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Jahrmarkt und Theater

Sehr kunstliebend war unser Städtchen nicht: hin und wieder kamen aber doch musikalische und geistige Größen zu uns, die dann nicht bloß stürmische Bewunderung, sondern auch Anerkennung in anderer Form verlangten. Natürlich veränderte sich unsere künstlerische Bildung mit den Jahren. Zuerst war es der Polichinellkasten mit Hans und Grete, über dem wir Essen und Trinken, Haus und Schule vergaßen. Mit einigen Bankschillingen in der Tasche zogen wir zum Herbstjahrmarkt, indem wir den bedauernswerten Hausgenossen, die gezwungen oder freiwillig daheimblieben, gnädigst einen Kuchen versprachen. Waren wir aber einmal auf der Straße, und hörten in der Ferne das Blasen der Jahrmarktstrompeten, und die Musik des Karussells, dann vergaßen wir ebenso schnell die heiligsten Versprechen, wie die innigsten Familienbande, wir stürzten uns in den Strudel des Marktvergnügens und dachten erst dann wieder an die Freuden des Elternhauses, wenn wir todmüde, mit Leib- oder anderen Schmerzen behaftet, von irgendeinem dienstbaren Geist oder einem Angehörigen, der uns schon seit Stunden gesucht hatte, der Stille des Schlafgemachs zugeführt wurden.

Der Herbstmarkt, auch Gallusmarkt genannt, wurde Sonnabends durch die Kirchglocken eingeläutet. »Sundsweg, Lingelang, Schelm und Deev Diebe kamt in das Land,« sangen wir dazu. Acht Tage später wiederholten wir das Lied mit dem Zusatz: »Schelm und Deev gaht ut das Land!« Das erste Verslein gefiel uns aber doch besser. Dann standen wir auf der Kirchhofsmauer, von der man den Fahrweg weit übersehen konnte, und sahen die Plan- und Holzwagen kommen: die Schuster aus Preetz, die Kuchenfrau aus Braunschweig, von der böse Menschen behaupteten, sie wohne in Neumünster, den Spielsachenmann aus Kiel. Zu allerletzt kamen die Harfenistinnen, deren Nationalität uns unbekannt war, die uns aber trotzdem sehr gut gefielen. Wo sie ihre Konzerte gaben, weiß ich nicht; am zweiten Markttage sangen sie aber immer unserem Großvater etwas vor. Gleich nach Tisch, etwa um fünf Uhr nachmittags, steckte das Mädchen den Kopf in die Tür: Herr Justizrat, die Singmamsellen! und gleich darauf erklangen Harfentöne durchs Haus. Die »Singmamsellen« saßen im Nebenzimmer, und wir durften in der Tür stehen und ihnen zuhören. Wie Großvater darauf gekommen war, sich diese Musik ins Haus zu bestellen, weiß ich nicht; die Sitte bestand seit undenklicher Zeit, und der alte Herr saß still und nachdenklich und hörte auf die einfachen Melodien der Volkslieder, die ihm mit möglichster Kunst und Richtigkeit vorgetragen wurden. Nachher durften wir den Sängerinnen ein Geldpäckchen überreichen, und mit vielen Dankesworten zogen sie von dannen und versprachen wiederzukommen im nächsten Jahre. Dieses kleine Konzert tat uns Kindern immer sehr gut, da wir am zweiten Markttage meist etwas leidend waren. Oder unser Geldbeutel war leidend, was uns noch schmerzlicher berührte, weil wir uns dann nicht im Getümmel des Marktes zerstreuen konnten. Wir versuchten natürlich immer, auch ohne Geld Karussell zu fahren und der Unterhaltung von Hans und Grete beim Polichinellkasten beizuwohnen; aber wir fielen meistens bei diesen leichtsinnigen Unternehmungen hinein. Es war ganz merkwürdig: mit vier Bankschillingen Ein dänischer Bankschilling hatte ungefähr den Wert von drei Reichspfennigen. in der Tasche konnte man sich auf dem Karussell immer frei reiten, indem man während der Fahrt eine Anzahl eiserner Ringe auf einen Stock stach; hatte man aber kein Geld, so stach man stets vorbei und mußte nachher darauf hoffen, daß sich irgendeine bekannte Seele bereit erklärte, einen freizuhalten. Nun hatten wir allerdings viele Freunde; die mit gutmütigem Lachen in die Tasche fuhren, wenn sie unsere Verlegenheit sahen: wir wußten aber, daß unsere Eltern nicht für dergleichen Geschenke waren, und deshalb gehörte eine solche Auslosung nicht zu den angenehmsten Erlebnissen. Bei dem Polichinellkasten liefen wir immer davon, wenn der Mann mit dem Teller kam; aber gerade wenn wir keinen Pfennig mehr hatten, richtete er sein Augenmerk auf uns und fing einen von uns ein. Das waren so kleine Verdrießlichkeiten neben den Jahrmarktfreuden: aber es gibt ja keine ungetrübte Wonne im Leben, und im ganzen war es doch wundervoll.

