe, welche Einzelheiten er wisse. Der Statthalter hatte keinerlei Kenntnis, die Stadt war ruhig gewesen, da er sie verlassen hatte. Vielleicht wußte der tschechische Abgeordnete Tuszar mehr. Der Ministerrat bat ihn durch den Fernsprecher, sogleich zu kommen. Den Abgeordneten hatte schon am Vortage der Minister des Innern zu sich bitten lassen. Der Generalstab suche eine Unterredung mit ihm im Badener Hauptquartier. Es handle sich um die Beruhigung der Front, an die man Abgeordnete, Abgesandte des Parlaments entsenden wolle. Der Abgeordnete Tuszar hatte es abgelehnt, den Generalstab aufzusuchen, aber sich zu Unterredungen in Wien bereit erklärt. In der sechsten Abendstunde hatte ihn dann im Auftrage des »Armeeoberkommandos« der Generalstabsoberst Ronge aufgesucht. Die Armee stehe vor bolschewistischen Ausbrüchen. Tschechische Abgeordnete sollten zu den Truppen fahren. Sie sollten zum Ausharren bewogen werden. Der Eindruck des Politikers war gewesen, daß die Vernichtung des Heeres durch Auflösung und Rückzug das Ereignis der nächsten Stunden sein mußte.

Er hatte dem Obersten zugesagt, daß er mit dem Prager Nationalrat über die Angelegenheit verhandeln wolle. Die Antwort stehe dem Obersten am nächsten Morgen zur Verfügung. Nachts hatte dann der Abgeordnete, in der zehnten Stunde, mit dem Nationalrat Doktor Raschin gesprochen. Er hatte ihm seinen Eindruck mit Betonung vermittelt, die zugleich eine Anregung war. Seine Mitteilungen kreuzten sich mit der zur gleichen Zeit in Prag eintreffenden Nachricht, daß der Präsident Wilson den neuen Tschechoslowakischen Staat anerkenne. Der Bescheid des Nationalrates Doktor Raschin an den Abgeordneten Tuszar war unmittelbar darauf gewesen:

»Wir können keine Abgeordneten an die Front schicken, solange nicht Österreich-Ungarn kapituliert ohne jede Bedingung.«

Der Abgeordnete hatte die Meldung des Vorgefallenen sogleich auch an das Wiener Sekretariat der Südslawen weitergegeben. Von dem Sekretariat war unverzüglich an den südslawischen Nationalrat berichtet worden. Noch ehe Oberst Ronge sich den zugesagten Bescheid holte, war bei dem Abgeordneten mit gleicher Bitte der Admiral Holub erschienen: in Pola sei Meuterei ausgebrochen, der Kriegshafen läge ungeschützt, Abgeordnete sollten die Matrosen bewegen, bis zum Abschluß des Waffenstillstandes wenigstens auf den Schiffen zu bleiben. Dem Admiral hatte der Abgeordnete die nächtliche Antwort des Prager Nationalrates übermittelt. Dem Obersten Ronge hatte er sie mit der Bitte wiederholt, sie auch dem Kaiser zu überbringen. Der Oberst war dann ein drittes Mal gekommen: die Kapitulation sei schon unterwegs. Die Forderungen des Präsidenten Wilson seien restlos angenommen. Die Anerkennung des Tschechoslowakischen Staates stehe bereits fest.

In Prag hatte die Nachricht, daß die österreichisch-ungarische Armee zurückgehen werde, dem Nationalrat letzte Gewißheit über die Nähe jeder Erfüllung verschafft. Zwar hielten sich die wichtigsten oppositionellen Führer nicht in Prag auf, vielmehr in der Schweiz, wohin sie, »um die gesamte internationale Situation zu prüfen«, mit den Pässen gereist waren, die ihnen gutgläubig der Minister des Äußern ausgestellt hatte. Sie hatten auf der Durchreise nach Genf für den Fall eines allgemeinen Zusammenbruches während ihrer Abwesenheit noch eine letzte Generaldisposition mit den Südslawen im Wiener »Hotel de France« vereinbart. Sie hatten beschlossen, mit dem alten Österreich überhaupt keine Verhandlungen mehr einzugehen. Nichts sollte an Bindendem geschehen oder zugesagt werden, ehe nicht Klarheit über die Absichten und Erfolge des Professors Massaryk in die Heimat gelangt wäre. Auch dem Ministerpräsidenten Lammasch hatte der gleichfalls nach Genf reisende Tschechenführer Karl Kramarè, als der Ministerpräsident ihn im »Hotel de France« aufsuchte, kühl erklärt, daß er auf Verhandlungen mit ihm sich überhaupt nicht einlasse, und dem Abgeordneten Tuszar war noch das Geld überantwortet worden, das er brauchen werde, um sich als »neuer, tschechoslowakischer Gesandter« in Wien einzurichten. Dann waren die Tschechenführer abgereist. Zwar war von ihnen noch keinerlei nähere Nachricht in Prag eingetroffen. Aber über den Augenblick, da mit der Meldung der Anerkennung durch den Präsidenten Wilson zugleich durch den Anruf des Abgeordneten Tuszar die Zurücknahme der Front feststand, über den Augenblick hinaus, da die Hauptstadt auch noch vom kaiserlichen Statthalter verlassen worden war, hatte der Nationalrat nicht mehr warten wollen. Von Doktor Raschin war, als Graf Coudenhove den Schnellzug bestiegen hatte, das Signal gegeben worden:

