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Die Wiege

Als wir noch Kinder waren, hatten wir, wie die meisten unseres Alters, eine große Leidenschaft für das Spielen mit Sand. Dies ist nun eine sehr gewöhnliche Beschäftigung, und es verlohnt sich kaum der Mühe, davon zu reden. Wir aber bildeten uns ein, eine besondere Art Sandspiel zu haben. Die meisten Kinder graben auf einem Sandhaufen, der ganz beliebig irgendwo hingeworfen ist, in unserem elterlichen Garten aber befand sich eine große mit Sand gefüllte Kiste. Es war ein roh zusammengeschlagener Bretterverschlag; er hatte aber einen Deckel und war so groß, daß mehrere Kinder ganz bequem in ihm sitzen und spielen konnten, ohne sich gegenseitig zu hindern. Natürlich gab es hin und wieder im Sandkasten zwischen uns Geschwistern einen tüchtigen Streit, bei dem dann schließlich auch geweint wurde. Aber der Sand hatte außer allen anderen noch die gute Eigenschaft, daß er selbst die bittersten Tränen aufsog. Und wer erst so weit war, daß er dem von der Wange fließenden Tropfen wißbegierig nachsah und Nachforschungen darüber anstellte, wie tief er im Lande versänke, dessen allgemeine Stimmung konnte nicht mehr untröstlich genannt werden. Im Gegenteil: nach einem großen Geheul wurden wir alle friedfertiger und liebevoller und spielten mit doppeltem Eifer.

Heute gibt es blasierte Kinder, die nichts mit einem Sandhaufen anzufangen wissen und höchstens einen Pudding aus Sand machen können. An einen Pudding dachten wir nun gar nicht. Den aßen wir in Wirklichkeit viel zu gern, als daß wir ihn durch eine ungenießbare Nachahmung gewissermaßen entheiligt hätten. Aber wir bauten Festungen aus Sand, die sich besonders nach Regentagen durch eine dauerhafte Konstruktion auszeichneten. In unserem nordischen Klima regnet es manchmal fünfmal in der Woche, der Sand war also meist von sehr angenehmer Feuchtigkeit. Dann gab es aber noch ein Spiel, dem wir mit großem Eifer oblagen. Es war das Spiel des Begrabens.

Wir wohnten nämlich ganz dicht am Kirchhof, und wir verfolgten mit großer Aufmerksamkeit jede Beerdigung. In unserem Städtchen passierte im ganzen unendlich wenig; daher kam es wohl, daß eigentlich alle Leute eine Beerdigung als ein sehr angenehmes Fest ansahen und sie auch als ein solches behandelten. Im Hause der Leidtragenden gab es am Beerdigungstage immer sehr viel Gutes zu essen, und jeder Knabe, der singend vor dem Sarge herschritt, erhielt nachher Wein und Kuchen. Daher wurden diese Leichensänger, zwanzig oder vierundzwanzig an der Zahl, von vielen Menschen sehr beneidet. Sie machten sich auch sehr stattlich, wenn sie paarweise, das Gesangbuch in der Hand, laut und oft sehr falsch singend den Trauerzug eröffneten, und sie sahen alle so vergnügt aus, daß man unwillkürlich bei ihrem Anblick an Wein und Kuchen dachte.

Wir taten es wenigstens, wenn wir auf der Kirchhofsmauer standen, um den Leichenzug kommen zu sehen, und unsere Gedanken wurden erst von diesem Gegenstand abgelenkt, wenn mir Herrn Sörensen erblickten. Das war einer der Lehrer, der auch uns mit freundlicher Hand in einige Vorhallen der Wissenschaft führte, und zu dessen Ämtern es gehörte, mit den Leichensängern zu gehen. Ob er eine große musikalische Begabung hatte, weiß ich nicht; jedenfalls riß er den Mund so weit und zugleich so schief auf, daß wir ihn immer ganz außerordentlich bewunderten. Wir hatten unseren Herrn Sörensen überhaupt sehr gern, und wenn auch die großen Leute ihn nicht schön fanden, so war er doch in unseren Augen ein hübscher Mann, und sein ungewöhnlich großer Mund reizte uns zur Nachahmung. Aber es gelang uns nicht, den unseren so weit aufzureißen, wie er den seinen, und nur Milo konnte annähernd solche Töne ausstoßen, wie Herr Sörensen es beim Singen tat. Milo war das Rednertalent in der Familie. Er empfand manchmal das Bedürfnis, auf einen Stuhl zu steigen, sich schweigend umzusehen und dann wieder herunterzuspringen. Wir anderen liebten es nicht, öffentlich aufzutreten, und wenn Besuch kam, dann zerstoben wir in alle Winde. Nur Milo ging unaufgefordert in das Wohnzimmer und erkundigte sich teilnehmend bei den Fremden, wann sie wieder fortgingen. Mit seinen großen blauen Augen und seinen dunkeln Locken erwarb er sich viele Freunde, und unsere Dienstmädchen prophezeiten ihm eine große Zukunft. Da er nun wirklich Neigung hatte, mit lauter Stimme ernste Worte zu sagen, so war er es natürlich, der die Beerdigungen in und außerhalb der Sandkiste einzuleiten und auszuführen hatte. Wenn wir irgend ein totes Tier, eine Maus oder einen Vogel, gefunden hatten, wurde es säuberlich eingewickelt und von meinem Bruder Jürgen und von mir auf einer kleinen Bahre getragen. Wir mußten auch dazu singen, während Milo ganz langsam hinter uns herschritt und nur von Zeit zu Zeit versuchte, seinen Mund ähnlich aufzureißen, wie Herr Sörensen, und zu schreien wie er. Es war wirklich sehr feierlich, und wenn wir an der Sandkiste angekommen waren und den Leichnam begraben hatten, dann fühlten wir uns stets in sehr angenehm gehobener Stimmung. Daß wir nach einer Weile den eben verscharrten Gegenstand wieder ausgruben und anderswo unterbrachten, versteht sich von selbst. Wir wollten nur das Fest der Bestattung feiern, weiter nichts, und der tote Gegenstand war uns gleichgültig geworden, sobald wir über ihm gesungen hatten. Manchmal allerdings vertrauten wir einen besonders hübschen Vogel gleich der Erde an und störten seinen Frieden später nicht mehr. Dann banden wir auch zwei Stäbchen zusammen und errichteten ein Kreuzchen an der Grabstätte.

