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Der deutsche Kaiser

Kaiser Wilhelm II. hatte beschlossen, sich ins Hauptquartier des »Großen Generalstabes« nach Spa zu begeben. Im »Neuen Palais« in Potsdam mochten Erregungen, die aus der Entwicklung düsterer Kriegslage bis unmittelbar an das Staatsoberhaupt heranschlugen, den Abreisebeschluß trotz seines plötzlichen Entstehens noch verdichtet haben. Es war der 29. Oktober 1918. Zwei Tage zuvor hatte der Kaiser sich von General Ludendorff in jähem Zerwürfnis getrennt. Der Vortrag des Staatssekretärs Doktor Solf, den er durch den Grafen Eulenburg in das »Neue Palais« hatte holen lassen, die bestimmten Worte, mit denen der Staatssekretär sich trotz der Anwesenheit des Fürsten Solms-Baruth, der beiden Kabinettchefs Delbrück und Marschall, endlich des Grafen Eulenburg über den Zwang zur Entlassung General Ludendorffs ausgesprochen hatte, waren für die Preisgabe des Ersten Generalquartiermeisters nicht weniger entscheidend gewesen, als kurz darauf – eben wegen der Verabschiedung des Generals – die Kabinettsfrage des Prinzen Max. Der Staatssekretär, mit ihm der Kanzler, hatten vom Rücktritt des Ersten Generalquartiermeisters außenpolitische wie innere Entspannung erhofft. Mit dem Chef des Militärkabinetts hatte der Staatssekretär vor seiner Unterredung mit dem Kaiser die Frage erwogen, ob in der deutschen Armee gleichbefähigter Ersatz für General Ludendorff vorhanden sei. Der Chef des Militärkabinetts hatte die Frage bejaht, der Staatssekretär sodann den Kaiser das Gutachten des Generals von Marschall wissen lassen. Sein eigener Vorschlag war es gewesen, daß der Kaiser den Ersten Generalquartiermeister entferne, aber den Generalfeldmarschall zum Bleiben bewege. Zwei Tage darauf war der Staatssekretär des Äußeren wieder vor den Kaiser, diesmal nach Schloß Bellevue, gerufen worden.

»Sie müssen mir danken,« war sofort die kaiserliche Begrüßung gewesen, »denn ich habe das getan, über das Sie mir neulich Vortrag gehalten haben. Die Operation ist gelungen. Ich habe das siamesische Zwillingspaar auseinandergeschnitten und Hindenburg bleibt.«

Mehr mit müdem Überdruß als zornerfüllt, hatte er, als beim militärischen Vortrag das Drohwort des Ersten Generalquartiermeisters fiel, daß er gehen wolle, wenn das Vertrauen des Kriegsherrn verloren sei, nach dem scharfen Hin und Her der Rede General Ludendorff schließlich die Entlassung zugerufen:

»Gut. Dann gehen Sie!«

Aber Verstimmung und Sorge über die Änderung in so wichtiger Rücksicht lag, indes von Kiew der neue Generalquartiermeister Generalleutnant Wilhelm Groener auf dem Wege ins Hauptquartier war, als Unruhe in Potsdam um den Kaiser. Alle Anzeichen schwerer, unterirdischer Wallungen, von denen niemand wußte, ob sie nicht morgen schon als eine einzige Reihe gewaltsamer und tödlicher Entladungen an die Oberfläche schlugen, durchliefen das Deutsche Reich. Bedrückt hörte die Kaiserin Augusta Viktoria manchen Bericht und manchen Vorschlag für das Ohr des Kaisers, wie es vielleicht Auswege und Durchwege aus grauverhangener, dennoch nächster Zukunft gebe. Täglich erschien der Wirkliche Geheime Rat von Berg, der Vorgänger des Chefs des Zivilkabinetts, den die Oktoberereignisse beim Aufbau der neuen Volksregierung aus seinem Amt gestoßen hatten, im »Neuen Palais«, und er beriet sich mit dem Kaiser. Der Kriegsbau im Bund der Mittelmächte war sichtbar eben jetzt geborsten und zerbrochen. Das Abschiedswort an General Ludendorff war in einem Atemzuge mit dem andern, bitteren Abschied ausgesprochen worden, den der österreichisch-ungarische Waffengefährte mit seiner Bitte um Sonderfrieden an den Präsidenten der Vereinigten Staaten durch den Grafen Julius Andrássy den Deutschen zurief. Der Reichskanzler Prinz Max von Baden hatte im Kabinett darauf bestanden, daß endlich nach Ludendorffs Entfernung die Generale darüber gehört würden, für welche Frist sie noch die Widerstandskraft der deutschen Heere einschätzten, die sich fortan, ganz abgesehen von Marschall Fochs verstärktem Druck, allein zu schlagen hatten. Einigen Trost konnte das Gutachten der Militärs dem Gedankengang des Kaisers und seiner Ratgeber noch bringen. Im Kabinett hatte der General von Gallwitz erklärt:

»Einen völligen Umschwung durch eine großzügige Offensive mit vollem Sieg halte er für uns allerdings nicht mehr für möglich. Wohl aber festes defensives Durchhalten.«

Noch zuversichtlicher hatte der General von Mudra gesprochen:

»Wir brauchten aber überhaupt nur unsere Armee ausruhen zu lassen. Sei dies geschehen, dann könnten uns die Gegner überhaupt nicht schlagen oder es zum Durchbruche bringen.«