»Dann gehen wir los!«

Auf der Prager Kleinseite hatte der Nationalrat um zehn Uhr vormittags als provisorische Regierung die Ämter übernommen. Die österreichischen Zivilbehörden und die militärischen Befehlshaber waren zu einer Beratung zusammengetreten. Der Stellvertreter des Statthalters, selbst ein Tscheche, besorgte Blutvergießen. Der Kommandant von Prag, General Kestranek, besann sich eines Befehls des Kriegsministeriums, daß der Bildung der Nationalstaaten keinerlei Schwierigkeiten in den Weg zu legen wären. Er nahm die provisorische Regierung, die sich jetzt der Ämter bemächtigte, als eine Regierung im Sinne des kaiserlichen Manifestes. Beschlossen wurde, die Truppen von der Straße zurückzuziehen. Mit dem tschechenfreundlichen General Zanantoni begab sich der Kommandant von Prag im Automobil zum Sitze der provisorischen Regierung. Vereinbarungen wurden getroffen: daß bei der Nationalregierung ein Verbindungsoffizier des Militärkommandos, beim Militärkommando ein Vertrauensmann der Nationalregierung bestellt werde; und daß künftig die Truppen, wenn sie zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Ruhe ausrückten, nicht mehr wie bisher von politischen Beamten geführt werden sollten, sondern von Sokoln. Die Vereinbarungen erhielten die Form eines »Militärstationskommandobefehls«. Der Befehl wurde an die Truppen ausgegeben.

Die Prager Truppen waren Tschechen, Ungarn und Egerländer. Mit den Sokoln wollten die tschechischen Soldaten freudig marschieren. Die Egerländer und Ungarn aber erklärten: unter Sokolführerschaft verweigerten sie den Gehorsam.

 

So weit waren die Ereignisse in Prag gediehen, als der Statthalter Graf Coudenhove und kurz nach ihm der Abgeordnete Tuszar im Ministerrate erschienen. An eine Revolution in Prag wollte niemand glauben. Aber das Land war sichtbar abgeschnitten. Der Eisenbahnminister, Freiherr von Banhans, sprach von einer soeben eingetroffenen Meldung aller böhmischen Grenzstationen, der von einem Rundbefehl des Nationalrates Zahradnik berichtete, allen Verkehr nach Böhmen hinein zu sperren. Der Abgeordnete Tuszar erklärte, daß er von den Vorkommnissen vollkommen überrascht sei. Der Statthalter rief seinen Stellvertreter in Prag ans Telephon. Er befahl ihm, dem Nationalrat mitzuteilen, daß er nicht befugt sei, die Amtsgewalt zu übergeben. Seine Rückkehr müsse abgewartet werden. Der Abgeordnete Tuszar stellte eine Verbindung mit dem Obmann des Sokolvereins her.

»Ich werde selbst von den Ereignissen überrascht,« begann er ins Telephon zu sprechen, »ich bitte Sie, der Statthalter, der Graf Coudenhove, ist jetzt auf der Rückreise nach Prag« – –

Er brach den angefangenen Satz ab und erkundigte sich nach dem Verlaufe der Ereignisse.

»Es ist vollständig Ruhe in Prag,« erwiderte der Obmann des Sokolvereins, »Sie können den Herren mitteilen: es ist ganz ruhig« – –

Der Statthalter erbot sich, sofort nach Prag umzukehren. Der Ministerrat stimmte zu. Der Graf reiste auch unverzüglich ab. In Prag hatte ihn der Abgeordnete Tuszar angemeldet. Er reiste in die Gefangenschaft.

 

In Nusle, der Eisenbahnstation vor Prag, stiegen Sokoln in seinen Zug. Und ein Aufgebot von Sokoln und tschechischen Offizieren nahm ihn in Haft, da der Zug im Prager Bahnhof hielt. Dem Statthalter wurde eröffnet, daß er in die Statthaltern nicht mehr zurückkehren dürfe. Er wurde in die Bahnhofskanzlei gebracht. Er erhob Protest gegen die Gefangensetzung und gegen das Verbot, an seinen Amtssitz sich zu begeben. Die provisorische Regierung befahl endlich, ihn in die Statthalterei zurückzubringen. Vor dem Bahnhofe staute sich die Menge.

»Der Statthalter ist verhaftet und gefangen!«

Mühsam kam das Auto vorwärts. Die Menge wollte es stürmen. Sokoln waren die Eskorte.

Im Statthaltereigebäude sagten sich gleich darauf die Nationalräte Doktor Raschin, Svehla, Strbany an. Der tschechische Justizminister hatte sich ihnen angeschlossen. Sie hätten eine provisorische Nationalregierung gebildet. Sie fragten an, ob Graf Coudenhove über den Beginn ihrer Tätigkeit in Wien unterrichtet worden sei. Der Statthalter verneinte. Die vier Nationalräte beriefen sich jetzt auf das kaiserliche Manifest:

»Wenn der Kaiser selbst will, so kann uns niemand an der Errichtung des Nationalstaates hindern. Das Volk drängt!«

Es war unzweifelhaft, daß die vier Abgesandten durchaus auf monarchischem Boden standen. Wenigstens setzten sie ihre Worte so und kleideten in sie ihre Wünsche. Der Statthalter wußte nicht, ob nicht inzwischen von der Wiener Regierung Anordnungen getroffen worden waren, die er noch nicht kannte. Er erklärte, sofort mit der Wiener Regierung sprechen zu wollen. Die Nationalräte begehrten, daß er ihre Anerkennung in Wien verlange und erwirke. Sie forderten überdies, daß sie allen Bezirkshauptmannschaften noch am gleichen Tage durch Erlaß bekanntgegeben werde. Der Statthalter machte jetzt darauf aufmerksam, daß ein solcher Erlaß an die deutschen Bezirkshauptmannschaften des Landes schon deshalb nicht möglich sei, weil sich kein Deutscher in der Mitte des Nationalrates befinde. Aber er wolle Weisung aus Wien einholen.