Übrigens begruben wir nicht alle Tage. Es gab Zeiten, wo wir gar nicht an diesen angenehmen Zeitvertreib dachten, und wo uns die Sandkiste nur zum Festungsbau bestimmt zu sein schien – dann aber konnten wieder Wochen kommen, wo wir täglich eine Bestattung feiern wollten und es sehr bedauerten, wenn wir nicht einmal einen toten Käfer fanden. Milo war eines Tages sehr unangenehm berührt. Er hatte in Gemeinschaft mit uns einen toten Sperling bestattet und behauptete, über den Gartenzaun habe ein spöttisch lachendes Gesicht geblickt. Wir hatten nichts gesehen; er aber war in seiner feierlichen Stimmung beeinträchtigt worden und wollte erst wieder Beerdigen spielen, wenn unser Vater den Zaun um den Garten habe höher wachsen lassen. Er war noch in dem glücklichen Alter, wo er glaubte, daß die Väter alles können.

Am nächsten Tage spielten wir also nicht begraben, denn der Zaun war schon aus dem Grunde nicht gewachsen, weil es eben erst Frühling wurde, und die ersten Zweiglein sich nur ganz schüchtern grün zu färben begannen. Es regnete ganz fein, und wir saßen in unserer Sandkiste, deren Deckel wir so weit zugestellt hatten, daß wir nicht naß wurden. Eine große Festung war eben fertig geworden, und wir hatten sie mit vielen Soldaten besetzt. Diese Arbeit hatte uns müde gemacht, und wir sahen beharrlich in den Regen. Gibt es doch nichts schöneres, als mitten im Regen zu sitzen und doch nicht naß zu werden. Wenn dann nachher die Mutter vorwurfsvoll fragt: Aber Kinder, wo habt ihr in diesem abscheulichen Wetter gesteckt? dann ist es ein sehr angenehmer Augenblick, sich in seiner ganzen unschuldsvollen Trockenheit zeigen zu können. Etwas naß ist man natürlich immer; aber das wird nicht gerechnet.

Wir saßen also im leise niederfallenden Regen, und wenn man nicht sprechen mag und nichts hört als das Tropfen des sich auf dem Sandkistendeckel ansammelnden Wassers, dann ist es ganz natürlich, daß die Augen sich von selbst schließen. Jürgen, Milo und ich ruhten uns also ein wenig von der Anstrengung des Lebens aus, fuhren aber bald alle drei hastig in die Höhe, denn eine laute Stimme rief plötzlich: »Hier!« und etwas weiches flog mir an den Kopf.

Vor der Sandkiste stand ein größeres Mädchen und sah uns mit funkelnden Augen an. Aber ich achtete zuerst nicht auf sie, sondern blickte bewundernd auf einen kleinen grünen Vogel, der mir entgegengeworfen war. Er hatte einen krummen blauen Schnabel, und er war tot. »Hier!« rief das Mädchen noch einmal, und ein zweites totes Vögelchen folgte dem ersten. Es sah genau so aus wie das andere, nur daß sein Schnabel weißlich gefärbt war. Vorsichtig nahm ich beide Tiere und legte sie nebeneinander. Milo rieb sich die Augen. Es gehörte zu seinem für die Öffentlichkeit bestimmten Talent, daß er sich immer schnell faßte.

»Grüne Sperlinge!« sagte er wohlwollend. »Wo wachsen die?« fuhr er fort, mit dem Finger über das schimmernde Gefieder fahrend.

Das Mädchen lachte gezwungen. »Du bist aber dumm, Kleiner!« sagte sie, mit heißen trockenen Augen meinen Bruder ansehend. »Es sind ja Gesellschaftsvögel – kleine Papageien. Sie gehörten mir, und sie sind immer mit mir herumgezogen. Aber wenn einer von ihnen stirbt, dann kann der andere nicht leben. Gestern wurde Sidi krank und starb, und heute – – –« Sie stockte und kehrte sich hastig ab.