Aller Trost schien hier den Kaiser in trüber Umwelt doch nur und immer wieder nur auf die Armee zu weisen. Der Kanzler saß und arbeitete inmitten der gefährlichen, nervenaufreibenden politischen Spannungen der Reichshauptstadt Berlin. Er arbeitete mit schwer erschütterter Gesundheit, von Grippefiebern durchschüttelt. Dem neuen Volksgeist hatte er Zug um Zug nachgegeben, vielleicht hemmungsloser, als selbst die Noten des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika es entschuldigten, der als Gegner im Vorteil zunächst natürlich das Unmögliche forderte. Die Berner Depesche des Fürsten Hohenlohe-Langenburg, der kühl und nüchtern den bisher unerlebten Vorschlag von der Abdankung eines Hohenzollern weitergab, hatte der Kanzler kommentarlos dem Monarchen geschickt. Zugleich mit der Depesche des preußischen Gesandten von Treutler in München, daß in der bayerischen Hauptstadt das Volk sowohl wie die Regierung die Abdankung des Kaisers mit mehr oder weniger Temperamentaufwand verlange. Eben darum hatte der Kaiser den Staatssekretär Solf zum zweiten Male kommen lassen. Zwar hatte er begehrt, daß der Staatssekretär dem Münchener Gesandten »den Kopf wasche«. Und hatte es auch als »ganz ungeheuerlich« bezeichnet, »daß sein Gesandter ihm solche Sachen mitteile«. Aber der Staatssekretär hatte doch bemerkt, daß der Gesandte »nur in schwerer Zeit eine ihm sicher außerordentlich schwer werdende Pflicht erfüllt hätte, indem er den Kaiser über die Stimmung in seinem Lande aufklärte«. Groß genug wäre gerade in den jüngsten Tagen die Mühe des Auswärtigen Amtes gewesen, auch aus der Berliner Öffentlichkeit ähnliche Gedankengänge fortzuhalten.

»Was verlangt denn das Volk von mir?« hatte Kaiser Wilhelm sich ereifert. »Ich kann doch als alter Soldat nicht aus dem Schützengraben gehen! Hier auf dem Tisch liegen eine ganze Menge Telegramme, die Delbrück mir vorgelegt hat, und die mir ein Beweis sind, daß das Volk treu und loyal hinter mir steht. Warum soll ich denn abdanken?«

Der Staatssekretär hatte geantwortet:

»Nach der letzten Note Wilsons hat das Volk das Gefühl, daß wir ohne den Kaiser einen besseren Frieden bekommen. Das ist die Meinung, die auch in Berlin verbreitet ist.«

Wenn sein eigener Staatssekretär, wenn sogar Prinz Max von Baden, selbst ein Mann aus fürstlichem Geblüt und Thronerbe sogar, kein Wort der Auflehnung fand, um dynastische Rechte zu schützen, so mußte die Vorstellung davon leicht sein, wie die Umsturzbegriffe und Forderungen bei sozialistischen Politikern und in den Köpfen der Massen aussahen. Oder wie sie jählings in der stets unruhigen, unberechenbaren Reichshauptstadt sich entwickeln konnten. Allerlei Pläne waren, teils unmittelbar, teils auf Umwegen, dem Kaiser in den jüngsten Tagen nahegelegt worden, Rettungspläne selbst von unwahrscheinlich phantastischer Art, die nicht in Rebellen gereift waren, vielmehr in Männern treuer Ergebenheit. Auch sie bewiesen nur bedenkliche Wandlung und Wirrnis des Zeitgeistes. Von dem sozialistischen Staatssekretär Philipp Scheidemann wußte der Chef des Militärkabinetts General von Marschall bestimmt zu berichten, daß er ein Schreiben an den Kanzler gerichtet hätte, darin die Abdankung des Kaisers gefordert war. Unausgesprochenes war in der Luft, das kaum mehr so zu nennen war und mit immer häufigeren Schatten schon an das nahe Potsdam streifte. Aller Trost, die Reinheit dynastischer Gefühle und selbst persönliche Sicherheit waren jetzt vielleicht wirklich nur mehr bei der Armee. Überdies hatte der militärische Vortrag dem Kaiser erst am Mittag den ausdrücklichen Wunsch des Generalfeldmarschalls von Hindenburg übermittelt, daß der Oberste Kriegsherr an die Front gehe: »da die Armee nicht wisse, woran sie sei«. Ihr Zusammenhalt sei gefährdet.

Der Kaiser hatte in rascher Entscheidung beschlossen, sich ins Hauptquartier nach Spa zu begeben.

 

So schnell war sie gefallen, daß noch einige Stunden vor dem Aufbruch nicht alle Männer der kaiserlichen Umgebung von ihr wußten. Der Legationsrat Freiherr von Grünau, im kaiserlichen Hoflager der Vertreter des »Auswärtigen Amtes«, erfuhr den Abreisebeschluß im telephonischen Gespräch nur auf zufällige Art. Und mehr als sein Zustandekommen beim militärischen Vortrag wußte am Apparat im »Neuen Palais« der meldende Major auch nicht zu berichten. Dennoch stellte der Legationsrat eine Reihe bedenklicher Fragen sofort. Vor allem, ob der Kanzler von so wichtigem Entschluß verständigt sei. Der Verbindungsoffizier der »Obersten Heeresleitung« verneinte. Unverhohlen drückte der Freiherr über die Unterlassung sein Befremden aus. Sofort müsse der Prinz, wie die Lage beschaffen sei, um so folgenschwere Reise nicht bloß wissen. Er müsse sie auch billigen. Schlecht nur könne der Eindruck auf die Öffentlichkeit sein. Denn sichtlich suche der Kaiser mit dem Aufbruch – in ihrer Auffassung – nur den Schutz der Armee.

Der Freiherr fuhr selbst unverzüglich ins Reichskanzlerpalais.

Alles wurde von dem bestürzten Prinzen erwogen, was den Monarchen von seinem Vorhaben abbringen könnte. Der Kanzler sah die Lage der Regierung, seine eigene Lage unendlich kompliziert, sah alle Entschließungen schwer behindert, vielleicht sogar unmöglich gemacht, wenn der Träger der Krone, um die es im Grunde schon ging, sich jeder Aussprache und jeder Einwirkung entzog. Wenn der Kaiser sich fern in Spa nur mit Generalen und Hofleuten umgab, die dann zuletzt bei ihm den entscheidenden Einfluß in allen Dingen hatten. Die Abreise sollte am vorgerückten Abende erfolgen. Jetzt war die fünfte Stunde. Die Zeit drängte.

Der Kanzler suchte Fühlung mit dem Chef des Zivilkabinetts, Minister Delbrück. Er rief den Kriegsminister Generalleutnant Scheuch in seinem Ministerium an:

»Wissen Sie schon, daß der Kaiser heute an die Front abreist?«

Der Kriegsminister wußte von nichts. Es wäre das erste, das er hörte. Aber der Prinz ließ zu Rufen des Erstaunens keine Zeit.