Die vier Nationalräte machten einen Vorschlag. Der Statthalter sollte mit ihnen gemeinsam die neue Verwaltung einrichten und selbst die Verwaltung führen. Sie setzten dabei voraus, daß der Graf guten Willens sei. Der Statthalter hatte den Eindruck, daß der Vorschlag aus der Unsicherheit geboren war, mit der die vier Nationalräte vor der kommenden Regelung der deutschböhmischen Frage standen. Sie wußten nur, daß der Statthalter von starkem Einfluß auf die Deutschböhmen war. Sein Einfluß konnte vielleicht helfen.

In seiner Unterredung mit dem Minister des Innern, die der Statthalter sogleich herbeiführte, bat Graf Coudenhove, wenn die Forderungen des Nationalrates bewilligt würden, um seine Enthebung. Ein kaiserlicher Statthalter sei überflüssig, wenn eine Nationalregierung ausgerufen würde. Aber die Wiener Weisung lautete, daß der neugebildeten Regierung keine Schwierigkeiten bereitet werden sollten. Graf Coudenhove werde »bis zur Klärung der Lage« beurlaubt.

Allerdings war inzwischen, was auch Graf Coudenhove dem Minister des Innern melden mußte, das tschechische Militär vollends in die Hände der nationalen Vertrauensmänner gekommen. Die Ungarn und Egerländer verlangten, aus erwachendem nationalen Trieb, daß auch sie in ihre Heimat gebracht würden. Vor Graf Coudenhove erschien noch der Kommandant von Prag, General Kestranek, um zu berichten, daß er eine militärgerichtliche Untersuchung gegen sich selbst verlangen werde, denn vom Kriegsministerium sei sein Abkommen mit dem Nationalrate, sein ganzes Verhalten empfindlich gerügt worden. Er versuchte nicht nur, sich jetzt wenigstens vor dem Statthalter zu rechtfertigen. Am nächsten Tage, dem 30. Oktober, unternahm er es noch einmal, mit geringen Truppen wieder die Macht zu ergreifen, die er fortgegeben hatte. Im Hofe des Militärkommandos mißlang der Versuch. Nur eine kleine Zahl von Soldaten gehorchte dem Befehl, aufzumarschieren. Die tschechischen Truppen behielten die Überzahl.

Den vier Nationalräten, die bei Graf Coudenhove vorgesprochen hatten, teilte der beurlaubte Statthalter die Wiener Entscheidung schriftlich mit. Der Nationalrat erwiderte, daß die Volksstimmung sich sehr aufgeregt zeige, und daß man, um Zwischenfälle zu vermeiden, dem Grafen eine militärische Wache beistelle. Ein Schiffsleutnant meldete sich mit seiner Mannschaft bei ihm. Die Mannschaft gehorchte in der ersten Nacht. Dann verweigerte sie ihrem Kommandanten den Gehorsam und jagte ihn fort. Der Statthalter blieb der Gefangene einer Schar von Deserteuren und Rückwanderern aus Rußland, die ihm, trotz eines Geleitbriefes des neuen Prager Militärkommandanten, von Zimmer zu Zimmer mit aufgepflanzten Bajonetten folgten. Er blieb ohne Zeitungen und Post. Seine Umwelt versank.

Aber die Aufrichtung des Tschechoslowakischen Staates, die Übernahme der Macht, vollzog sich ohne Gewehrschuß. Und der Abfall von Österreich war vollendet.

 

An dem gleichen Tage, da in Prag sich der Übergang von alter Macht zu neuer Macht vollzog, nüchtern in der Haltung der Vollziehenden, rechnerisch geschickt, dabei immer noch verdeckt in der Wahl aller Mittel, die im Augenblicke nur vorwärts halfen, und ohne genaues Wissen oder Wollen für eine Zukunft, die außerhalb der Landesgrenzen stärkere Lenker bestimmen sollten: an dem gleichen Tage rüstete sich offen und in freier Festlichkeit in der kroatischen Hauptstadt Agram das Volk der Südslawen zur Erhebung.