»Ihr sollt beide Vögelchen begraben,« fuhr sie nach einer Weile fort. »Gestern, als ich an euerm Garten vorüberging, habe ich über den Zaun gesehen. Da standet ihr und begrubt ein Vögelchen und sanget dabei. – Meine Vögel sollen auch mit Gesang begraben werden! Habt ihr mich verstanden?«

Sie hatte sehr schnell und in einem etwas fremdartig klingenden Deutsch gesprochen; dennoch wußten wir genau, was sie wollte, und fühlten uns nicht wenig geschmeichelt. Zwei so schöne Vögel hatten mir noch niemals begraben. Uns war überhaupt noch nie ein so ehrenvoller Auftrag geworden, und bis jetzt wußten wir auch niemand zu nennen, der unseren Gesang so schön gefunden hatte, daß er sich ihn bestellt hätte. Ohne ein Wort zu sagen, krochen mir alle drei aus unserer Kiste heraus, und Jürgens Tatendurst war so entflammt, daß er sein Lied bereits leise zu singen begann. Nur Milo bewahrte seine unverwüstliche Ruhe. Bei der Bemerkung des fremden Mädchen, daß sie über den Zaun gesehen habe, hatte er sie sehr ernsthaft angesehen; jetzt, als er außerhalb der Kiste stand, musterte er sie von oben bis unten.

Du bist mal komisch angezogen, bemerkte er, und nun sah ich auch, daß unser Besuch nur ein Schoßjäckchen trug, aus dem ihre Beine, mit rosafarbenen schmutzigen Strümpfen bekleidet, lang herauskamen. Ihre Füße steckten in sehr abgetragenen hohen Stiefeln, und die ganze Erscheinung hatte etwas ungewöhnliches.

»Meine Mama trägt immer Unterröcke!« sagte Milo im Tone höchster Mißbilligung, und das Mädchen griff in seine dunkeln Locken.

»Dummer Kerl, was weißt du davon? Komm, begrabe meine Vögel!«

Aber auch in Jürgen und mir war die Wißbegierde erwacht, und Jürgen lachte nach kurzem Nachdenken plötzlich laut auf.

»Ach, nun weiß ich, wer du bist! Gestern hast du auf dem Marktplatz Seil getanzt und nachher auf dem Kopf gestanden! Ah – er atmete vor Entzücken tief auf –, du kannst ein Rad schlagen, was unser Turnlehrer niemals tun will, und wenn du Kreide auf deine Fußsohlen streichst, dann läufst du auf dem Seile wie auf der Erde!«

Milos Augen waren rund geworden vor ungläubigem Staunen.

»Ist das alles wahr?« fragte er, und das Mädchen warf sich in die Brust.

»Gewiß – es ist wahr! Ich bin Atalanta, die Tochter der Luft. Pah – ich sage euch, ich kann alles, alles, alles!«

Ihre schlanken Glieder dehnten sich förmlich bei diesen triumphierend gesprochenen Worten, und es sah aus, als ob sie größer würde. Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen; wir würden aber den stärksten Guß nicht bemerkt haben, so aufgeregt waren wir, so unverwandt hingen unsere Augen an den feinen Zügen des fremden Kindes. Milo kehrte zuerst in die Wirklichkeit zurück.

»Kannst du wirklich auf dem Seil herumlaufen?« fragte er noch immer ein wenig zweifelnd, und als das Mädchen statt aller Antwort ungeduldig mit dem Kopfe nickte und sich einigemal um sich selbst drehte, da machte er ein sehr schlaues Gesicht.

»Auf dem Holzboden hängt die Waschleine – ich weiß es, denn ich habe heute Morgen noch daran geschaukelt. Komm mit nach oben und zeige mir, wie man auf dem Seile läuft! Dann will ich nachher deine Vögel begraben!«

Atalanta lachte über diesen Vorschlag, aber sie schien ihn nicht unvernünftig zu finden, und Jürgen und ich waren sehr von ihm begeistert. Wir hatten nur einmal aus der Entfernung ordentliches Seiltanzen gesehen, und auch Atalanta war gestern von Jürgen nur durch eine Zeltspalte beobachtet worden. Daß uns auf unserem Holzboden plötzlich ein ungeahnter Kunstgenuß bevorstand, machte uns förmlich beklommen, und wir suchten unserer Verlegenheit dadurch Herr zu werden, daß wir die Fremde mit großer Eilfertigkeit in unseren Stall führten und mit ihr eine steile Treppe ohne Geländer hinaufkletterten. »Wie alt bist du?« fragte Milo, der die rosafarbenen Beine Atalantas noch immer mit Grauen betrachtete.

»Das weiß ich wirklich nicht genau,« lautete die nachlässige Entgegnung. »Zwölf Jahre vielleicht – vielleicht dreizehn oder vierzehn!«

Milo schüttelte den Kopf. »Jedermann muß wissen, wie alt er ist!« bemerkte er strafend. »Hat dein Vater denn nicht in seine Bibel geschrieben, wann du geboren bist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Einen Vater habe ich gar nicht, nur einen Onkel, und der schlägt mich manchmal. Ich aber werde es ihm heimzahlen!« setzte sie mit flammenden Augen hinzu.

»Das tue nur!« rief Jürgen wohlgefällig. »Von Onkeln braucht man sich nicht schlagen zu lassen. Und hier kannst du Seil tanzen!«

Wir waren auf dem sogenannten Holzboden angelangt, wo wir an Regentagen oft lange spielten. Es war hier auch sehr gemütlich, schon des halben Dämmerlichtes wegen, das eigentlich immer auf dem Boden herrschte. In einer Ecke lag geschlagenes Holz, in einer anderen, durch einen Vorhang abgetrennt, standen einige Möbel, die in den Zimmern keine Verwendung mehr fanden. Hier stand ein altes Korbbett, das unsere Hauskatze als ihr ausschließliches Eigentum betrachtete, und in dem wir öfters kleine Kätzchen fanden, und hier waren noch mehr Sachen, mit denen wir oft und gern spielten. Ein großes Seil hing aufgespannt zwischen zwei Balken, und beide Brüder stürzten eilfertig darauf zu, um es noch fester zu ziehen. Atalanta sah ihnen lachend zu, und dann wanderte sie neugierig, die Arme übereinandergelegt, auf dem Boden umher. Bald stand sie in der Möbelecke, wo der Vorhang zurückgeschlagen war, und betrachtete aufmerksam einen Gegenstand, auf den aus einem kleinen Bodenfenster gerade das Tageslicht fiel. Es war ein Gestell, in dem ein winziges Gitterbettchen hing.

