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Der Stadtmusikus

Ich bilde mir ein, noch gar nicht so sehr alt zu sein; aber wenn ich über den Kirchhof meiner kleinen Vaterstadt gehe, so komme ich mir steinalt vor. Habe ich doch dort fast mehr Freunde als im Städtchen. Dicht an der großen Kirche liegt das Armesünderplätzchen. Es ist kalt und düster und liegt nach Norden, im Schatten eines anderen Hauses, so daß es nicht verwunderlich ist, wenn kein Sonnenstrahl auf die zwei Kreuze fällt, die dort stehen. Auf dem einen steht kein Name geschrieben, aber ich weiß doch, wer dort liegt, und werde es auch nicht vergessen.

Während ich an dem zusammengesunkenen Hügel stehe, klingt Musik die Straße herauf. Es ist eine Gilde, die ihr Sommerfest auf dem Schießplatze feiert. Den Gevatter Schneidern und Handschuhmachern zieht die Musik voran. Sie hat verstimmte Blechinstrumente wie ehemals, und der Stadtmusikus, eine Trompete am Munde, versucht mit den ausschreitenden Beinen den Takt anzugeben – gerade so wie damals. Aber es ist nicht derselbe Stadtmusikus.

Steinberg, so hieß der frühere, ging immer allein seine Straße. Er war ein großer, magerer Mann mit blassem Gesicht und langen, weißen Haaren. Vor vielen Jahren, so sagten die Leute, war er in das Städtchen gekommen mit drei Kindern und einer todkranken Frau. Die Frau war bald gestorben, und die großen, recht alt aussehenden Töchter hielten nun ein Stickereigeschäft und klagten viel und laut über die schlechten Zeiten und über ihren Vater, der nichts verdiene. Viel war es gewiß nicht, was die Musik abwarf. Hier und dort eine Sonntagstanzmusik, ein Jahrmarktsball oder eine Beerdigung – das war alles, und das war eigentlich sehr wenig; denn nur sehr reiche Leute ließen ihre Angehörigen unter Choralbegleitung in die Erde senken. So war es denn gewiß begreiflich, daß der Stadtmusikus jahraus jahrein denselben verschossenen braunen Rock trug und nur mühsam sein kärgliches Dasein fristete. Seine Töchter schalten oft über ihn und seine brotlose Kunst. Das käme davon, wenn man den ganzen Tag über den Noten säße und am Klavier klimperte. Früher hätte ihr Vater einmal eine reiche Witwe heiraten können; aber er hätte nicht gewollt, weil sie lahm gewesen sei, und nun wäre sein Glück verscherzt. So berichteten die Mamsellen Steinberg jedem, der bei ihnen ein Strähnchen Wolle oder bunte Glasperlen holte, und alle kamen darin überein, daß der Stadtmusikus eigentlich ein Rabenvater sei, der nicht verdiene, daß seine Töchter bei ihm blieben.

Sie taten es auch nicht; eines Tages reisten sie nach Amerika, ohne vorher groß Abschied genommen zu haben. Sie gingen zu ihrem Bruder, der schon vor längerer Zeit ausgewandert war, und Steinberg blieb allein. Weil nun doch jemand für ihn sorgen mußte, so suchte er eine Haushälterin. Aber er fand keine, sie wollten alle Geld und gutes Leben haben, und das konnte er ihnen nicht bieten.

Wir Kinder sprachen auch über diesen Fall; denn wir kannten Steinberg gut, und es tat uns leid, daß ihm niemand sein Essen kochen wollte. Wenn er bei uns im Hause oder bei dem Großvater das Klavier stimmte, dann standen wir um ihn herum und baten ihn, daß er uns etwas Schönes vorspielte. Er tat es nicht oft; manchmal aber glitten seine Finger über die Tasten, und dann stieg eine süße, kleine Melodie aus ihnen auf. Es war immer dieselbe Melodie, an eine andere konnte er wahrscheinlich nicht denken; wir waren auch sehr zufrieden mit ihr, und jedesmal, wenn Steinberg erschien, hieß es: Aber nicht wahr, du spielst uns nachher dein Stück?