Ein uralter, vielhundertjähriger Traum sollte den Südslawen Erfüllung werden: die nunmehr unantastbare Selbständigkeit ihres Reiches. Seit vor Tagen die Kroatenrevolte in Fiume hochgeschlagen hatte, seit die Ungarn dort entwaffnet und heimgeschickt worden waren, wußte jeder Südslawe, daß die Stunde des Abfalles von Ungarn wie von Österreich besiegelt war. Der kroatische Landtag wurde für den 29. Oktober einberufen, aber die kroatischen Abgeordneten, die ihn hatten rufen lassen, hatten sich schon vorher zu allen Forderungen und Beschlüssen bekannt, die das Programm des südslawischen Nationalrates waren. Seit Tagen zog die Menge mit ihren altkroatischen Liedern durch die Straßen der Hauptstadt, durch die zum erstenmal – denn bis jetzt waren ihre Abzeichen verboten gewesen – viertausend Sokoln frei marschierten. Die Arbeit ruhte in allen Werkstätten, die Bauern schickten ihre Abordnungen von weit draußen im Lande. Der Stadtrat von Agram tat sich am 29. Oktober in besonders angesagter Sitzung zusammen. Sein Gruß galt dem Nationalrat, der allein die politische Stellung und Zukunft der Südslawen in Übereinstimmung mit dem »Südslawischen Komitee« in London festzusetzen hätte. Sein Beschluß schuf eine Nationalgarde, für die, in feierlichem Auftreten vor dem Nationalrat, die patriotischen Frauen und Mädchen ihre schweren Goldketten, ihre goldenen Ringe und Gehänge niederlegten. Schon der Vortag der Erhebung war durchflutet von Begeisterung und freiheitlichem Rausch. Die kroatischen Honveds ließ der Oberst Kußvar auf den Nationalrat im Kasernenhofe seines Regiments schwören. Im Nationalrate stellte sich der General der Infanterie Snjariè, wenige Stunden nachdem er dem Kaiser sein erschütterndes Telegramm gesendet hatte, zugleich der Landwehrkommandant Feldmarschalleutnant Mihajlovics, beide mit ihren Truppen zur Verfügung. Von den Kappen der Offiziere verschwanden die Rosetten. Sie wurden mit Kokarden geschmückt. Die ungarischen Offiziere wurden in ihre Heimat entlassen. Im Nationaltheater, das in festlichem Hause ein Drama des nationalen Dichters Vojnovic aufführte, trugen leidenschaftliche, zukunftsfrohe Reden die Zuhörer empor. Der Nationalrat aber arbeitete die Nacht hindurch: der 29. Oktober sollte ein historisches Erlebnis und Denkmal bleiben in der Erinnerung aller Südslawen.

Vergessen war, fast vergeben sogar das Leid, das sie um ihrer Abhängigkeit willen bis jetzt mit sich herumgetragen. Sie hatten unter allen Slawen der Monarchie ihren Kampf am kühnsten geführt.

Sie hatten die Karten ihres neuen Staates längst gezeichnet, ohne sie allzu ängstlich zu verbergen. In Laibach war der tschechische Abgeordnete Tuszar, vorsichtig und abwartend bis zum Schlusse, über die Sorglosigkeit erschrocken, mit der sie diese Karten und Beschlüsse vervielfältigten und verbreiteten. Vielleicht trieb doppeltes Spiel mit dem Kaiser nur der hohe Klerus, der nächste Anhang des Bischofs Jegliè, der bei der südslawisch-tschechischen Tagung in Laibach nicht genug Worte aufrührerischer, aufstachelnder Leidenschaft wußte, die ihn von huldigenden, schriftlichen Bekenntnissen, von beruhigendsten Beteuerungen an den Kaiser noch spät danach, noch in der Manifestzeit nicht abhielten. Aber die südslawischen Volksführer rechneten, wenn man von der immer kleineren Gruppe des Habsburganhängers Frank absah, mit Österreich auch ohne Deckspiel nicht mehr. Nach Graf Tiszas bosnischer Septemberreise, auf die er sein magyarisches Herrentum mit dem brüsken, ungebrochenen Willen mitgenommen hatte, auch jetzt noch die Reichsländer in irgendeiner Form an Ungarn zu schmieden, als Österreich vor den Südslawen auch dazu schwieg, hatte der Geistliche Korošec erbittert ausgerufen:

»Jetzt bin ich fertig mit Österreich« – –

Außerhalb der Landesgrenzen entwickelten die tschechischen Verbündeten der Südslawen längst ihre werbende Tatkraft. Ihre Brüder daheim blieben in Erwartung sicher, im Widerstand passiv. Aber die Verbindung zu dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der ihnen zur Vollendung ihrer Ziele helfen sollte, da das Haus Habsburg die Vollendung versäumt hatte, die Verbindung zu ihrem Sprecher Trumbic in England suchten die Südslawen in ihrem Trotz unmittelbar durch Gefahr und schwerste Bedrohung. Über die Insel Lissa entsandten sie ihre Kuriere schließlich bis zu den feindlichen Torpedobooten. Der Chef des Generalstabes Baron Arz hatte darüber und über alle anderen Pläne und Vorbereitungen der »Südslawischen Organisation« wenige Tage nach dem Erlassen des kaiserlichen Manifestes, einen ausführlichen Bericht seiner Vertrauensmänner in Händen gehalten, den er dem kaiserlichen Militärkabinett überwies.

Zweifelhaft war, ob der Bericht auch dem Kaiser selbst zur Einsicht vorgelegt worden war. Denn der Chef des Generalstabes Baron Arz pflegte nicht alles, das ihn verstimmen mußte, dem Kaiser vorzutragen. Es konnte sein, daß Baron Arz auch mit der bloßen Überweisung solcher Schriftstücke an das Militärkabinett seine Pflicht als erfüllt empfand. Aber der Umfang, der Ernst und die Unabänderlichkeit der Südslawenbewegung, auch von dem Generalstabschef so sehr verstanden, daß er das Fehlen der südslawischen Lösung noch im Manifest bemängelte, mußte allen Verantwortlichen in der Monarchie klar geworden sein. So unbeirrt, so fest, so offen war sie in den erhitzten Königreichen betrieben worden.