»Was ist das?« fragte sie, und ich sah sie überrascht an.

»Das kennst du nicht? Das ist unsere Wiege!«

»Eure Wiege? Was bedeutet das?«

»Was das bedeutet?« Mein Erstaunen hatte einen so hohen Grad erreicht, daß mir die Worte fehlten. Hastig sah ich mich nach Hilfe um.

»Jürgen, Milo! Sie weiß nicht, was eine Wiege bedeutet!«

Die beiden ließen die Untersuchung des Seiles fahren und stellten sich neben das Seiltänzermädchen.

»Was weißt du nicht?« fragte Jürgen mit dem Ausdruck solcher Betroffenheit, daß Atalanta ganz rot wurde.

»Dummer Junge,« murmelte sie, sich halb abkehrend. Und doch wandte sie sich im nächsten Augenblicke wieder um und tippte das Bettchen an, daß es leise schaukelte. Milo hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und nickte ernsthaft.

»Ich dachte es mir gleich,« sagte er. »Du weißt nicht viel. Sonst müßtest du auch wissen, daß Mädchen Unterröcke tragen!«

»Hast du denn niemals kleine Geschwister gehabt?« fragte Jürgen, und Milo machte eine abwehrende Handbewegung.

»Laß sie, Jürgen. Sie ist dumm – ich habe es gleich gedacht. Sonst würde sie ja wissen, daß unsre Wiege für die kleinen Kinder da ist.« Er richtete seine ernsthaften Augen auf Atalanta, die unbeweglich vor ihm stand und ihn starr ansah. »Für die ganz kleinen Kinder,« wiederholte er. »Der liebe Gott schickt sie, und sie gehören ihm. Mama aber macht sie groß. Augenblicklich haben wir keine ganz kleinen Kinder – ich denke mir aber, daß der liebe Gott bald wieder eins schicken wird!«

Milos Redefluß war erschöpft, und er schwieg. Das große Mädchen stand noch immer unbeweglich und sah bald ihn, bald die Wiege an. Dann seufzte sie tief auf.

»Ich habe noch nie eine Wiege gesehen,« sagte sie, halb entschuldigend, »und auch keine kleinen Geschwister gehabt. Wir ziehn immer herum, von einem Ort zum andern, da – –

»Da wird Euch der liebe Gott natürlich keine Kinder schicken,« meinte Milo. Seine Stimmung war milder geworden, weil er so ungestört sprechen durfte. »Kleine Kinder müssen ganz still in der Wiege liegen und dürfen nicht reisen. Ihr könntet ja auch vergessen, sie mitzunehmen!«

»Ich würde ein Kind nicht vergessen!« rief Atalanta ungestüm. Wieder stieß sie die Wiege an und verfolgte mit den Augen ihre Schwingungen. »Wie hübsch sie ist!« murmelte sie, und Milo nickte befriedigt.

»Ich habe auch darin gelegen!« sagte er. »Es ist sehr, sehr lange her, ich weiß es aber noch ganz gut. Es war sehr schön!«

»Gewiß!« Das Seiltänzermädchen seufzte plötzlich, und Milo sah sie teilnehmend an. »Willst du die Wiege vielleicht geliehen haben? Mama erlaubt es gewiß! Vielleicht legt der liebe Gott ein kleines Kind hinein!«

Milo gehörte zu den Naturen, die mit Vorliebe fremdes Eigentum verschenken oder verleihen, und deshalb fühlte sich Jürgen veranlaßt, hier einzuschreiten.

»Milo, die Wiege gehört dir gar nicht, und Mama verleiht sie nicht; wir brauchen sie selbst!«

»Nein, es geht nicht!« gab Milo nach kurzem Besinnen zu. »Die Kinder, die in diese Wiege kommen, die gehören uns. – Willst du aber nun nicht auf dem Seile laufen?« fragte er ungeduldig. Da aber schlug die nahe Kirchturmuhr fünf, und Atalanta fuhr aus ihrem Nachdenken auf.

»Es geht nicht – heute habe ich keine Zeit mehr! Wir haben heute noch eine Vorstellung da darf ich nicht fehlen. Ich bin die Beste in der Gesellschaft!« setzte sie stolz hinzu.

»Aber die Vögel!« rief ich, und sie nickte hastig.

»Morgen komme ich wieder!« Noch einmal stand sie einen kurzen Augenblick vor unserer Wiege – dann war sie die Treppe hinuntergehuscht und verschwunden.