Nur wenn Petersens kamen, haderten wir manchmal mit dem Schicksal. Onkel Petersen war ein hübscher und liebenswürdiger Landpastor, der sieben Töchter hatte, die auch leidenschaftliche Sehnsucht nach den Jahrmarktsfreuden empfanden. Wenn der mit einem halben Dutzend quieksender Mädchen besetzte geistliche Stuhlwagen vor dem Elternhause hielt, dann nahmen die ältesten Brüder von der Mutter hastig Abschied. »Sag nicht, wohin wir gegangen sind – wir haben noch Schularbeiten, und dann bleiben wir zum Abendessen bei dem und dem!« – Mit diesen Worten waren sie verschwunden, und obgleich mir und Jürgen auch allerhand dringliche Arbeiten einfielen, an die wir lange nicht gedacht hatten – so half doch kein Widerstreben: wir waren ungefähr in einem Alter mit den erstgeborenen Pastorstöchtern und mußten mit ihnen durch die Budenreihen ziehen. Es waren hübsche, lebhafte Mädchen, die, in großer Einsamkeit aufgewachsen, über jede Schusterbude aus Preetz in lautes Entzücken gerieten. »Oh, sechs Paar neue Stiefel auf einmal!« jubelten sie und schlugen in die Hände, während wir mitleidig über diese ländliche Unschuld lächelten. Von den Kuchenbuden waren sie gar nicht wieder wegzubringen. Sie verlangten mit lautem Jubel das größte rotlackierte Kuchenherz, wenn es aber ans Bezahlen ging, machten sie unter Tränen die Entdeckung, daß der Einkauf ihre Kasse weit überstieg. Und nun der Polichinellkasten! Die ältesten Mädchen kannten ihn schon; ein Schwesterchen aber sah ihn heute zum ersten Mal in ihrem Leben. Zuerst lachte sie herzlich über die geistreiche Unterhaltung zwischen Hans und Grete; als aber dann der Teufel kam, um einen von den beiden zu holen, da brach sie in ein so entsetzliches Zetergeschrei aus, daß sie nicht bloß uns, sondern auch allen Umstehenden den Kunstgenuß vollständig verdarb. Vergebens waren alle unsere Vorstellungen, daß es nicht der wirkliche, sondern nur ein nachgemachter Teufel sei: sie jammerte nach Vater und Mutter, nach allem, worauf sie sich in der Verzweiflung ihrs Herzens besinnen konnte, und wurde erst wieder ruhig, als wir den Polichinellkasten verlassen hatten und in den friedlichen Hafen der »geräucherten Aalfrauen« eingelaufen waren. Diese hatten ihren Stand zwischen der Rückseite einer Budenreihe und dem Rathause – dort war es nicht aufregend, und als eine gutmütige Frau der Kleinen einen geräucherten Aalschwanz in die Hand steckte, da sog sie eifrig daran und vergaß den Teufel. Dann kam das Karussell; dies bekam aber den kleinen Landbewohnerinnen so schlecht, daß sie alle in lautes Wehklagen ausbrachen und voll Zorn dem ganzen Marktvergnügen den Rücken kehrten.