Aber selbst der Kampf war im Augenblick schon vergessen. Denn der volle Sieg war erfochten. Am 29. Oktober 1918 forderte und erreichte in feierlicher Landtagssitzung zu Agram der Präsident des »Südslawischen Nationalrates« die Annahme seines Antrages:

»Der Nationalrat möge beschließen, daß heute das staatsrechtliche Verhältnis zwischen den Königreichen Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Fiume und dem Königreich Ungarn einerseits und Österreich anderseits aufgehoben, daß insbesondere das Ausgleichsgesetz zwischen Kroatien und Ungarn samt seinen Nachtragsartikeln für null und nichtig erklärt werde, daß infolgedessen das Königreich Kroatien, Slawonien und Dalmatien von nun an selbständig und von Ungarn und von Österreich in jeder Beziehung als unabhängig zu betrachten sei« – –

Der Präsident des Nationalrates begründete seinen Antrag:

»Auch schon früher hätten die Kroaten, Serben und Slowenen die Fesseln gesprengt, die ihnen die staatsrechtlichen Verhältnisse aufgezwungen haben, wenn sie die Macht dazu gehabt hätten. Aber so schmachvoll waren die Fesseln, daß sie uns das Furchtbarste angetan haben, was einem Volke angetan werden kann, indem sie uns gezwungen haben, unser Blut im Kampfe gegen unsere Brüder und gegen unsere Interessen stromweise zu vergießen. Heute, da die Situation eine solche ist, daß sie uns durch unser eigenes Bewußtsein und durch das Machtwort des Präsidenten der Vereinigten Staaten die Möglichkeit verlieh, über unser Schicksal selbst zu entscheiden, muß es offen und aufrichtig nach außen und innen gesagt werden, daß das Volk der Kroaten, Serben und Slowenen weder mit Österreich, noch mit Ungarn gebunden sein kann und die Vereinigung des gesamten Volkes der Slowenen, Kroaten und Serben auf dessen ganzem ethnographischen Gebiete vom Isonzo bis zum Vardar in einen souveränen und unabhängigen Staat fordert. Über die innere Struktur dieses Staates hat der Sabor kein Recht, das endgültige Wort zu sprechen, da er nur einen Teil des dreieinigen Volkes repräsentiert. Die Staatsform und die Verfassung wird die Konstituante zu beschließen haben, die auf Grund des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechtes von unserem gesamten Volke gewählt werden wird. Das eine muß jedoch heute schon gesagt werden, daß dieser Staat nur auf demokratischer Grundlage basieren kann, die jeden Kroaten, Slowenen und Serben nicht nur national gleichberechtigt, sondern auch in sozialer Hinsicht gleichstellt, damit jeder Kroate, Serbe oder Slowene in diesem Staate nach seiner Eigenart leben und glücklich leben kann.«

Der Abgeordnete Anton Pavelics verlangte die Annahme eines Antrages:

»Der Sabor beschließt, daß die gesamte Exekutivgewalt in Dalmatien, Kroatien und Slawonien dem Nationalrat zu übertragen sei, der berechtigt wird, die Politik des Landes zu leiten und die gesamte Gewalt im Lande auszuüben.«

Beide Anträge wurden Beschluß und Gesetz. Niemand stimmte gegen sie. In den Landtagssaal traten jetzt die Generale Snjariè und Mihajlovics, mit ihnen viele kroatische Stabsoffiziere. Sie trugen die neuen Kokarden, sie kamen als die Führer der nur mehr kroatischen Truppen, der Ruf brauste ihnen entgegen: »Es lebe die nationale Armee!«

Der königliche Banus von Kroatien, Anton von Mihalovich, soeben vom Kaiser und König aus Wien zurückgekehrt, vor allem um die Ruhe und Besonnenheit verdient, mit der bisher die staatliche Umwälzung sich vollzog, trat vor den Nationalrat. Die beiden Anträge nahm er vollinhaltlich an: dem Nationalrat übergebe er die gesamte Exekutive im Lande. Die Nationalräte und die Menge auf den Galerien unterbrachen ihn:

»Es lebe der nationale Banus!«

»Sollten gewisse Faktoren diese Erklärung übelnehmen,« schloß der Banus, »so kann ich nur sagen, daß ich mich als Sohn der Kroaten, Serben und Slowenen fühle und in diesem historisch wichtigen Moment nicht anders handeln kann.«

Musik fiel in die Rede. Eine Militärkapelle stimmte von draußen her, von der Straße, die kroatische Nationalhymne an. Versunken war das »Gott erhalte …« Die Versammlung brach auf. Ein Tedeum wurde gelesen. Der Staat der Südslawen war errichtet.