Als wir wieder vor dem Sandkasten standen und die toten Papageien sahen, wurde Milo enthusiastisch. Er wollte die grünen Sperlinge, wie er sie fortwährend nannte, einzeln beerdigen und jedesmal ein großes Fest dabei veranstalten. Er wußte verschiedene Freunde, die sich durch eine Einladung sehr geehrt fühlen würden, während Jürgen durchaus wissen wollte, was unsere Hauskatze zu den grünen Vögeln sagen würde. In dieser Hinsicht war Milo durchaus nicht wißbegierig, und es gab zwischen den beiden Brüdern eine kleine Meinungsverschiedenheit, die damit endete, daß Jürgen den größten Sittich entführte, während Milo laut über die Ungerechtigkeit eines Schicksals jammerte, das ihm nur einen Vogel und zwar den mit dem weißen Schnabel ließ. Meine eigenen Ansichten waren in dieser Angelegenheit sehr geteilt. Eine feierliche Beerdigung hatte großen Reiz für mich. Wenn ich mir aber unsere ehrbare alte Hauskatze in wildem Erstaunen vor einem grünen Sperling vorstellte, dann hatte auch dieser Gedanke seine Anziehungskraft. Ehe ich mich entschlossen hatte, welchem Genuß ich mich zuwenden sollte, erschien, durch Milos laute Klagen angezogen, unser Kindermädchen. Beim Anblick seiner Tränen schmolz ihr weiches Herz vollständig.

»Komm, mein klein Jung! Wer hat dich was getan? Is Jürgen all wieder unartig gewesen?«

»Ich will – ich will alle beide begraben!« schluchzte Milo, der, wenn er bedauert wurde, doppelt so lange weinte als gewöhnlich. Vom Begraben wollte Line aber nicht viel wissen.

»Sweig doch still von das alte Begraben! Da mag ich nix von hören! Hier is es wirklich ein ganz guten Dienst, wenn man bloß das Begraben nich wär, was ihr all Tage vor habt. Gott in hogen Himmel, als wenn wir nich alle längstens früh genug in die Erde kommen.«

Unter diesen Ermahnungen führte sie Milo mit sanfter Gewalt davon, und sein Vogel lag im Sandkasten, ohne daß er sich um ihn kümmern durfte.

Auch an mich war die Aufforderung gestellt worden, mit Milo zu kommen und »artig zu sein«. Zu dieser Beschäftigung, die mir vom letztenmal her noch in eintöniger Erinnerung stand, verspürte ich gar keine Lust, und ich schlüpfte eilig aus der Gartentür. Ohne ein eigentliches Ziel im Auge zu haben, lief ich über den Kirchhof in die Stadt hinein und blieb erst stehen, als ich auf dem Marktplatz angelangt mal. Hier standen die Überreste eines Zeltes, aber nur die Überreste. Stangen, Latten und einige Fetzen schmutziger Leinwand. Hier konnte Atalanta doch keine Vorstellungen geben! Betrübt und nachdenklich ging ich um das Zeltskelett herum und erblickte plötzlich meinen Bruder Jürgen, auf dessen Gesicht dieselbe Enttäuschung geschrieben stand, die mein Herz erfüllte.

»Gestern war es hier viel hübscher,« berichtete er. Im Zelt lag eine rote Decke, und es war ein ordentliches Zelt! Wo sind die Leute geblieben?

Ja, wo waren die Akrobaten geblieben? Auf dem ganzen Marktplatz befand sich kein Mensch, der uns hätte Aufklärung geben können, und enttäuscht gingen wir wieder nach Hause. Hier empfing uns Milo triumphierend. Ein Onkel war dagewesen, der ihm zwei Bankschillinge geschenkt hatte, eine Spende, die Milo sofort zum Ankauf von Pfeffernüssen verwandt hatte.

»Allen, die hier in der Stube waren, habe ich etwas abgegeben,« bemerkte er, stolz auf seine Freigebigkeit. Einige Pfeffernüsse lagen noch vor Milo, und wir betrachteten sie mit räuberischen Blicken. Als er uns aber mitteilte, daß er an allen geleckt habe, damit keiner sie ihm wegnähme, zogen wir uns grollend zurück. Die Geschichte von den grünen Vögeln und dem Mädchen mit den komischen Beinen hatte Milo natürlich auch schon so oft erzählt, daß ihm von den älteren Brüdern nachdrücklich Stillschweigen geboten wurde. Also konnten Jürgen und ich nichts Neues mehr berichten, und deshalb ergaben wir uns an diesem Abend einem finsteren Schweigen, das nur hin und wieder durch die höhnische Bemerkung unterbrochen wurde, es fiele uns nicht ein, jemals wieder mit Milos Hilfe jemand zu beerdigen. Über Nacht ändern sich die Ansichten, und als ich am anderen Morgen den grünen Gesellschaftsvogel noch in der Sandkiste liegen sah, erinnerte ich mich einer Pappschachtel, die sich sehr gut als Sarg für die Vögel eignen würde. Jürgen hatte den Versuch mit der Hauskatze und dem grünen Sperling nicht ausführen können, weil die Katze nicht zu finden war. So waren denn die beiden Unzertrennlichen auch im Tode wieder vereinigt.

Es war ein herrlicher Frühlingstag, und meine Stimmung war ebenso glänzend wie der wolkenlose Himmel. Da schlenderte ich also die Landstraße entlang, um für das bevorstehende Bestattungsfest einige Blümchen zu pflücken. Ich wußte einen Platz, wo die ersten Frühlingsblumen ihre Köpfchen aus der Erde heraussteckten, und dorthin lenkte ich meine Schritte, als mir Fritz Bünnau mit seinem Wägelchen begegnete. Fritz gehörte zu unserem nächsten Freundeskreise, obgleich er mindestens sechzig Jahre älter war als wir. In der Nacht sollte er über unsere Stadt wachen und tat es so eifrig, daß er, wenn Feuer ausbrach, kaum zu erwecken war, und am Tage beschäftigte er sich mit Landwirtschaft. Er hatte ein sehr altes Pferd, das Paul hieß, und einen Kastenwagen, und diese Equipage wurde manchmal von der städtischen Verwaltung benutzt.