So war es wirklich manchmal nicht ganz leicht für uns, die edle Pflicht der Gastfreundschaft zu üben, und ich fürchte auch, daß wir öfters in dieser Beziehung zu wünschen übrig ließen. Wenn Petersens mit der Drohung fortfuhren, zu solchem schrecklichen Marktfest nicht wiederkommen zu wollen, dann sagten wir höhnisch, das täte auch gar nicht nötig; solche Landpomeranzen, die nicht einmal den Teufel sehen könnten, brauchten unseren schönen Jahrmarkt nicht mit ihrer Gegenwart zu verunzieren. Aber es war nicht so böse gemeint, und Petersens kamen auch getreulich wieder, trotz aller Verwünschungen, ja sie freuten sich jedesmal so auf den Gallusmarkt, daß sie schon einige Nächte vorher nicht schlafen konnten. Allmählich gewöhnten sich auch die Kleinen an den Teufel und erwarteten sein Erscheinen mit derselben Freude wie wir.

Mit den Jahren fühlten mir uns aber über Hans und Grete doch etwas erhaben. Wir sahen Maria Stuart in einer Scheune aufführen, und seitdem schwärmten wir für das Drama. Es war die Künstlerfamilie Holsten, die nach einer Pause von mehreren Jahren zum ersten Mal wieder unsere Stadt besuchte, und ich kann wohl sagen, daß wir Kinder sie mit Begeisterung aufnahmen. Vater Holsten gab Mörder, Verbrecher, gute, sehr dicke, und schlechte, sehr dünne Herren mit gleicher Vollendung; seine Frau spielte alle diese Rollen ins Weibliche übertragen. Dann war ein Sohn, der meist auf den Knien vor Fräulein Winrich lag und sehr jämmerlich tat. Wir konnten den jungen Herrn nicht leiden; die Großen aber sagten, er spiele den Liebhaber nicht schlecht. Besonders Stina, Großvaters Köchin, bemerkte, der junge Mann wüßte noch, was Liebe sei; Fräulein Winrich aber wäre ein dummes Frauensmensch und könnte gar nicht so gut schreien wie er. Der junge Holsten und Fräulein Winrich mußten sich in jedem Stück heiraten, wie man uns erzählte. Dies war uns gleichgültig, anderen Leuten aber mußte diese sonderbare Gewohnheit doch gut gefallen; denn sehr oft riefen sie, nach dem Fallen des Vorhanges: Fräulein Winrich heraus! her–aus! Wi–ne–rich – heraus! und klatschten mit den Händen, daß das Scheunendach zitterte, und die Hähne in dem angrenzenden Hühnerstall zu krähen anfingen. Dann erschien Fräulein Winrich, verneigte sich holdselig nach allen Seiten und legte die Hand dankend aufs Herz. Diese Bewegung gab uns Anlaß zu vielem Nachdenken. Jürgen meinte, ihr Herz täte weh, weil sie Sigismund Holsten dreimal in der Woche heiraten müsse; Stina aber sagte, eine Person, die ihre Sache so schlecht machte, könnte gar kein Herz haben; sie schnüre sich nur so stark, und davon bekäme sie Seitenstechen.

Aber Stina, die Köchin unseres Großvaters, war überhaupt mit der Familie Holsten nicht zufrieden. Wir hatten eine Art von Straßenbekanntschaft mit etlichen jüngeren Kindern der Theatergesellschaft gemacht und brachten die kleinen mageren Dinger auch wohl gelegentlich in die Küche, um ihnen ein Butterbrot oder einen Teller Suppe geben zu lassen. Dann war Stina meist sehr verdrießlich und murmelte allerlei Drohworte vor sich hin, daß Herr Justizrat kein Brot für Theaterpack hätte und dergleichen. Aber sie holte doch allerhand Eßbares herbei, und bei einem Löffel Suppe vor dem warmen Herde sitzend wurden die Theaterkinder gesprächig. Sie konnten sehr weise sprechen, sogar von Dingen, die wir gar nicht verstanden und sofort wieder vergaßen. Wir empfanden daher anfänglich sehr viel Hochachtung vor ihrer großen Bildung; als wir ihnen aber mit einigen anderen Fragen zu Leibe rückten, kam heraus, daß keins der Theaterkinder getauft war. Sie wußten nichts vom lieben Gott, nichts vom Herrn Jesus; kaum etwas von Weihnachten. Schreiben und lesen konnten sie gar nicht, oder nur sehr unvollkommen, kurz, sie enthüllten uns einen solchen Abgrund von Unwissenheit und Vernachlässigung, daß sogar Stina ihre roten Hände zusammenschlug und wohl zwanzigmal ausrief: »Oh, was ne Welt!«