 

Zwar war das offene kroatische Land, wenngleich die Agramer Ereignisse sich mit ruhiger, ungestörter Klarheit voll kraftvollen Selbstbewußtseins abgespielt hatten, noch überall von Unsicherheit, von den Erschütterungen des Zusammenbruches bedroht: die »grünen Kaders«, die sich seit Monaten schon im Gebiete der alten österreichischen Militärgrenze umhertrieben, Banden von Deserteuren, Kriegsflüchtigen und Verfolgten oder Ausgebrochenen jeder Art, bisweilen zwanzigtausend Köpfe stark, bisweilen mehr, waren aus den Wäldern Slawoniens hervorgestürmt, die bis jetzt ihr Schutz gewesen waren, wenn die Streifen der immer schwächer werdenden Militärbehörden sie suchten. Sie hatten ursprünglich eine revolutionäre Armee bilden, sich für die Revolution, mit der sie sicher rechneten, bereit halten wollen: nach dem Sinken der alten Gewalt jagten sie, die bisher nachts bei den Bauern heimlich gebettelt hatten, mit Plünderung und Raub, mit Totschlag und Brand über das Land. Adelsschlösser rauchten aus Flammen, die Banden überfielen die Reisenden, sie rissen die Schienen auf: Verkehr und Zusammenhang versagte im Staate, der soeben erst sein Leben verkündet hatte. Der Nationalrat verhängte das Standrecht über die Provinzen zuchtlosen, räuberischen Faustrechts. Mit seinen Truppen, mit den Nationalgarden, die von Stadt zu Stadt gebildet wurden, wollte er rasch und hart Ordnung schaffen. Über die flammenden Schlösser, über die verworrenen Landstriche hinweg, über den verkehrslosen Streif tief nach Süden flog dennoch die Geburtsnachricht des Südslawischen Staates.

 

Im Konak von Sarajewo saß der Landeschef von Bosnien und Herzegowina, der Generaloberst Freiherr von Sarkotics, immer noch als Stellvertreter des Kaisers. Er war vor kurzer Frist an seinen Amtssitz erst zurückgekehrt. Im Zusammenhang mit allen Ereignissen, die an das kaiserliche Manifest sich knüpften, mit allen betäubenden Ereignissen, die er seit Stephan Tiszas Besuch schon fürchtete und die seine Verstimmung, da er andere Auswege der Reichspolitik zu wissen glaubte, nur täglich vertieften, hatte er den Kaiser um seine Enthebung gebeten. Aber auch von dem Boten, den er zuletzt mit einem Briefe an den Kaiser fortgeschickt, war keine Kunde mehr zurückgekommen. In die tiefe Stille, in die bisher die Hauptstadt Sarajewo, die beiden Reichsländer versunken lagen, drang erst am vorletzten Oktobertag Unruhe und plötzliches Geschehnis. Drei »Repräsentanten des Nationalrats« sprachen bei dem Generalobersten vor. Sie stellten drei Forderungen: die Ausfuhr von Lebensmitteln aus Bosnien und der Herzegowina sollte unterbunden werden; die Truppen sollten nichts mehr requirieren dürfen; die in Senitza wegen Hochverrats noch in Haft büßenden Hochverräter sollten befreit werden. Der Generaloberst hielt an den Weisungen fest, die er von der Reichsregierung und vom »Armeeoberkommando« über den Gegenstand der Forderungen hatte, wenn er dabei auch auf den Begnadigungsantrag hinwies, den er, was die Häftlinge betraf, für den nahen Namenstag des Kaisers bereits gestellt hatte. Aber die drei Repräsentanten erweiterten noch ihre Forderungen. Sie schlugen dem Generalobersten die Niederlegung und Übergabe der Regierung vor. Freiherr von Sarkotics verhehlte nicht, daß er um seinen Rücktritt bereits gebeten hätte.

»Der Kaiser hat mich ernannt. Also kann ich nur mit Einwilligung des Kaisers zurücktreten.«

»Aber was in Agram geschehen ist,« erwiderte ein Nationalrat, »kann doch auch in Sarajewo geschehen.«

Die drei Nationalräte wußten, was sich in Agram am Vortage zugetragen hatte, wesentlich genauer als der Generaloberst. Seit Tagen waren im Konak und bei seinem Stabe nur Radiodepeschen eingetroffen, nie vollständig, stets nur halb aufgefangen, stets nur mit sonderbarem, unbegreiflichen Inhalt und verstümmelt. Seit Tagen schienen die Radiogramme, die der Generaloberst hinausschickte, zum Sitze des »Armeeoberkommandos«, ins Hauptquartier des Marschalls Köveß bei der Balkanarmee, zu Generaloberst von Pflanzer-Baltin, der auf dem Rückmärsche von Albanien war, nicht weitergeleitet und verschollen. Seit Tagen war er ohne Antwort, seit Tagen schien die Welt versunken. So blieb er auf seinem Posten vorläufig allein, nur auf seine Macht angewiesen, oder auf die Macht, die er noch sichern konnte, auf seine eigenen Entscheidungen gestellt, für die er allein die Verantwortung hatte.

Die drei Abgesandten schüttelten über das Verhalten des Generalobersten den Kopf. Aber der Freiherr blieb bei seiner Auffassung und Weigerung. Er wäre kaiserlicher General. Die drei gingen. Sie wollten am nächsten Morgen wiederkommen.