Als Fritz Bünnau mich kommen sah, hielt er Paul an und fragte, ob ich mit ihm in die Stadt fahren wollte. Da ich nun schon einige Blümchen gepflückt hatte, nahm ich sein Anerbieten mit Freuden an, obgleich diese Art der Beförderung viel langsamer war, als wenn ich gegangen wäre.

»Wo bist du denn gewesen, Fritz?« fragte ich, während ich auf der schmalen Bank neben meinem Freunde Platz nahm.

Er antwortete nicht gleich. Sein Paul wollte nämlich nie wieder von der Stelle, wenn er stand, und es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich zum Weiterziehen entschloß. Einige energische Hott und Hüh von Fritz verfehlten aber schließlich ihre Wirkung nicht. Paul entschloß sich kopfschüttelnd zum langsamsten Schritt, und Fritz konnte meine Frage beantworten.

»Ich hab man die Bagasche fortgebracht – per Schub!« sagte er bedächtig.

»Was ist das?« erkundigte ich mich, denn meinem Wortschatz waren die Bezeichnungen Bagage und Schub bis dahin fremd geblieben.

Fritz rieb sich das linke Ohr, was bei ihm großes Nachdenken bedeutete.

»Bagasche is Bagasche,« sagte er dann. »Du mußt nich so dumm fragen, Kind. Und wenn der Burmeister zu mich sagt: Bünnau, schaffen Sie mich das Pack mal über die Stadtgrenze, dann is das per Schub. So wie es mit'n Seiltänzerspack war, die auf'n Marktplatz rumklabasterten. Sie hatten kein Schilling Geld, und was uns' Burmeister is, der is da gleich hinter gekommen. Gestern Abend hat er die Komedi schließen lassen, und heute Klock sechs hab ich ihnen fortgebracht. Ihn und ihr und die kleine Deern!«

»Atalanta!« murmelte ich. Aber Fritz verstand mich nicht.

»Ich weiß auch gar nich, was das bedeutet, wenn ein Mann aufs Seil tanzt!« sagte er vorwurfsvoll. »Da kann doch nix bei rauskommen und is nich mal ein Pläsihr. Und da kann man auch noch bei fallen und zu Mallöhr kommen. Nee nee, auf die Erde is das sicherer. Und nu steig man ab; nu bist du gleich zu Haus!«

Paul stand mit Freuden still, und ich stieg schweigend vom Wagen. Denselben Tag feierten wir die Beerdigung der grünen Vögel in sehr ernster Stimmung. Milo sang herzzerreißend, während Jürgen und ich feierlich eine buntbeklebte Schachtel trugen. Wir hatten auch allen Grund, ernsthaft zu sein, denn es ist nicht angenehm, eine Bekannte zu besitzen, die per Schub von Fritz Bünnau über die Stadtgrenze gebracht worden war. Trotz Fritzens Erklärung wußten wir noch nicht ganz genau, was das Wort per Schub bedeutete, und das erhöhte seine Unheimlichkeit.

Deshalb begruben wir Atalantas Vögel sehr eindringlich und schaufelten ein kleines Grab für sie. Aber unser Garten erschien uns nicht weihevoll genug, wir gingen auf den Kirchhof. Dort stand hart an der Kirchenmauer eine riesige Trauerweide. Sie beschattete ein verwahrlostes Grab, an das sich allerhand sonderbare Geschichten knüpften. Auf diesem Platze begruben wir die Vögel und mit ihnen die Erinnerung an Atalanta. Nur Milo sprach noch einigemal von ihr, und zwar immer, wenn mir auf dem Holzboden spielten. Er stellte sich dann vor unsere Wiege und sah sie lange starr an, und als wir fragten, was er habe, sagte er: »Sie hatte sehr lange Beine, und sie sagte, daß sie auf dem Seile laufen könnte. Aber sie kannte nicht einmal unsre Wiege.«

*

Jahre waren vergangen. Ich wanderte mit einem Freunde über die Heide Nordschleswigs. Er war alt, und ich war jung; daher gingen unsere Ansichten sehr auseinander. Er sagte, es sei gut, wenn alle Menschen stürben, und noch besser, wenn keine mehr geboren würden. Noch mehr derartige und sehr schreckliche Dinge behauptete er, und da ich nicht so gelehrt sprechen konnte, wie er, und für meine wachsende Bestürzung nicht einmal einen logischen Grund anzugeben vermochte, so behielt er in allen Stücken Recht, und seine Miene wurde immer zufriedener. Denn er gehörte zu den Männern, die die Frauen verachten und doch ohne ihre antwortlose Gegenwart nicht leben können. Nach einem sehr langen Marsch war ich müde geworden, und als wir uns dem einsam liegenden Häuschen eines Waldwärters näherten, meinte mein Begleiter, er wolle mir ein Glas Milch besorgen. Wahrscheinlich empfand er ein flüchtiges Mitleid mit meiner bedrückten Stimmung und griff zu dem Mittel, mit dem so viele Männer weibliche Wesen beruhigen wollen, zu Essen und Trinken.