»Sie müssen das unter allen Umständen verhindern!«

Der Minister wehrte sich:

»Großherzogliche Hoheit, – warum tut das nicht der Kanzler?«

»Ich kriege das nicht mehr fertig« – –

Es war ein Zufall, daß im Kabinett des Kriegsministers gerade der General von Marschall saß. Er hatte den Generalleutnant in Angelegenheit des Militärkabinetts aufgesucht, das durch die jüngste Verfassungsänderung fortan dem Kriegsministerium unterstellt worden war. Der Minister schlug vor, durch den General von Marschall eine Einwirkung auf den Kaiser zu versuchen. Die Abreiseabsicht bestätigte der Chef des Militärkabinetts:

»In zwei Stunden« – –

Die »Oberste Heeresleitung« bestehe darauf, daß der Kaiser an die Front gehe.

»Es sind neue Rückzugsbefehle zu geben. Der Kaiser muß sich auch den Truppen zeigen.«

Der Kriegsminister stimmte zu:

»Das sehe ich ein – –. Aber dann: so schnell wie möglich zurück! Möglichst in zwei, drei Tagen.«

Für schnelle Rückkehr wollte der General beim Kaiser wirken.

Er empfahl sich. Der Kriegsminister ließ sich sogleich mit dem Kanzler neu verbinden. Er meldete, was er erreicht hatte.

Prinz Max blieb skeptisch:

»Passen Sie auf, der Kaiser kommt nicht wieder!«

 

Der Kanzler gab seine Bemühungen darum noch nicht auf. Der Chef des Zivilkabinetts Delbrück blieb unerreichbar. Den diensttuenden Flügeladjutanten hatte Freiherr von Grünau ersucht, telephonisch vom Kanzlerpalais aus, daß er auf eine Verschiebung der kaiserlichen Reise hinwirke. Die Antwort kam nach kurzer Frist lakonisch zurück:

»Es bleibt bei der Abreise!«

Jetzt schlug Freiherr von Grünau vor, daß der Kanzler nach ein paar Tagen, wenn der Kaiser bis dahin nicht zurückgekehrt sei, ihn in ausführlichem Telegramm darum bitte. Aber der Kanzler erwog, selbst noch einen Versuch zur Umstimmung im »Neuen Palais« zu unternehmen. Er war sich freilich bewußt, daß es dann bei dem bloßen Umstimmungsversuch nicht bleiben könne.

»Wenn ich jetzt hinausgehe, muß ich dem Kaiser die Abdankungsfrage vorbringen.«

In der achten Stunde, als der Legationsrat schon wieder im »Neuen Palais« eingetroffen war, sprach der Kanzler mit dem Kaiser. Er erbot sich, sogleich zum Vortrag nach Potsdam zu kommen. Seine Bitte wiederholte er dringend und mehrmals. Aber der Kaiser lehnte bestimmt ab.

»Es bleibt bei der Abreise«, kam es durch den Fernsprecher. Der Prinz wies nochmals darauf hin, wie schwerwiegende Bedeutung dem kaiserlichen Beschluß zukomme. Die Antwort war, daß nichts mehr zu ändern sei. Die »Oberste Heeresleitung« wünsche den Kaiser bei der Truppe zu sehen. Dies sei ihm als Hindenburgs ausdrücklicher Wunsch übermittelt worden. Vier Wochen wäre er jetzt in Berlin gewesen. In wenigen Tagen sei er wieder zurück. Der Kanzler versuchte es zum letzten Mal: ob er nicht doch zum Vortrag erscheinen solle. Dem Gespräch gab der Kaiser daraufhin persönlichere Richtung. Der Prinz sei leidend. Er solle sich nicht exponieren.

Alle Bemühungen des Kanzlers waren gescheitert. Am 29. Oktober 1918, abends, reiste der Kaiser nach Spa.

 

Der sozialistische Staatssekretär Philipp Scheidemann hatte in der Tat an den Kanzler ein Schreiben mit ungewöhnlichem Inhalt gerichtet. Er hatte dies nicht aus eigenem Antrieb getan, vielmehr über Beschluß und Aufforderung der »Sozialdemokratischen Partei Deutschlands«. Allabendlich trafen sich ihre Führer im Redaktionshause der Berliner Zeitung »Vorwärts«, um in unruhiger Zeit durch Konferenzen und Aussprache gegen alle Vorkommnisse sich überstürzender Politik gerüstet zu sein. Aus dem Reiche wußte der Staatssekretär Scheidemann Bedrohliches zu melden. Abgeordnete der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei« riefen in Westfalen offen zur Revolution auf. Ein Oberst aus Münster hatte die Nachricht überbracht. Zwischen den Besitzern der alten, zwar bedrohten Macht und den zu allem bereiten Führern der radikalen Arbeiterschaft, die heimlich schon manches vorzubereiten schienen, mußten und wollten die »Mehrheitssozialisten« auf der Hut sein, wenn Gelegenheit und Aufstieg zu großem politischen Vorteil nicht versäumt werden sollte, der sich in irgendeiner Form aus dem Wandel der Zeit wohl ergab. Längst sahen viele im deutschen Volk als Friedenshindernis den Kaiser. Der Präsident der Vereinigten Staaten verlangte offenbar seine Entfernung. Radikal war unter den Mehrheitssozialisten niemand. Weder der gewandte, voll Geschmeidigkeit allen Notwendigkeiten sich anpassende Philipp Scheidemann, der nicht immer für alle Phasen eigener Innenentwicklung ein starkes Gedächtnis hatte, obgleich er selbst bei belangloser Sitzung unaufhörlich zu schreiben und alles Wichtige für sich auf dem Papier festzuhalten pflegte, noch der gemessene, fest dem Erreichbaren zugewandte Friedrich Ebert, dessen kluger Hausverstand stets zu besonnener Vorsicht mahnte. Noch vor zwei Wochen hatte Philipp Scheidemann dem Kanzler ruhig erklärt, daß die Abdankungsfrage lediglich eine innerdeutsche Angelegenheit darstelle, in die der Präsident der Vereinigten Staaten, wenn sie überhaupt einmal aufgerollt würde, sich nicht zu mischen hätte. Aber jetzt sprach alle Welt von Kaiser Wilhelms Thronverzicht. Der Präsident der Vereinigten Staaten schien in dieser Angelegenheit seine eigenen Wege gehen zu wollen. Wollten die »Mehrheitssozialisten« nicht eines Tages überhaupt zu spät kommen, so mußten sie endlich Standpunkt und Haltung ihrer Partei beschließen, sie mußten endlich die Forderung erheben, die eigentlich nur natürlich war auf dem Grunde ihrer Anschauung von Macht, Machtverteilung und sozialer Ordnung.