Die Unruhe begann durch die Stadt zu ziehen. Kleine Banden taten sich zusammen, sie griffen Magazine und Trainbaracken an. Der Generaloberst schickte ein polnisches Bataillon gegen sie. Es stellte die Ordnung sofort wieder her. Aber einzelne serbisch gesinnte Offiziere und Mitglieder einer Nationalgarde, die sich unversehens bildete, lärmten durch die Straßen und holten Kokarden hervor, die sie an die Kappen steckten. Offiziere und Chauffeure, die im Dienste die Stadt durchquerten, wurden angehalten. Steigendes Fieber ergriff die Stadt, das am nächsten Morgen hochschlug. Umzüge verstärkten sich von Stunde zu Stunde. Die Bildnisse König Peters von Serbien und des Kronprinzen Alexander wurden von Platz zu Platz getragen, Vorübergehende hatten das Haupt zu entblößen, sie mußten die Bilder küssen. Der rangälteste General meldete sich am Nachmittag bei dem Generalobersten. Die jüngeren Offiziere und Mannschaften seien unsicher geworden in ihrer Haltung. Das polnische Bataillon, am Vortage noch ein mustergültiger, zuverlässiger Ordner, wäre zum Bahnhof gestürmt, um davonzufahren. Zuverlässige Nachrichten aus Tusla kämen hinzu: der Kaiser sei in die Schweiz, nach Tirol, nach Innsbruck gereist. Das einzige Mittel, die aufgeregte Menge im Zaume zu halten und Blutvergießen zu vermeiden, wäre der Rücktritt des Landeschefs. Seine Person bedeute ein Hindernis zur Aufrechterhaltung der Ruhe. Im Namen der Generale werde dies dem Generalobersten mitgeteilt.

Freiherr von Sarkotics entließ seine Offiziere. Er müsse sich solchen Schritt noch sehr überlegen. Seine Entscheidung stellte er für den nächsten Vormittag in Aussicht. Am Abend hielt er das Blatt einer Radiodepesche in der Hand: der Kaiser hätte die Reichsflotte dem neuen jugoslawischen Staate geschenkt. Abenteuerliche Meldungen kamen viele, meist über Agram, der Generaloberst wußte nicht einmal, ob sie Wahrheit, ob sie Erfindungen alles wagender Revolutionäre waren. In tiefe Schwermut spann sich der Freiherr ein. Ihm war immer noch der Kaiser sein oberster und einziger Herr. Jetzt mußte er sich fragen, ob überhaupt der Kaiser, der ihn nicht mehr hörte, der nicht mehr mit ihm sprach, noch lebte. Ob er wirklich nach Innsbruck geflüchtet war. Eine Meldung traf ein, daß der ungarische Kriegsminister die Heimsendung der ungarischen Truppen verlange. Der Generaloberst hatte dem Kaiser, da er den Krieg verloren sah, um das Schlimmste abzuwenden, die Bitte unterbreitet, daß er Sonderfrieden schließe. Jetzt schien das Schlimmste da. Der Generaloberst trug sich mit Selbstmordgedanken.

Auch dem Freiherrn unterstand eine ungarische Division. Von Tusla meldete der Befehlshaber, daß die Soldaten ihren Abmarsch verlangten. Der Generaloberst befahl, sie noch ein paar Tage in Ordnung zu halten. Dann sollten sie den Heimweg antreten. Nur nicht als Einzelbanden wollte er sie heimkehren lassen. Er beschloß, als Landeschef zurückzutreten. Als kommandierender General wollte er ausharren, damit die Rückbeförderung seiner Truppen in Ordnung, in Ehren und mit den Waffen erfolge. Er rief die Generale, drei Sektionschefs der alten, kaiserlichen Regierung, drei Vertreter des Nationalrates zusammen. Der rangälteste General Metanovic wiederholte die Bitte des Vortages. Blutvergießen sollte vermieden werden. Wenn später ein Vorwurf gegen den Landeschef sich erhebe, so wollten die Generale für ihn einstehen. Wieder entließ der Freiherr die Generale. Gleich darauf bat er alle drei Gruppen zu sich. Er sprach sie ungefähr an:

»Meine Herren!

Soeben haben mich die Generale gebeten, von meinem Posten als Landeschef zurückzutreten, weil die Nachrichten besagen, daß Seine Majestät nicht mehr die Regierungsgeschäfte versieht, daß er in die Schweiz fuhr; weil die Sicherheit in der Stadt gefährdet ist und weil einem Blutvergießen durch meinen Rücktritt vorgebeugt werden könnte.

Ich bin gewiß für die nationale Einigung kein Hindernis, um so mehr, als ich selbst Südslawe bin. Aber ich trete zurück und ersuche den ältesten Sektionschef, die Regierung an den Nationalrat zu übergeben.«

In den Reichsländern war – am 1. November, mittags 1 Uhr – die österreichisch-ungarische Oberhoheit zu Ende. Der Generaloberst führte die Truppen aus dem Lande, »in Ehren und mit den Waffen«, in Bosnien selbst unbedroht. In Agram wurde der letzte kaiserliche General der Reichslande ein Gefangener, den spät der Nationalrat von Sarajewo freibat.

Bosnien und Herzegowina, genau vier Jahrzehnte unter habsburgischer Herrschaft, von den Habsburgern mit Reichsmitteln ausgebaut und erhoben, schlössen sich mit Dalmatien dem Südslawischen Staate an. Die Vereinigung mit dem Königreich Serbien war vollzogen. Die jahrhundertalten Fahnen und Adler, die Bildnisse der Habsburger sanken. Die Karageorg lösten sie ab.