Das Häuschen lag am Rande eines Tannenwaldes, der noch nicht lange in den Sandboden gepflanzt zu sein schien. Die Bäume waren noch jung und sahen aus, als wenn sie sich nicht an die Heide gewöhnen könnten. Die Wohnung des Waldwärters war aber neu und frisch. Sie lag in einem kleinen Garten, und als wir die mit Land bestreute Hausflur betraten, empfingen wir gleich den Eindruck einfacher Behaglichkeit. Eine schlanke, sauber gekleidete Frau trat uns entgegen. Freundlich hörte sie unser Begehr und führte uns in ein kleines, zu ebener Erde liegendes Zimmer. Hier schien die Nachmittagssonne in die blanken Fenster, und mit großem Behagen setzten wir uns beide auf die gescheuerten Holzstühle.

Es war ganz still in der Stube, und mein Begleiter gähnte. Er sagte, die Ruhe täte ihm gut; er wisse nur nicht, warum hier eine so wunderbare Stille herrsche – ich aber ging auf den Zehenspitzen in die dämmerigste Ecke des Zimmers. Da stand eine verhängte Wiege, und als ich den Vorhang leise lüftete, erblickte ich ein schlafendes Kind. Es hatte beide Händchen an seinen rosigen Kopf gepreßt und schlief so eifrig, daß ihm die Schweißperlen auf der Stirn standen. Jetzt trat die Frau ein und brachte zwei Gläser Milch und kräftiges Landbrot. Als sie mich bei der Wiege stehen sah, lachte sie ein wenig, und ihre schwarzen Augen funkelten.

»Ist er nicht reizend?« fragte sie, und ich nickte. Mein Begleiter gähnte noch einmal, und dann sagte er, er wolle vor der Tür sitzen und eine Zigarre rauchen. Es war ihm entschieden unheimlich bei uns. Als er gegangen war, sah ich mir noch einmal die Wiege an. Es war ein Gitterbettchen, das zwischen zwei Ständern hing, gerade so wie bei unserer alten Hauswiege. Ehe ich aber eine Bemerkung machen konnte, kam die Frau mir zuvor.

»Ist es nicht eine hübsche Wege?« fragte sie stolz. »Gerade so habe ich sie mir gewünscht seit langen Jahren, und gerade so wollte ich sie haben! Das war nun einmal eine Idee von mir!«

Sie hatte sich mir gegenüber gesetzt, und ich sah sie nachdenklich an. Irgend etwas an ihr kam mir bekannt vor, ich wußte aber nicht, was es war. Vielleicht war es ihre sich etwas überstürzende Sprache, die merkwürdig gebildet für eine Frau in ihrer Lebensstellung klang, vielleicht waren es ihre blitzenden Augen. Als sie meinem prüfenden Blick begegnete, errötete sie ein wenig.

»Komme ich Ihnen vielleicht auch bekannt vor?« fragte sie. »Wir leben hier still, und ich sehe so wenig Menschen; dennoch haben mir schon etliche Leute gesagt, daß sie mich schon einmal gesehen hätten. Lieber Gott, das ist nun nicht zu verwundern. Wenn man, wie ich, in allen kleinen Nestern herumgezogen ist und sich produziert hat, dann müssen die Leute einen ja gesehen haben!«

Eine längst verblaßte Erinnerung stieg in mir auf – ehe ich sie aber in Worte kleiden konnte, hatte die Frau die stumme Frage meiner Augen verstanden und lächelte.

»Jawohl, Fräulein, sehen Sie mich nur recht an, ich bin Künstlerin gewesen, Künstlerin!« Sie wiederholte das Wort mit einem gewissen Stolz. »Es war wohl schön auf dem Seil zu tanzen oder im Trapez zu schwingen und dann zu merken, daß die Zuschauer mich bewunderten; aber der Onkel sagte immer, das rechte Künstlerblut fehlte mir doch. Ich war nicht dafür geschaffen, von einer Stadt in die andre zu ziehn, ohne irgendwo warm zu werden. Die Wiege hatte mich verdorben!«

Sie sah mit stolzem Lächeln in die Ecke.

»Ja, Fräulein, das glauben Sie nun wohl nicht, daß solch ein Möbel auf unsereins Eindruck machen kann, und doch ist's so gewesen, und wenn Sie zuhören mögen, so will ich Ihnen die Geschichte erzählen. Böses ist nicht dabei, und ich bin immer anständig geblieben, trotz der Hüpferei auf dem Seile und all dem Elend, was drum und dran war!«

Die Erzählerin hatte sich leicht in ihren Stuhl zurückgelegt und sah einen Augenblick sinnend vor sich hin, ehe sie fortfuhr zu sprechen. Das Kind in der Wiege lachte im Traum, und seine Mutter dämpfte die Stimme.