Da wurden denn diese Kleinen in unserer Stadt nicht bloß zu Christen gemacht und der große Liebhaber, der sich eines Taufscheins erfreute, konfirmiert, auch sonst versuchten hilfreiche Hände, der ganz verarmten Familie Unterstützung angedeihen zu lassen, so daß das Theater länger, als es sonst üblich war, bei uns blieb. Selbstverständlich behielt die Bühne für uns stets ihren Nimbus, und obgleich wir Adolfine Holsten etwas von oben herab betrachteten, seitdem sie mühsam schreiben lernte, so beneideten wir sie doch, wenn sie auf der Bühne ermordet wurde, wie wir es einmal mit ansahen. Wir saßen mit Stina auf dem zweiten Platz, dort, wo die ungehobelten Sitzbretter hoch in der Luft schwebten, und man, ohne sich besondere Mühe zu geben, leicht auf die tief darunter liegende Scheunendiele fallen konnte. Jürgen und ich klammerten uns aber an Stinas dicke Arme und genossen es mit Entzücken, daß Adolfines leiblicher Vater im Stück ihr Onkel geworden war und durchaus von ihr verlangte, daß sie ihre Mutter vergiften sollte. Adolfine wollte nicht, was wir um so anerkennenswerter von ihr fanden, als sie die zehn Gebote doch noch nicht kannte; sie blieb auch fest trotz vieler Drohungen, und der Onkel erstach sie mit einem langen Messer. Mit einem sehr schönen Schrei sank sie zu Boden, das Publikum klatschte, und selbst Stina stimmte ein in den Ruf: Adolfine Holsten heraus!

Nun kommt gleich ein Sarg, bemerkte Stina dann zu uns im Tone der Befriedigung. Da packen sie Adolfinen ein, und denn kommt das Begräbnis!

In froher Erwartung der angenehmen Augenweide blickten wir angestrengt auf die Bühne, aber leider gänzlich erfolglos. Der böse Onkel erntete allerdings den Lohn seiner Taten und wurde gezwungen, mit demselben Messer, das er zur Mordtat verwandt hatte, sich selbst zu entleiben; aber ein Sarg erschien nicht. Wir freuten uns über den toten Onkel und riefen ihn heraus, wie die anderen Zuschauer, aber Stina wurde sehr verstimmt.

»Hab ich es nich all ümmer gesagt?« murrte sie, als wir durch die stille Herbstnacht nach Hause gingen. »Mit Holstens ist gar nix los. Die wissen mein Dag nich, was gut Theaterspielen is. Nich mal ein lumpigen Sarg auf das Theater, und bloß zwei Mann tot. Da kann man sich gar nix bei denken! Ich hab mal ein Stück gesehen, da blieben sie alle tot, so an zwanzig Personen, und was die Köpfe war'n, die rollerten man so auf die Erde herum! Das war noch was! Da hab ich drei Nächte lang kein Auge zugetan, weil ich mir so graulte! Aber sowas Schönes verstehn Holstens nich. Nich mal ein einzigen Sarg!«

Wir entgegneten schüchtern, »es sei doch schön gewesen«; aber Stina ließ uns gar nicht zu Worte kommen. »Seid ihr man stil! da versteht ihr doch nix von! Das Messer war auch längsten nich lang genug, um durch'n Menschen zu stechen; aber Slachter Struve wollte sein bestes Sweinemesser, wo er ümmer unsere Sweine mit absticht, nich an Holstens leihen. Er hat mich das noch heute morgen gesagt, als er den Kalbsnierenbraten brachte. So war allens falsch, allens!«