 

In Schönbrunn herrschte Klarheit über den Abfall der Slawen schon seit dem 30. Oktober. Dem Südslawischen Staate hatte der Kaiser an diesem Tage wirklich die Reichsflotte als Geschenk dargebracht: der letzte Ausweg vor einer Revolte, die durch depravierte Matrosen die Schiffe an den Feind liefern wollte. Admiral von Horthy hatte den Ausweg dem Kaiser vorgeschlagen und Graf Andrássy, den der Monarch in seiner Ratlosigkeit anrief:

»Was soll ich mit der Flotte machen?«

Auch Graf Andrássy hatte geantwortet:

»Es bleibt nichts anderes übrig, Majestät, als die Flotte dem Südslawischen Staate zu schenken.«

So konnte wenigstens eingebildete Hoffnung bestehen, daß sie in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Anteilen den Nachfolgestaaten und damit auch dem Hause Habsburg verblieb. Denn schien auch die Abkehr der Nationalstaaten vom alten Reiche allen ausgesprochen: unklar war oder als unklar konnten Kaiser und Wiener Regierung vielleicht noch die Haltung der Aufständischen gegenüber dem Herrscher ansehen. Die Revolutionäre in Prag hatten von einer Absetzung der Habsburger nicht gesprochen. Im Gegenteil. Sie hatten sich bei ihren Forderungen auf den Willen des Kaisers noch ausdrücklich berufen. In Agram hatte der Nationalrat die Bestimmung der Staatsform der konstituierenden Nationalversammlung vorbehalten. Über die Ereignisse in den neuen Slawenreichen waren in Schönbrunn auch nur verwischte, unvollständige, fast zufällige Nachrichten eingetroffen. Fest stand in den letzten Oktobertagen nur: vom alten Österreich-Ungarn hatten sich Tschechen und Südslawen in aller Form losgesagt, – den Krieg der Monarchie kämpften sie nicht mehr mit. Die ungarische Entwicklung drängte für sich besonderer Entladung zu. Und im »Niederösterreichischen Landtag« war vom deutschen Nationalrat unter drei gleichberechtigten Präsidenten ein Staatsrat eingesetzt worden. Der Antrag zur Bildung einer eigenen Regierung wurde angenommen, der als Staatskanzler der Sozialistenführer Karl Renner vorstehen sollte. Staat um Staat richtete sich auf, unabhängig, unbekümmert um den Nachbarstaat, – kein Kronland von gestern bekannte sich mehr zur alten Reichseinheit. Am Morgen des 30. Oktober befahl der Kaiser, ein Ende zu machen. Sofort sollten die Waffenstillstandsverhandlungen eingeleitet werden. Von Trient sollte die dort schon versammelte Kommission, geschlossen und unverzüglich, über die feindlichen Linien gehen. Der Chef des Generalstabes gab den Befehl hinaus. Der Chef des Generalstabes wandte sich noch einmal an den Generalfeldmarschall v. Hindenburg:

»Erschüttert melde ich E. E. die eingetretenen Verhältnisse. Truppen ohne Unterschied der Nationalitäten von über 30 Divisionen weigern sich, weiterzukämpfen. Teile einzelner Regimenter verlassen eigenmächtig Stellung, ein Regiment der Reserve ist abmarschiert. Marschformationen sind nicht zur Einreihung zu bewegen. Ungarische Truppen erklären, unter keinen Umständen weiterzukämpfen, verlangen ihre Heimbeförderung, weil Heimat in Gefahr und Feind vor den Grenzen ihres Vaterlandes. Kommandanten sind machtlos.

Bewunderungswürdig kämpfen die in Stellung befindlichen Truppen, weil sie infolge Kampfhandlung politisch nicht verseucht sind.

Ihre Kampfkraft erlahmt. Zuführen von Reserven oder Ablösung ausgeschlossen, da Truppe nicht an Front heranzubringen.

Marinemannschaften erklären, am 1. November Schiffe zu verlassen, alles zu teilen und haben Soldatenräte gebildet.

Einstimmig verlangen höhere Führer sofortigen Waffenstillstand, weil sonst Anarchie unausweichlich und Bolschewismus unausbleiblich.

Lebensmittelzufuhr versagt; Bahnbetrieb in manchen Landesteilen kaum mehr aufrecht zu erhalten. Lage im Hinterland verworren und trostlos.

Unter diesen Umständen muß gerettet werden, was noch möglich. Da es auf Stunden ankommt, muß rasch gehandelt werden.

Der Weg Wilson ist zu lang.

Kommission sucht Verbindung mit italienischer Heeresleitung, um über Waffenstillstand zu verhandeln.

Schweren Herzens mache ich diese Mitteilung.

E. E. gehorsamster
v. Arz, GO.«

An Kaiser Wilhelm wandte sich Kaiser Karl:

»30. Oktober 1918.

Seine Apostolische Majestät an Seine Majestät den Deutschen Kaiser.

Ich war heute früh genötigt, da die militärische Lage unhaltbar geworden ist, den Italienern einen Waffenstillstand anzutragen. Falls aber die Italiener die Bedingung stellen, daß die Bahnen durch Tirol und Kärnten (Tauernbahn, Brennerbahn, Südbahn) für den Durchzug der feindlichen Truppen gegen Deine Länder geöffnet werden sollten, so werde ich mich an die Spitze meiner Deutschösterreicher stellen und den Durchzug mit Waffengewalt verhindern. Darauf kannst Du fest vertrauen. Auf die Truppen der anderen Nationalitäten kann man sich in dem Falle nicht verlassen.

In treuer Freundschaft
Karl.«

Um jeden Preis wollte Kaiser Karl jetzt das Ende wenigstens des Kampfes herbeigeführt sehen. Den verbündeten Herrscher, der die Gefahr und den ganzen Umsturz in Österreich-Ungarn nicht im vollen furchtbaren Umfange übersehen konnte, wollte er über das Schlimmste wenigstens beruhigen. Kaiser Wilhelm erreichte die Depesche nicht in der deutschen Hauptstadt. Denn er befand sich auf der Fahrt nach Spa.

*


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