»Ich weiß gar nicht, wie wir in das kleine Städtchen gekommen sind, von dem ich erzählen will. Es ging uns gerade über alle Maßen schlecht, und der Onkel meinte, er wolle es dort einmal versuchen. Wie alt ich war, kann ich nicht sagen. Jedenfalls spürte ich deutlich, wie arm wir waren, denn meine Mutter und ich weinten oft darüber. Und in diesem Städtchen, wo fast niemand zu unsern Vorstellungen kam, starben auch noch meine Gesellschaftsvögel. Ein alter Kunstreiter hatte sie mir einmal geschenkt, und ich liebte eigentlich nichts auf der Welt so sehr wie sie. Nun waren sie tot, und als ich in unserm elenden Seiltänzerzelt saß und weinte, da war ich so unglücklich, wie nie vorher in meinem Leben. Dann kam noch eine Sorge. Wohin sollte ich mit den toten Vögeln? Auf dem gepflasterten Marktplatz konnte ich sie doch nicht begraben, und sonst wußte ich keinen Platz. Da fiel mir etwas ein. Am Tage vorher, als ich auf eigne Hand einen Spaziergang durch die Stadt machte, hatte ich neugierig in einen Garten geblickt. Da standen drei Kinder, und die begruben einen Vogel. Sie sangen sehr laut dabei und sahen sehr andächtig aus.

Konnte ich diese Kinder nicht bitten, daß sie meinen Vögeln ein Grab gruben? Was mir so durch den Kopf ging, habe ich immer gleich ausgeführt. Nach wenig Minuten war ich schon über den Gartenzaun geklettert und suchte die Kinder. Ich fand sie bald. Sie saßen alle drei in einem Versteck und schliefen ganz fest. Ich weckte sie ohne weiteres, und sie schienen sehr erstaunt über mich. Aber sie waren sehr neugierig und wollten, daß ich ihnen erst etwas vortanzen sollte, ehe sie meine Vögel begruben. So kamen wir auf einen großen, dämmerigen Bodenraum, und dort stand eine Wiege, wie ich sie jetzt selbst habe. Damals aber kannte ich sie nicht und wußte auch nicht, wozu sie diente. Wo hätte ich ganz kleine Kinder sehen sollen? Da wunderten sich die drei Kleinen sehr über mich, wie über ein Wundertier. Und einer von ihnen sagte allerlei von seiner Wiege, vom lieben Gott, von der Bibel. Ich aber hatte von allen diesen Dingen niemals etwas gehört!«

»Atalanta!« murmelte ich, und die Frau nickte.

»Gewiß – so nannte man mich. Es war ein schrecklicher Name, und ich lernte ihn bald hassen. Am andern Tage ließ uns der Bürgermeister aus dem Stadtgebiet bringen, weil mein Onkel keine Mittel hatte, uns zu ernähren, und meine Vögelchen, die ich den Kindern gelassen hatte, konnte ich nicht mehr begraben helfen. Sie werden sie aber in die Erde gelegt haben, denn sie hatten es versprochen. Ich habe so oft an diese Kinder denken müssen. Es kam mir so friedlich bei ihnen vor – ganz anders als bei uns in unserm Zelt. Ich hatte vorher niemals darüber nachgedacht, daß es Kinder gäbe, die ein andres Leben führten als ich selbst – nun wollten diese mir nicht mehr aus dem Sinn!«

Die Frau atmete tief auf und strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Es ist sonderbar zu erzählen,« fuhr sie fort, »die Wiege habe ich nicht mehr vergessen. Solche Wiege und ein kleines Kind darin zum Pflegen und Liebhaben – das mußte etwas überirdisch Schönes sein! Und wenn ich von einem Fleck zum andern ziehn und überall seiltanzen mußte, dann wurde ich immer betrübter, und das Vagabundenleben wollte mir nicht mehr munden. Und wie ich erwachsen war und manche Versuchung kam, ist es der Gedanke an die Wiege und die Kinder um sie herum gewesen, der mich bewahrt hat. Denn solchen Frieden, wie ich damals gesehen hatte, den gibts nur für reine Menschen. Als mein Onkel plötzlich starb, war ich sechzehn Jahre alt. Meine Mutter ging zu einer andern Truppe; ich aber hatte von einer alten Dame gehört, die an dem Ort, wo wir uns gerade aufhielten, wohnte und sehr gut sein sollte. Ich ging zu ihr und sagte ihr, wie ich das Seiltänzerleben satt habe und gern etwas andres anfangen wolle. Da hat sie mit Hilfe andrer guter Menschen für mich gesorgt, mich in eine Schule geschickt, daß ich das Notdürftigste lernte, und mir später einen guten Dienst verschafft. Den habe ich dann behalten, bis ich meinen jetzigen Mann kennen lernte und heiratete. Es ist einsam hier, besonders im Winter; aber er ist gut gegen mich, und seitdem der liebe Gott mir meinen Jungen in die Wiege gelegt hat, weiß ich nicht, wie ich dankbar genug sein kann!«

Leise bewegte sich gerade jetzt die Wiege, denn der Kleine war erwacht und stieß einige Töne des Behagens aus. Ich wollte soeben Atalanta erzählen, daß wir ihre Vögel sehr schön begraben hätten, da steckte mein Begleiter den Kopf in die Tür.

Er war schlechter Laune, denn er hatte sich bei seiner einsamen Zigarre gelangweilt. Jetzt fragte er, ob ich nach Hause wollte, oder ob ich hier zu übernachten gedachte. Da mußte ich denn eilig mit ihm davongehen und konnte der Frau nur noch freundlich die Hand schütteln. Vielleicht war es auch besser, daß sie mich nicht erkannte.

Auf dem Heimwege aber hatte ich das große Wort, denn ich erzählte meinem Begleiter die Geschichte von Atalanta und von unserer Wiege, und er hörte mir ganz still zu. Wahrscheinlich ist ihm eingefallen, daß er ehemals auch in einer Wiege gelegen hatte.


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