Der Vorstand beschloß eine klare »Parole«. Der Rücktritt des Kaisers sollte für den Zeitraum von acht Tagen verlangt werden. Der Antrag sollte eindeutig im Kabinett zum 1. November 1918 gestellt werden. Die Wartefrist am 8. November 1918 ablaufen. Der Staatssekretär Scheidemann erhielt den Auftrag, die Forderung zu überbringen.

Er wählte die Form eines Schreibens an den Kanzler. Indem er von Beschwerden ausging, die er gegen die Art hatte, wie das »Oberkommando in den Marken« immer noch Zensur über Zeitungen ausübte, ließ er in der Briefmitte den Absatz einfließen:

»Nachdem der Öffentlichkeit die Möglichkeit genommen ist, durch Diskussion eine Frage zu klären, die zu einer brennenden Schicksalsfrage des deutschen Volkes geworden ist, tritt an das Kabinett mit verdoppeltem Ernst die Notwendigkeit heran, sie in seinem Schoße zu erörtern und zum Austrag zu bringen. Aus diesem Grunde sehe ich mich gezwungen, nunmehr die Forderung, die in der Presse nicht gestellt werden darf, im Kabinett zu stellen, nämlich diese: die Herren Staatssekretäre möchten den Herrn Reichskanzler bitten, Seiner Majestät dem Kaiser zu empfehlen, freiwillig zurückzutreten.«

Der Kanzler ließ den Staatssekretär zu sich bitten. Weder der Form nach, noch in der Fristansage hatte der Staatssekretär den Auftrag so erfüllt, wie ihn der Vorstand seiner Partei ihm übertragen hatte. Aber ein folgenschweres Moment war doch in die politische Entwicklung des Augenblicks durch den Brief getragen, auch wenn ihn der Kanzler nicht als amtlichen Schritt, vielmehr als eine persönliche Angelegenheit oder als die Übermittlung einer persönlichen Auffassung zu nehmen suchte. Was die Empfehlung an den Kaiser betraf, daß er freiwillig zurücktrete, so deckte sich das Bestreben des Kanzlers mit der Forderung des Staatssekretärs. Aber aus seinem eigenen Innern heraus sollte der Kaiser zu solchem Verzicht gelangen. Die einzige Gelegenheit, bei der vielleicht der Kanzler aus seinem Schweigen zu einer Anregung gegenüber dem Kaiser hätte heraustreten können, war gestern verstrichen. Der Kaiser hatte seinen Vortrag im »Neuen Palais« abgelehnt. Was danach kam, ließ sich nicht übersehen. Es konnte sich ereignen, daß er aus seinem schweigsamen Warten doch bald würde zu einem offenen Wort sich melden müssen. Vorläufig gab er seine Politik nicht preis. Daß er die ganze Frage der Abdankung jetzt dennoch vor den Kabinettsmitgliedern zur Sprache bringen müsse, mit allem Takt zum ersten Male, daß er das Kabinett für seine eigene Auffassung in der Thronverzichtfrage gewinnen wollte, daß der Kaiser sogleich nach der Reichshauptstadt zurückkehren müsse, all das war dem Kanzler klar. An den Kaiser depeschierte er die dringende Bitte um unverzüglich Rückkehr noch in der Nacht des 30. Oktobers. Am nächsten Morgen reichte er, krank im Bette, dem Staatssekretär Scheidemann den Brief zurück. Der Staatssekretär wisse, wie sehr er, der Kanzler, ihn schätze. Indes, derlei Forderung könne er nicht entgegennehmen. In der heiklen Angelegenheit wollte er nichts tun durch Druck. Und auch sich selbst durch Druck zu nichts bewegen lassen. Der Staatssekretär nahm das Schreiben wieder mit. In seinem Arbeitskabinett besprach der Kanzler gleich darauf die Kaiserfrage in engerem Kreise.

 

Mit dem Vizekanzler Payer, mit den Ministern Friedberg und Solf, mit dem Innenminister Drews und dem Kriegsminister General Scheuch beriet der Prinz, mit dem der Chef der Reichskanzlei Wahnschaffe und der Geheimrat Doktor Simons gekommen waren, jetzt am Vormittage über die bedrohte Lage. Prinz Max machte kein Hehl daraus, daß der Ruf nach dem Thronverzicht sich von allen Seiten zu erheben beginne. So behutsam er aber auch an das Thema ging, so erregt, wenngleich bedrückt, griffen die Versammelten es auf.

»Wollen Sie dem Kaiser vorschlagen, daß er abdankt?«

Die Frage eines der Staatssekretäre, plötzlich in die Beratung geworfen, galt dem Kanzler.

»Nein, das kann ich nicht!« Prinz Max begründete: »Ich müßte vorher weggehen. Das ist mit meiner Stellung unvereinbar.«

Minister Drews fragte:

»Ist denn der Kaiser über die ungeheuere Umwandlung der letzten Tage unterrichtet?«

Der Kanzler verneinte.

»Der Kaiser ist seit drei Tagen weg.«

»Er muß aber unbedingt,« erklärte der Innenminister, »über das, was hier an Umschwung passiert ist, unterrichtet werden.«

Gegen die Abdankung Kaiser Wilhelms hatte General Scheuch schwere Bedenken, da er die Folgen für die Armee erwog, wie er sie sah. Auch der preußische Minister-Vizepräsident Friedberg mußte die Bedenken teilen. Er wollte abwarten. Der Unterstaatssekretär Wahnschaffe berichtete über Mitteilungen aus der Sozialdemokratie und der Zentrumspartei, die ihm der Staatssekretär Erzberger gemacht hatte. In den Gewerkschaften werde die Abdankung »wie ein Sprengpulver wirken«. Führende Sozialdemokraten hatten sich geäußert, daß »das schlimmste Friedenshindernis nicht der Kaiser, sondern ein wegen der Kaiserfrage erfolgender Austritt der Sozialdemokratie aus der Regierung« sei. Der Vizekanzler von Payer aber, stark bewegt durch Nachrichten aus Süddeutschland, sah ebenso wie der Minister Drews die Unmöglichkeit voraus, das Volk gegen unerträgliche Waffenstillstandsbedingungen zu letztem Kampfe aufzurufen, wenn ihn der Kaiser führe. Sie fürchteten beide, daß es bald nicht mehr um die Person des Kaisers und des Kronprinzen gehen werde, sondern um die Frage von Monarchie oder Republik.