Es war an einem heißen Sommertage. Ich sollte mit Jürgen die Ouvertüre zur »Martha« vierhändig spielen. Selbstverständlich war es eine leichte Bearbeitung, aber ich jammerte doch über die »letzte Rose«, die ich im Diskant zu üben hatte. Jürgen spielte immer den Baß, weil er da so schön Spektakel machen konnte. Wenn wir zusammen unsere Kunstfertigkeit der Öffentlichkeit zeigten, dann behaupteten die Zuhörer, der Baß sei stets die Hauptsache. Dies beleidigte meine Eitelkeit, und nun übte ich den Diskant im Fortissimo allein, obgleich Flotow überflüssigerweise überall piano und smorzando angebracht hatte, wodurch er nach meiner Ansicht seiner Komposition sehr schadete. Mein einziges Publikum bildete unsere Nähterin. Sie besserte unsere Wäsche aus und kam zu diesem Zweck aller vier Wochen ins Haus. Eine stattliche junge Witwe mit gutmütigem, aber nicht gerade klugem Gesicht, war sie uns Kindern eine willkommene Abwechslung in dem Einerlei des Lebens. Heute spielte ich ihr die »letzte Rose« mit dem dringenden Wunsche nach Bewunderung vor, und sie tat mir denn auch sofort den Gefallen. »Ah, was spielt das Kind hübsch!« sagte sie mit aufrichtigem Staunen. »Du liebe Zeit, man sollte es gar nicht für möglich halten! So'n hübschen Galopp!« In diesem Augenblick kam der Stadtmusikus ins Zimmer. Meinen und Jürgens vereinten Bemühungen gelang es sehr oft, das alte Klavier aus der Stimmung zu bringen, und er war bestellt worden, um einige Saiten, die zu unserem großen Vergnügen abgesprungen waren, wieder aufzuziehen. Als er Frau Hartung, unsere Nähterin, erblickte, wollte er eigentlich wieder zurückgehen; sie nickte ihm aber freundlich zu. »Kommen Sie man herein, Herr Steinberg! Ich mag gern Musik hören! Oha, da haben Sie ja ein Knopf verloren, den will ich Ihnen man gleich wieder annähen! Ja ja, wenn da kein Frauensperson ins Haus ist, das merkt man gleich, und was Ihre Töchter waren, die hätten auch bei ihren alten Vater bleiben können!« Steinberg stand im Zimmer und sah sich nachdenklich um. Dann fuhr er mit der Hand über seine weißen Haare.

»So alt bin ich noch gar nicht!« sagte er. »Nächsten Monat werde ich dreiundfünfzig!«

»Oha, noch so jung, und doch alle die großen Kinder?« Frau Haiding hatte ihre Arbeit in den Schoß sinken lassen und sah zu dem Stadtmusikus herüber. Er saß jetzt am Klavier und spielte in seiner vorsichtigen, leisen Weise. »Als ich mich verheiratete, war ich neunzehn Jahre alt. Meine Frau war erst siebzehn!«

Die Nähterin schüttelte den Kopf. »O, was für'n Kinderkram!« sagte sie mißbilligend. »Denn kann man sich nicht wundern, wenn später allens verkehrt geht!«

Steinberg antwortete nichts. Er war am Klavier beschäftigt. Als ich ihm nun anbot, den Diskant der »letzten Rose« auch ihm vorzutragen, schüttelte er den Kopf. Schon wollte ich ihm diesen Mangel an gutem Geschmack übelnehmen, da fing er an, seine kleine, zarte Melodie zu spielen, und seine Augen sahen dabei weit in die Ferne. An was dachte er wohl? An die siebzehnjährige Frau und den »Kinderkram«?

»Herr Steinberg, wie heißt denn dein Stück?« fragte ich.

Er fuhr etwas zusammen und lächelte. »Es hat gar keinen Namen!«

»Aber jemand hat es doch gewiß ausgedacht und dem Stück einen Namen gegeben! Mein Stück heißt doch die »letzte Rose«, und Jürgen spielt ein Stück, das heißt »Die Schlacht von Prag«. Da schießen die Kanonen dann, und die Verwundeten schreien!«

»Meine Melodie hat keinen Namen!« murmelte er. »Sie ist schon lange in mir gewesen. Einmal habe ich sie aufgeschrieben mit andern Sachen und dem Hofkapellmeister gegeben. Und er sagte, ich sollte ihm nur mehr bringen.«

Der Stadtmusikus spielte leise weiter bei diesen Worten, und ich sah unser altes Klavier mit einiger Verwunderung an. Konnte es wirklich so hübsch klingen? »Hast du ihm denn mehr Stücke gebracht?« fragte ich, und Steinberg nickte. »Ich brachte ihm wohl mehr. Aber – als nachher die Oper vom Herrn Hofkapellmeister aufgeführt wurde und meine Melodien drin waren, da meinte ich – –« Hier stockte er, und das Klavier wurde auch still.

»Es kam alles anders, als ich dachte!« sagte er nach einer Pause. »Es waren auch nicht meine Melodien, die der Herr Kapellmeister genommen hatte, ich hatte mich geirrt und mußte fort!«

Er stand auf und drehte an den Saiten. Frau Harding nähte weiter und nickte mit dem Kopfe. »Irren ist menschlich!« sagte sie salbungsvoll. »Das kommt wirklich furchtbar leicht vor, denn ich meinte auch. Sie wären all an die Siebzig, aber das war ein Irrtum. Viele Leute sagen auch, ich wäre vierzig; das ist eine großartige Lüge, weil ich erst letzte Weihnacht achtunddreißig geworden bin!«