Nun wollten wir doch wenigstens behaupten, daß Adolfine hübsch ausgesehen habe, als sie tot auf der Erde lag; ihre schneeweiße Nase hatte besonders unsere Bewunderung erregt. Aber auch hier riß Stina mit rauher Hand den Schleier von unseren Augen. »Allens Kreide!« sagte sie verächtlich, »reine, weiße Kreide, so, als die Schulmeisters haben. Da kann ein jeder weiß von werden, und was die roten Backens sind, so weiß ich da auch was von. Zähnpolver, nix als rotes Zähnpolver. Als ich verkonfermiert wurde, hat meine Mutter mich auch was für sechs Bankschillinge gekauft von die Aptheke, und ich hab da noch immer was von, wenn das auch all lange her is – ich smier mich das nich auf die Backens.«

Wir trugen auch diese Enttäuschung mit Fassung, mit soviel Fassung, daß wir am folgenden Tage unseren Familienkreis durch weißangekreidete Gesichter, aus denen sich die Wangen ziegelrot hoben, überraschten. Da wurden wir freilich von der Mutter mit kräftiger Hand abgewaschen und bekamen von den älteren Brüdern allerhand kränkende Bemerkungen zu hören. Auch sonst mußte man in maßgebenden Kreisen doch finden, daß das Theater keinen sehr veredelnden Einfluß auf uns übe; es wurde uns lange Zeit keine Eintrittskarte geschenkt, und erst als uns die lahme Zettelträgerin die Nachricht brachte, das köstliche Lustspiel »Die Reise auf gemeinschaftliche Kosten« solle gegeben weiden, da verbreitete sich das angenehme Gerücht, Großvater wolle uns alle noch einmal hingehen lassen. Auf den ersten Platz sogar!

Wir hatten noch nie ein Lustspiel gesehen und dachten es uns noch viel schöner als ein Trauerspiel. Da für uns ebenso wie für Stina jeder Mord ein freudiges Ereignis war, so nahmen wir an, daß im Lustspiel sich alle Mitspieler gegenseitig umbringen müßten – eine erhebende Aussicht, die nur durch die Furcht getrübt wurde, Schlachter Struve möchte nicht genug Messer haben, jedem Schauspieler eins zu leihen. Und wirklich: obgleich das Lustspiel schon seit einer ganzen Reihe von Tagen angekündigt war, kam es doch lange Zeit nicht zur Aufführung. An Messern fehlte es nicht, vertraute uns Adolfine an, als wir ihr einmal ein Butterbrot geschenkt hatten: aber zum Lustspiel gehörte ein Wagen, ein großer, schöner Wagen, sonst konnte es nicht aufgeführt werden. Ein Wagen! Unsere Gedanken flogen blitzschnell zu Großvaters Glaskutsche und zu Franz und Hermann, die doch gewiß schrecklich gern auch Theater gespielt hätten. Doch als wir in leichtsinniger Großmut diese Equipage anboten, schüttelte das Theaterkind den Kopf. Seine Mutter war schon dreimal bei Herrn Justizrat gewesen und hatte um den alten Stuhlwagen gebeten; nicht einmal diesen hatte Herr Justizrat hergeben wollen. Und die anderen Leute in der Stadt waren gerade so ungefällig. Ein Wagen aber gehörte unerläßlich in dieses wunderhübsche Stück. Pferde nicht, Pferde waren gänzlich überflüssig. »Der Wagen« – sagte Adolfine – »würde rückwärts auf die Bühne geschoben, so daß man die Deichsel gar nicht sähe, und dann finge das Stück an. Und es wäre herrlich, ganz herrlich! wir würden schreien vor Vergnügen, so lustig wäre es!«

Wir wurden natürlich etwas erregt über das in Aussicht gestellte neue Stück und ergingen uns tagelang in den gewagtesten Vermutungen, was denn wohl so besonders lustig daran sein möchte. Besser, als daß alle stürben, konnte es doch nicht kommen, und was dann geschähe, vermochten wir nicht auszudenken. Auch Stina, der wir von unseren Vermutungen Mitteilung machten, war mißtrauisch. »Da is nix hinter,« sagte sie, während sie an ihrem Butterfaß stand und eifrig butterte, »hinter Holsten is nie was ordentliches. Ein Wagen aufs Theater? Wenn es kein Leichenwagen is, denn is da kein Spaß bei!«