Die Sitzung kam zu keinem Ergebnis. Um die sechste Nachmittagsstunde wollte der Kanzler das gesamte Kriegskabinett zusammenrufen. Den Innenminister Drews hatte solche Erregung befallen, daß er im Fortgehen auf der Treppe niederbrach.

 

Das einmal angeschlagene Thema wurde der Kern aller Erwägung und Beratung auch im Kriegskabinett. Hier waren die Meinungen geteilt. Die Staatssekretäre Groeber und Matthias Erzberger traten für den Kaiser ein. Der Vizekanzler sah die kaiserliche Situation so gefährdet, wie der Staatssekretär Konrad Haußmann. Scharf vertrat jetzt der Staatssekretär Scheidemann die Forderung seiner Partei:

»Wir Sozialisten müssen verlangen, daß der Kaiser weggeht.«

Der Minister des Innern hatte sich von seiner Ohnmacht am Vormittag wieder erholt. Der Staatsrechtslehrer begann, klar und sachlich, ganz in seine Materie, in seinen Stoff vertieft, wie es die Art des ein wenig schwerhörigen, nur nach innen beschäftigten Gelehrten war, dem Kabinett die Folgen kaiserlicher Abdankung auseinanderzusetzen. Den allgemein warnenden Teil seiner Ausführungen schnitt schließlich der Staatssekretär Scheidemann ab:

»Eine wirklich parlamentarische Monarchie, wie sie etwa in England ist, wäre für die Sozialdemokratie allenfalls erträglich. Jedenfalls wäre sie besser als eine Geldsackrepublik, wie sie in Frankreich herrscht.«

Der sozialistische Staatssekretär war nach dem Drewsschen Vortrag wieder weniger entschlossen als zuvor. Die Zukunft sah er unklar. Er forderte den Rücktritt des Kaisers; welche Regentschaft ihn ersetzte, war spätere Sorge. Ob wirklich Verwicklungen eintraten, wenn der Kaiser ging, ob sie schwerer waren als die Folgen kaiserlichen Bleibens, wußte niemand. Zunächst schien der Reichskanzler einen Ausweg zu wissen, einen kurzen Aufschub, der ihm gestattete, seinen eigenen Weg in der Abdankungsfrage, den Weg ohne Zwang auf den Kaiser, weiter zu beschreiten und doch auch etwas im Hinblick auf die Forderung der Sozialdemokraten geschehen zu lassen. Der Innenminister Drews sollte sogleich ins Hauptquartier zum Kaiser reisen. Es sollte dem Monarchen endlich »klarer Wein über die Bewegung eingeschenkt« werden. Sie reiche in der Abdankungsfrage von der Arbeiterschaft bis in die Hochfinanz hinauf. Keinen Vorschlag sollte der Minister dem Kaiser machen: zum Vortrag werde Drews geschickt.

»Weiter kann ich unter keinen Umständen gehen«, schärfte der Prinz noch einmal dem Minister ein, als er zum Bahnhof fuhr. »Ich kann dem Kaiser nicht den Vorschlag machen, daß er abdankt.«

Der Minister des Innern fuhr, unmittelbar aus dem Kabinettsrat und erschöpft, wie er war, um 9 Uhr mit dem Nachtzuge nach Spa.

Der erste Generalquartiermeister Groener war in diesen Tagen im Großen Hauptquartier aus Kiew eingetroffen, nicht ohne trübe Gedanken, was die militärische Entwicklung ebenso betraf, wie die Vorgänge der Politik. In Spa war er zuletzt in der vierten Septemberwoche gewesen. General Ludendorff hatte ihm damals versichert, daß er an der Westfront noch einige Monate Widerstand leisten könne. Nur müsse man im Laufe des Winters, spätestens um Weihnachten, zum Frieden kommen. Pessimistischer hatte der Chef seiner Operationsabteilung, Oberst Heye, die Zukunft gesehen. Kaum auf der Rückreise nach Kiew wieder in Berlin, war ihm – in der ersten Oktoberwoche – noch neuere Auffassung des Generalfeldmarschalls berichtet worden: die Westfront sei so erschüttert, daß ein Durchbruch unmittelbar bevorstehe. Man müsse stündlich mit ihm rechnen. General Groener hatte sich zwischen den widersprechenden Nachrichten nicht zurechtfinden können. Die Verschlechterung ohne sichtbare Ereignisse innerhalb von zehn Tagen in solch katastrophaler Art begriff er nicht ganz. Das Aussprechen der Waffenstillstandsbitte fand er vernichtend. Er hatte den Eindruck vollkommener Kopflosigkeit bei der »Obersten Heeresleitung« sowohl, wie bei der Regierung. Daß die Stimmung bei den Truppen längst nicht mehr die alte war, brauchte ihm in Kiew nicht erst der Hetman Skoropadski zu erklären.