Ob der Stadtmusikus diese Worte gehört hatte, weiß ich nicht; er saß noch immer und sah still vor sich hin, während ich das Zimmer verließ. Vier Wochen später nähte Frau Härtung wieder bei uns. »Das ist aber zum letztenmal!« sagte sie mit wichtigem Gesicht. »Lieber Gott, Herr Steinberg ist doch zu furchtbar allein; das kann ja jedem Christenmenschen leid tun! Er hat mir gefragt, ob ich nicht für ihn kochen wollte. Meinen kleinen Jungen kann ich mitbringen, und ein klein bißchen Geld habe ich ja noch von meinem verstorbnen Mann, so brauche ich von ihm keinen Lohn!«

Also zog Frau Haiding zu Herrn Steinberg, und die Leute meinten, beide würden sich wohl heiraten. Der Stadtmusikus aber ging immer stiller herum. Wenn er zu uns zum Stimmen kam, dann spielte er gar keine hübschen Melodien mehr, sondern starrte wie geistesabwesend vor sich hin, und wenn wir ihn baten, uns etwas vorzuspielen, dann sagte er, daß er alles vergessen habe. Und eines Tages hatte Großvaters Schreiber, Rasmus, eine Neuigkeit zu berichten: der Stadtmusikus hatte sich erschossen! In seinem kleinen engen Zimmer hatten sie ihn gefunden, den Kopf auf die Kreidezeichnung eines schönen, jungen Weibes gelegt, in der Hand einige vergilbte Notenblätter. Viele Leute waren sehr böse auf ihn. Er hatte ja nur die Witwe Härtung zu heiraten brauchen, dann wäre alles gut gewesen, sagten sie. Eines Morgens, ganz früh, wurde er begraben, natürlich ganz in der Stille und auf dem Armesünderplätzchen. Er, der so manchen Wanderern den letzten Choral geblasen hatte, bekam nicht einmal ein Glockengeläute. Aber die Vögel sangen gerade so süß, als wenn ein großer Heiliger begraben würde, und die Sonne schien noch einmal auf den Sarg, ehe er hinabgesenkt wurde in die dunkle Erde.

Damals habe ich die ganze Geschichte nicht verstanden. Aber nach vielen Jahren bin ich doch einmal Frau Harding begegnet. Sie ging wieder nähen und meinte, die Welt sei gerade nicht besser geworden mit dem Alter. »Undank ist der Welt Lohn!« sagte sie. »Gegen Steinberg bin ich furchtbar gut gewesen, und er hat mir nicht einmal geheiratet! Jedesmal, wenn ich ihm sagte, er sollte das Aufgebot bestellen, ging er nach dem Klimperkasten und tippte darauf herum, oder er guckte das Bild von seiner Frau an! Lieber himmlischer Vater, da war nichts dran zu sehen, ein Gesicht mit ein paar Augen drin, das war alles! Na, und als ich ihn mal ordentlich ins Gebet nahm und ihm sagte, daß er mir heiraten müßte, sonst machte ich Skandal, da schoß er sich andern Tags tot! Wenn man Verdruß haben soll, dann kommt es immer, da ist nichts zu machen! Sonst geht es mich ja gut. Vielen Dank für gütige Nachfrage, bei mich ist allens in Ordnung, bloß die Augen wollen nicht mehr so recht fort, und deshalb heirate ich wohl den alten Kapitän unten am Wasser. Er hält furchtbar viel von mich, und ich werde es gut bei ihm haben. Meinen Jungens geht es gut: der älteste von meinem ersten Mann ist schon in Amerika, und der zweite will auch hinüber. Ich kann mich man bloß von ihm nicht recht trennen. Der Junge hat so große Augen, gerade wie Steinberg; aber ich nenne ihn Harding, und wenn er nicht immer mit ner Fiedel im Arm herumliefe, würde ich ihn nicht gehn lassen. Aber die alte Musikantenwirtschaft will ich nicht wieder in der Familie haben! Laß ihm man Gold graben in Kalifornien, das ist gesünder! –«

Noch immer stand ich an dem Armesünderplätzchen. Die Musik war in der Ferne verklungen, und die langen, gelben Kirchhofgräser zitterten im Winde. Es war ganz still um mich her, nur ein kleiner Vogel sang leise und süß, so süß, daß ich an die Melodie des Stadtmusikanten denken mußte. Es waren nur wenige sich wiederholende Töne, das Vögelchen schien nur eine Melodie zu kennen – gerade so wie der Stadtmusikus.

Ich trat aus dem Schatten des dunkeln Platzes hinaus in den Sonnenschein und sah plötzlich Frau Harding mir entgegenschreiten. Sie war fein gekleidet, und ihr breites Gesicht trug den Ausdruck vollständigen Behagens. Mit einem Lächeln näherte sie sich mir – wahrscheinlich um mir von dem guten Leben zu berichten, das sie an der Seite ihres Kapitäns führte –, ich aber bog in einen anderen Weg ein.

Wer hier auf Erden froh sein will, der muß es mit der Alltäglichkeit halten; manchmal aber kann man doch nicht unterlassen, ihr aus dem Wege zu gehen!


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