Aber es war kein Leichenwagen, sondern ein wirklicher lustiger Ausfahrwagen, und als sich dann endlich das Gerücht verbreitete, ein alter Bauer habe seinen Wagen, den er einst von seinem Urgroßonkel geerbt, zum Theaterspielen hergegeben, da kannte unsere Freude keine Grenzen. Nun konnte die »Reise auf gemeinschaftliche Kosten« gegeben werden!

Den Tag vor der Aufführung bat uns Adolfine noch, ihrer Mutter eine Hutschachtel zu leihen. Wir besaßen zwar solche für uns ganz überflüssigen Gegenstände nicht, es war aber gerade eine Tante bei uns zu Besuch, deren zwei himmelblaue Hutschachteln in beschaulicher Ruhe auf dem Boden standen. Freudig gaben wir sie dahin: eigentlich wollten wir um Erlaubnis fragen, aber wir vergaßen es. Auch andere Kinder unserer Bekanntschaft wurden um allerhand Gegenstände gebeten, die man zum Reisen braucht, und bald besaß Adolfine ein förmliches Museum von Fußkörben, buntgestickten Reisesäcken und Taschen. Und auch unsere Freunde hatten ihre Eltern nicht viel um Erlaubnis gefragt; war es doch nur ein Tag, wo Holstens sie benutzen wollten.

Endlich kam der denkwürdige Abend, das Theater fing um sechs Uhr an, aber schon um fünf saßen wir auf unseren Plätzen, neben uns die Besuchstante, die uns schon viel Geschichten erzählt hatte von artigen Kindern, die erschreckend wenig Ähnlichkeiten mit uns hatten. Wir hörten denn auch nur mit halbem Ohre zu; viel mehr beschäftigte es uns, daß Schlächter Struve zum Schweineschlachten aufs Land gefahren war und alle seine Messer mitgenommen hatte; womit sollten sich Holstens nun totstechen? Die Theaterscheune füllte sich allmählich bis auf den letzten Platz. Erstens sollte das Stück, das schon vor dreißig Jahren in Hamburg gegeben worden war, sehr hübsch sein, und dann wollten doch auch viele den alten Wagen von Peter Witt auf dem Theater sehen. Es sollte nämlich nicht wahr sein, daß Peter Witts Urgroßonkel den Wagen neu gekauft habe. Jemand, der es von seiner Großmutter wußte, behauptete, die Equipage sei weit über hundert Jahre alt und könne keinen Menschen mehr tragen. Eine Weile vertrieben wir uns noch die Zeit mit Äpfelessen – endlich, nachdem auf der Harmonika »Nun ruhen alle Wälder« gespielt worden war, ging der Vorhang langsam in die Höhe!

Erst sah man gar nichts; dann klang dumpfes Knarren aus den Kulissen, und langsam, ganz langsam wurde ein vollbesetzter dreistühliger Wagen rückwärts auf die Bühne geschoben. Alle Schauspieler saßen darauf im Reisekostüm. Jeder hielt einen Reisesack oder eine Hutschachtel auf dem Schoß. Mir fiel es plötzlich unangenehm auf, daß Tantes Hutschachteln so blau waren. Die Tante selbst sah zuerst überrascht und sehr nachdenklich aus, als sie zwei dieser Gegenstände auf Holstens und auf Adolfinens Schoß erblickte. Ich hatte ihr einen hastigen Blick zugeworfen und fühlte plötzlich ihre fragenden Augen auf mich gerichtet; zum Sprechen aber fand sie keine Zeit. Der Wagen war eben bis in die Mitte der Bühne gefahren, da krachte er plötzlich und fiel unter lautem Geschrei der Schauspieler um, während Hutschachteln und Reisesäcke in den Zuschauerraum flogen. Wir dachten alle, es sollte so sein, und es entstand ein lautes Gejubel im Publikum. Wir klatschten in die Hände und riefen: Heraus, heraus! Herr Holsten! Frau Holsten! Adolfine! heraus! und erst ganz allmählich kamen wir dahinter, daß Frau Holsten weinte, Adolfine heulte, und Herr Holsten eine Rede halten wollte, während er sich mit kläglicher Miene den Arm lieb.