»Sie haben keine Ahnung von dem wahren Zustand Ihrer Truppen«, hatte der Hetman gemeint. »Ich sehe sehr viel schärfer infolge der russischen Erlebnisse. Die deutschen Truppen sind bolschewistisch stark durchseucht. Matrosen, die ich im September in Kiel in der Umgebung des Prinzen Heinrich gesehen habe, sind nach meiner Ansicht vollkommene Bolschewiken.«

Eine Depesche des Obersten von Tieschowitz hatte den General endlich aus seinen Grübeleien gerissen. Der Generalfeldmarschall hatte ihn »zu neuer Verwendung« in das Große Hauptquartier gerufen. Erst bei der Ankunft in Spa, auf dem Bahnhofe, hatte er erfahren, daß er der Erste Generalquartiermeister geworden war. Jetzt richtete er im neuen Amt sich ein und suchte, Übersichten zu gewinnen. Dann erst konnte er an Entschlüsse gehen. Daß, plötzlich der Kaiser im »Großen Hauptquartier« gemeldet wurde, war ihm größte Überraschung, auch schien es ihm, daß der Kaiser gerade jetzt in der Reichshauptstadt wichtiger sei als in Spa. Bei der »Obersten Heeresleitung« war der Erste Generalquartiermeister nicht der einzige, dem die kaiserliche Ankunft völlig unerwartet kam. Auch der Generalfeldmarschall von Hindenburg schien gänzlich verblüfft. Er wisse von nichts – –

Oder wenigstens tat er so.

 

Der Kaiser hatte unruhige Reise hinter sich. Nichts an ihm verriet die Erregung, die über den ganzen Stunden der Abreise von Potsdam gelastet hatte, und noch bei der Verabschiedung, als scheu eine Andeutung schwebender Fragen und kühner Abdankungsforderungen im Hofkreis fiel, hatte er, der sich äußerlich stets mit außerordentlicher Gewalt zu beherrschen wußte, kühl und fast leicht einem deutschen Diplomaten seiner Umgebung das Wort hingeworfen:

»Ja, ja … Es ist mir auch bekannt, daß viel davon gesprochen wird.«

Aber im Hofzuge, kaum daß er fuhr, drückte schwer die Depesche Kaiser Karls von Österreich auf die Stimmung. Drohende Ausblicke, drohende Wetter zogen zum ersten Male eindeutig am Horizont auf, hinter dem der Abfall des Bundesgenossen lag. Kaiser Wilhelm hatte keine andere Wahl als die Annahme jeder Bereitschaft des Waffengefährten von einst, auch wenn sie noch so wenig bot. Und noch im Rollen des Zuges antwortete der Kaiser in festgehaltener Stilart, ihm selbstverständlich wie gestern und ehegestern, doch grell gegen die Sprache der Zeit:

»Hofzug, den 30. Oktober 1918.

An des Kaisers von Österreich, Apostolischen Königs von Ungarn Majestät.

Mit Bewegung habe Ich Dein Telegramm über den Antrag zum Waffenstillstand an Italien gelesen. Ich bin überzeugt, daß Deine Deutschösterreicher, an der Spitze der Kaiserliche Herr, sich wie ein Mann gegen schmachvolle Bedingungen erheben werden, und danke Dir dafür, daß Du mir dies noch besonders versicherst.

In treuer Freundschaft
Wilhelm.«

Und jetzt in Spa, noch ehe die erste Nacht verstrichen war, schon am Morgen des 31. Oktobers 1918, meldete sich, ob er auch eben erst abgewiesen war, wiederum von Berlin her der Kanzler. Er depeschierte die dringende Bitte um sofortige Rückkehr des Kaisers. Aber es schien, als erwache allmählich eine gewisse Gereiztheit in dem Bedrängten. Er lehnte den Wunsch des Prinzen ab. Die kaiserliche Gereiztheit griff auf die Umgebung über. Der Chef des Zivilkabinetts Delbrück weigerte sich, die Bitte des Kanzlers von sich aus zu unterstützen. Er hielt das Verlangen, nach Berlin zurückzugehen, für ebenso verfrüht, wie der Legationsrat Freiherr von Grünau, der selbst dem Kanzler ein solches Telegramm, allerdings für späteren Zeitpunkt, an den Kaiser geraten hatte.

Freiherr von Grünau begann sich über die Stimmung im Generalstab zu unterrichten. Bei den höheren, wie den niederen Offizieren glaubte er den Eindruck festhalten zu können, daß sie alle den Abschied nehmen würden, wenn der Kaiser abdanke. Er nahm sich vor, den Kanzler in einem Schreiben über die Haltung der Offiziere aufzuklären. Vor den Folgen eines kaiserlichen Thronverzichts sollte Prinz Max nicht ungewarnt bleiben.

Der Kaiser gab sich indes ernst und verschlossen, da die Episode des Kanzlertelegramms vorüber war; die militärischen Angelegenheiten erledigte er mit korrekter Zurückhaltung. Vom ersten militärischen Vortrag im Generalstabsgebäude, im »Hotel Britannique«, hatte freilich der Erste Generalquartiermeister den Eindruck sachlich belangloser Formalität. Den Ernst des Augenblicks berührte der Kaiser nicht. Vielleicht scheute er, Dinge zu streifen, deren Entwicklung unsicher schien. Er war des Abends im Kasino des Generalfeldmarschalls ein Kamerad unter Kameraden, der den Ton und Klang früherer Zeit wieder suchte. Aber die künstlich festgehaltene Starrheit löste sich jäh, als am 1. November 1918 der Minister Drews im Garten der Kaiservilla vor ihm stand.

Den Minister drückte Pflicht und Hemmung aus dynastischen Überlieferungen nieder. Er sah sich, mehr noch als vor des Reiches Kaiser, vor den preußischen König gestellt, ein hoher Beamter aus Preußens Schule, eben darum entschlossen, nichts von dem Auftrag zu versäumen, mit dem ihn der Kanzler als Amt geschickt. Er begann mit einigem Zögern:

»Ich muß Worte sprechen, wie sie sonst ein Untertan seinem König gegenüber nicht sprechen darf … Aber der Minister ist dazu verpflichtet.«

Der Kaiser unterbrach ihn erregt. Wie er dazu komme, solchen Vortrag zu erbitten. Seine Erregung teilte sich seinen Bewegungen mit. Das Ungehaltensein wurde ungnädigste Form.

»Befehlen Euer Majestät,« fragte der Minister, »daß ich weiterspreche oder nicht?«

Der Kaiser wurde ruhiger. Der Minister schilderte, was in der Reichshauptstadt sich zugetragen. Er schilderte die Stimmungen weiter Kreise nach des Kanzlers Weisung. Der Kaiser stellte Zwischenfragen. Der Minister tat keinen Vorschlag. Dann der Kaiser:

»Nun, ich will Ihnen gleich etwas sagen: ich danke nicht ab. Einmal wegen meiner Auffassung von den Pflichten des Königs überhaupt als Nachfolger Friedrichs des Großen. Zweitens: ich kann es nicht als Oberster Kriegsherr. Die Armee wird nur durch mich zusammengehalten. Ich habe den Generalfeldmarschall herbestellt. Fragen Sie den!«

Der Generalfeldmarschall war schon zur Stelle. Minister und Marschall schritten im Garten auf und ab. Die Überzeugung des Generalfeldmarschalls war:

»Die Armee wird lediglich durch die Offiziere zusammengehalten, und die Autorität der Offiziere beruht auf der Person des Obersten Kriegsherrn. Geht der Oberste Kriegsherr, so läuft die Hälfte der Armee als ungeordneter Haufen ins Hinterland zurück.«

Der Minister wollte solche Meinung, die ja auch der kaiserliche Standpunkt wäre, den entscheidenden Stellen in Berlin mitteilen.

»Ich hoffe,« fügte er hinzu, »daß die Parteien, die auf die Abdankung des Kaisers hindrängen, bei einer derartigen Sachlage den Kampf um die Abdankungsfrage mindestens bis zum Abschluß eines Präliminarfriedens zurückstellen werden.«

Der Generalfeldmarschall fragte, ob der Minister mit Berliner Unruhen rechne:

»Ganz bestimmt.«

»Und wie glauben Sie, daß die Sache auslaufen wird?«

»Wenn sich das Militär hält, so werden sich die Unruhen nicht durchsetzen.«

Der Erste Generalquartiermeister hatte sich der Gruppe zugesellt. Auch er sprach sich gegen die kaiserliche Abdankung aus. Seine Auffassung über die formelle Stellungnahme gegenüber der ganzen Frage mündete dabei in scharfen Vorwurf gegen die Regierung, die der Presse tatenlos gestattet hätte, das Thema öffentlich überhaupt so zuzuspitzen. Aber der Einwand des Ersten Generalquartiermeisters wirkte fast wie ein Stichwort. Plötzlich kam es vor Kaiser und Marschall zu einer Szene. Die Abwehr des Ministers wurde leidenschaftliche Entrüstung.

»Wer hat denn nach dieser Regierung verlangt? – Sie!«

»Wer hat denn fortwährend telegraphiert, telephoniert? – Sie!«

Auch der Generalfeldmarschall geriet in Hitze. Unwirsch verteidigte er sich:

»Die Berliner Regierung war uns immer zu langsam!«

»Aber wenn man eine Regierung mit sozialdemokratischen Staatssekretären einsetzt,« ereiferte sich der Minister weiter, »wie wollen Sie dann der Presse den Mund verbieten? Sie selbst haben ja diese Regierung gebilligt.«

Der Kaiser stand schweigend. Der Erste Generalquartiermeister schwieg gleichfalls; er hatte den Anlaß des Streites geboten. Indes fühlte er sich, zwei Tage im Amte, durch die Vorwürfe des Ministers nicht berührt. Übrigens brach die Szene plötzlich, wie sie gekommen war, wieder ab. Der Minister besann sich, daß er in die Reichshauptstadt zurückkehren mußte, und er besann sich seines ungnädigen Empfanges durch den Kaiser.

»Ich habe wohl die Worte Euerer Majestät«, begann er noch einmal, »im Eingang meiner Audienz dahin zu verstehen, daß ich hiermit um meinen Abschied bitte.«

Der Kaiser erwiderte lebhaft.

»Nein, durchaus nicht. Wir haben uns ja nur gründlich ausgesprochen. Sagen Sie den Herren in Berlin meine Meinung« – –

Der Minister fuhr.

Die Sendung Drews war beendet.

 

General Groener hatte sich gegen die Abdankung des Kaisers ausgesprochen. Er hatte dies ohne Kommentar getan, aber sein Gedankengang über den Gegenstand stimmte kaum mit irgendeinem anderen überein, der die Idee gleichfalls abwies. Der Generalquartiermeister sah den Kaiser durch seine eigene Haltung in all den Kriegsjahren. Im Hauptquartier zu Pleß, schon 1916, hatte Kaiser Wilhelm dem General in einer menschlich weichen Stunde seine beklommene Anschauung über Krieg und Kriegsende dargelegt. Er hielt das Ringen schon damals für unsicher, und, melancholisch im Innern, beherrscht nach außen, rückte er sich selbst in abwartende Stellung. Gerade sie schien dem General verfehlt. Er hatte schon damals den Kaiser darauf aufmerksam gemacht, daß der Monarch aus seiner passiven Haltung dem Volke, wie dem Heere gegenüber schärfer hervortreten müsse. Er hatte dies im Frühjahr 1917 noch einmal durch den Generaloberst von Kessel getan. Aber der Kaiser, in Friedenszeiten oft genug im Vordergrund der Welt, war im ganzen Krieg im selbstbestimmten Hintergrund verharrt. Jetzt stand er ohne Wurzeln zu Volk und Heer, das den Kriegsherrn nur bei Paraden, weit hinter den donnernden Geschützen der Front sah, und das seit geraumer Zeit schon böse Worte von Truppenteil zu Truppenteil weitergab, wenn der kaiserliche Stab erschien. Längst spielte der Kaiser nicht mehr die Rolle, die dem Monarchen zukam, die der Monarch hätte spielen müssen. Und längst war es die Überzeugung des Generals geworden, daß Kaiser Wilhelm II. nicht mehr der Herrscher war, der die Kriegsfolgen in jeder Art für das deutsche Volk zum Austrag bringen konnte.