Allmählich wurden die Zuschauer still, wozu nicht wenig der Umstand beitrug, daß mehrere Elternpaare ihren Reiseapparat auf der Bühne oder in den ersten Reihen der Sitzplätze entdeckt hatten und dadurch ebenso nachdenklich gestimmt wurden wie Tante Klementine. Herrn Holstens Worte waren kurz und wenig erbaulich: alle Künstler konnten nicht weiter spielen. Er nicht, weil er sich einen Arm verstaucht, seine Frau nicht, weil sie sich zwei Vorderzähne ausgestoßen hatte. Die Zähne waren eben erst neu und mit großen Kosten angeschafft worden – so versicherte er, während aus dem Hintergrunde des Zuschauerraums lautes Schluchzen ertönte. Das war Willy Hinrichsen, der Sohn des Stadtbarbiers, der plötzlich sehr viel Mitgefühl für die arme Frau Holsten zu empfinden schien, was besonders Tante Klementine sehr rührte.

»Das ist noch ein guter Junge,« sagte sie; »gerade so gut, wie ein kleiner Junge, den ich kenne, und der auch ein so freundliches Herz hat, daß er –«

Aber während sie diese kleine Rede hielt, hatten wir schon erfahren, daß Willy Hinrichsens Tränen seinem Vater galten, der Frau Holsten die Zähne auf Probe geliehen hatte. Es war überhaupt eine traurige Geschichte. Wir mußten alle, ohne das Lustspiel gesehen zu haben, wieder nach Hause gehen, und es gab Menschen, die sogar an der Kasse ihr Geld zurückverlangen wollten. Aber das half ihnen nichts: die Kasse war geschlossen, und die Kassiererin, die für diesen Abend als Baronin verkleidet gewesen war, hatte sich ein Loch in den Kopf gefallen, das zugenäht werden mußte. So haben wir die »Reise auf gemeinschaftliche Kosten« nicht gesehen und wissen bis zum heutigen Tage noch nicht, wieviel Menschen darin umgebracht werden. Die Hutschachteln unserer Tante retteten wir übrigens und stellten sie wieder auf ihren Bodenplatz, ehe die Tante daran dachte, nach ihnen zu fragen. Später sprach sie von allerhand Beschädigungen dieser kostbaren Gegenstände, über die sie ebenso erstaunt wie entrüstet war; wir liefen aber stets aus dem Zimmer, wenn sie davon zu reden anfing.

Holstens gaben nach dieser Vorstellung keine andere mehr. Sie waren wirklich recht bedauernswert; besonders da Peter Witt eine große Entschädigungssumme für seinen Wagen verlangte, der plötzlich »so gut wie neu« geworden war. Es wurde für sie gesammelt, und dann verschwanden sie und erschienen erst nach einigen Jahren wieder.

Inzwischen hatte die Kunstliebe auch andere Kreise der Stadt erfaßt. Unser Schornsteinfegermeister leitete eine Dilettantenbühne, und noch oft haben wir uns vom Großvater stürmisch das Geld erbettelt, um in der Theaterscheune unseren Schornsteinfeger wild deklamieren zu hören. Er hatte eine so interessante dunkle Hautfarbe, daß wir ihn viel lieber hatten als Sigismund Holsten.

Aber auch die Dilettantenvorstellungen nahmen ein Ende, wie alles Schöne auf dieser Welt, und allmählich mochte gar niemand mehr an etwas Lustiges denken. Nahte sich doch etwas mit schweren Fittichen, das den Großen die Lebensfreude nahm, aber auch die Kleinen bedrückte: das war der Krieg, eine bittere Notwendigkeit für Schleswig-Holstein. Mit der Theaterfreude war es da vorbei für lange Zeit.


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