Der Generalquartiermeister dachte sich das Ende schlimm. Viele Fehler waren militärisch und politisch gemacht worden, von dem Unglückstage an der Marne bis zur Unterlassung des Feldzuges gegen Salonik, für den er mit seinen technischen Gutachten gegen des Generals von Falkenhayn Meinung eingetreten war, von Salonik bis zum letzten Waffengang im Westen, den der General Ludendorff zerspellt hatte. Noch schlimmer als der Anblick der Front war, was sich zu Hause zutrug und vorbereitete. Der General sah den Kaiser nicht nur als ungeeignet an, aller Schwierigkeiten mit glücklicher Hand doch noch in jener Form Herr zu werden, die von dem Weiterschreiten der Verhältnisse gestattet wurden; er sah den Thron von den Gewalten bedroht, die aus zerbrochener Front und aufstehender Heimat bald gegen ihn anstürmen mußten. Er sah den Kaiser umringt: ohne Ausweg. Friedrichs des Großen Nachfolger war schlimmer daran als Friedrich nach Kunersdorf. Nur sah es Wilhelm II. nicht. Noch forderte niemand den Sturz der Hohenzollern. Nirgends war ein Wort von Republik, nirgends eine Andeutung gefallen. Die Person des Kaisers war ausgerufen als des Volkes Unglück. Um Wilhelms II. feindselig angesehene Persönlichkeit ging es. Die Dynastie würde bleiben, war die Auffassung des Generals: wenn Großes rechtzeitig geschah. Das Große war in des Kanzlers Meinung und Bemühung der freiwillige Thronverzicht. Dem General war dies Große zu klein. Weit mehr mußte geschehen.

Jahrhunderte und ihre Ordnung drohten zusammenzubrechen: ihr Inhalt von Machtauffassung und Machtberufung. Es war der Probetag heraufgekommen, ob die alte Zeit noch Kraft und damit ein Recht des Fortbestehens hatte, ob die sittlichen Parolen, die durch die Jahrhunderte das Gottesgnadentum angerufen hatten, wirkliche Säulen der Ordnung der Welt waren oder nur mehr mattgewordene, leere Attribute, die der erste Wind fortstob. Es war die Erziehung der meisten Völker gewesen, daß der Begriffe kostbarster das Vaterland, daß von Gott vor allen Menschen, die nur Untertanen blieben, mit besonderer Gnade erwählt die Herrscher waren, – majestätischer als andere, erlauchter als andere, Halbgötter unmittelbar hinter Gott. Für sie kämpfte man, für sie gab man sein Blut, hatte man sein Blut zu geben. Jetzt war die Monarchie, der Menschheit edelste Einrichtung, in brennender Gefahr. Das Vaterland, mit dem Heldentode von Generationen befestigt und strahlend aufgerichtet, drohte zu stürzen. Ein einziges Beispiel konnte beide, Vaterland und Monarchie, vielleicht noch retten, wenn das gewaltigste Exempel, das je erlebt war, auf die Festigkeit jener Attribute versucht wurde. Wenn der Kaiser selbst zeigte, daß die Erziehung und die Heldenlieder der Jahrhunderte nicht nur Schall und Klang waren. Der süddeutsche, demokratische General sah nichts Besonderes darin, daß ein gekröntes Haupt für das Heil von Millionen, deren Väter für seine Väter gezahlt hatten, den Wechsel jahrhundertelang weitergegebener Schlagworte jetzt einzulösen sich entschloß. Abdankung war zu wenig. Abdankung war so viel wie Flucht. Für den Einzelnen war nicht härter, was Hunderttausende erlitten hatten. Vor solchem Schauspiel mußten sich in Achtung auch die Feinde beugen. Die Einigung beim Senken der Waffen mußte leichter sein. Das deutsche Gefühl mußte das Schauspiel im gemeinsamen Unglück sicher wieder zum Herrscherhaus zurückführen. Friedrich der Große war um nichts geringer als Wilhelm II. Nach Kunersdorf wollte er den Tod.

»Der Kaiser muß an der Spitze der Truppen auf das Gefechtsfeld!«

Erstaunt, fast entsetzt hörten die Generale von Plessen und Marschall dem Generalquartiermeister zu. Sie schritten im gleichen Garten der Kaiservilla um die gleiche Stunde auf und nieder, da der Innenminister Drews seinen Vortrag vor dem Herrscher begann.

»Wenn er fällt, so ist dies das schönste Ende. Wird er verwundet, so ist nach der Psyche des deutschen Volkes ein Wechsel in der Stimmung zugunsten des Kaisers sehr wahrscheinlich.«

Der Erste Generalquartiermeister wußte nichts von dem heroischen Plan, den vor wenigen Tagen erst, noch im »Neuen Palais« in Potsdam, der frühere Reichskanzler Michaelis der Kaiserin Augusta Viktoria unterbreitet hatte. Er war im Auftrage pommerscher Großgrundbesitzer und pommerscher Adeliger gekommen. Einen einzigen Ausweg gebe es für Wilhelm II. in der Schicksalsstunde von Reich und Dynastie: den heroischen Tod des Kaisers. Die pommerschen Adeligen wollten sich dann um den Kriegsherrn scharen, er selbst wolle mit dem Kaiser in den Tod gehen wie die anderen auch – –

Die Kaiserin hatte den Plan dem Kaiser nahebringen sollen. Der Kanzler dann, eine Stunde nach der Audienz, bei Tisch neben dem Monarchen gesessen. In allgemeinen Themen war über große Tafel das Gespräch nebensächlich hinüber, herüber gegangen. Und unmittelbar nach Tisch hatte der Kaiser, ganz gegen seine Gewohnheit, offenbar keinen Anlaß mehr zu einem Gespräche mit dem Kanzler gefunden.

Romantisch war der frühere Kanzler, demokratisch nüchtern General Groener zu gleichem Grundgedanken gekommen. Einheitliche Antwort aber hatten die Generale Plessen und Marschall. Man könne doch unmöglich den Kaiser solchen Gefahren aussetzen. Was indes sie nicht begriffen, begriff vielleicht der erste deutsche Soldat nach dem Kaiser, Generalfeldmarschall von Hindenburg. Im Auto, das von der Kaiservilla zum Generalstabsgebäude zurückkehrte, sprach der Erste Generalquartiermeister mit ihm.

Es schien freilich, als ob der Generalfeldmarschall das Entscheidende überhaupt nicht begriffe. Denn er brach, erschreckt vor dem Unmöglichen, kurz ab:

»Aber das geht ja nicht« – –

Zwei Tage später fuhr Kaiser Wilhelm an die Front. Er hielt bei Alost und Ninon über die Truppen Parade ab. Man kehrte in der Nacht zum 5. November 1918 nach Spa zurück.

In den Hofzug schlugen die Nachrichten von einer Matrosenerhebung in Kiel.

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