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Allerhand Politisches

Wir Kinder hörten sehr viel von Politik. Nicht allein, daß sich der Großvater viel mit den Ereignissen beschäftigte, von denen die Zeitungen und mündliche Berichte meldeten, auch anderswo wurde von der Lage der Herzogtümer und von dem, was kommen würde, gesprochen. König Frederik regierte noch immer, und es gab selbst in unserer Abgeschiedenheit Menschen, die ihn gesprochen, oder die ihn wenigstens gesehen hatten. In früheren Jahren war er noch nach Holstein gekommen, um sich in Kiel oder Plön seine Beamten vorstellen zu lassen; in den letzten Zeiten beschränkten sich seine Besuche nur auf das Herzogtum Schleswig. Und auch hier zeigte er sich manchmal ungnädig und konnte die Herren in der Audienz scharf fragen, wo sie denn ihre Frauen gelassen hätten? Die Frauen der schleswig-holsteinischen Ritterschaft und die der höheren Beamten waren aber stets am Erscheinen verhindert. Wohl beugten die Herren in ihren kleidsamen Uniformen das Haupt vor dem angestammten Landesherzog, aber ihre Gemahlinnen sollten nicht der Gräfin Danner die Hand küssen. Nicht weil sie als Putzmacherin ihre Laufbahn begonnen und einen Bruder hatte, der Schuster in Hamburg war, sondern weil ihr früheres Leben sie des Verkehrs mit reinen Frauen unwürdig machte. Und die Gräfin strebte gerade nach dem, was für sie unerreichbar war. Das Leben manches Beamten würde sich ganz anders gestaltet haben, wenn er seinen trotzigen Stolz beiseite gesetzt und seine Frau zur Gräfin Danner gebracht hatte. Auch der charakterschwache, aber gutherzige König würde wahrscheinlich die Herzogtümer mehr in sein Herz geschlossen haben, wenn seiner Gemahlin mit mehr Zuvorkommenheit begegnet worden wäre. Jetzt waren seine Besuche immer mit Kränkungen und Demütigungen für die Gräfin und dadurch auch für ihn verknüpft, und man konnte es ihm nicht verdenken, daß er immer seltener kam und dadurch die Fühlung mit seinen deutschen Untertanen immer mehr verlor. Er tat zwar sehr jovial mit den dänischen Prediger- und Unterbeamtenfrauen, die er faute de mieux zur Tafel mit der Gräfin Danner laden ließ; aber er war doch klug genug, einzusehen, daß auch diese Damen nur kamen, weil sie mußten, oder weil ihnen jegliches feine Gefühl fehlte. Ob der Haß gerechtfertigt war, den die Schleswig-Holsteiner auf die Gemahlin des Königs geworfen hatten, ist schwer zu sagen. Sie war eine ungebildete, aber kluge Frau, die ihren Gemahl besser zu behandeln wußte, als ihre zwei Vorgängerinnen aus fürstlichem Blute. Ganz in den Händen der dänischen Höflinge, die Luise Rasmussen dem Könige zugeführt hatten, mußte sie ihren Gemahl im national-dänischen Sinne behandeln. Alle Angelegenheiten der Herzogtümer wurden Friedrich nur von einer, nämlich der fanatisch dänischen Seite vorgetragen, und selten erfuhr er die Wahrheit. Wäre damals eine echt schleswig-holsteinisch denkende Persönlichkeit am dänischen Hofe gewesen, die sich auch mit der Gräfin zu stellen gewußt hätte, so wäre sicher manche Ungerechtigkeit nicht begangen worden. Denn weder der König noch seine Gemahlin wollten ungerecht sein: sie liebten die Schleswig-Holsteiner nur nicht und wußten genau, daß sie auch nicht geliebt wurden. Gegen Menschen und Länder, die man nicht liebt, ist es aber stets schwer gewesen, die Unparteilichkeit zu wahren. Keine warnende Stimme drang bis zum Ohre des Königs, und die geborenen Schleswig-Holsteiner in seiner Nähe, die ihr Vaterland verleugnet hatten, waren dänischer gesinnt als die Dänen selbst. Wenn sie »Karriere« machen wollten, und dies war natürlich ihre Absicht, so mußten sie auch mit ihrer »nationalen« Gesinnung prunken. So erhielten sie doch eine Belohnung für ihr Renegatentum und machten sich nichts aus der allgemeinen Verachtung, nichts aus der Erbitterung, die sie erregten, und die doch nachher böse Früchte trug.

Die bösen Jahre der Erhebung Schleswig-Holsteins hatten wir Kinder nicht erlebt: unsere Eltern waren damals erst jung verheiratet gewesen, und als wir anfingen, uns für die Lage des Landes zu interessieren, lag diese Zeit schon lange hinter denen, die sie mit durchgemacht hatten, so daß die bitteren Erlebnisse ein wenig ihren Stachel zu verlieren anfingen. Aber es geschah so wenig, und in unserer kleinen Stadt schien das Leben manchmal ganz stille zu stehen; wer uns etwas erzählen wollte, der mußte schon vor der Zeit berichten, wo der Krieg gewesen war. Wir wollten auch bald von nichts anderem hören. Was waren uns Dornröschen, Schneewittchen und alle jene holden Bilder, die vor andere Kinderseelen gezaubert werden; wir wollten von dem Onkel hören, der mit Weib und Kind vor den Dänen hatte flüchten müssen, oder von dem anderen, der ohne weiteres abgesetzt wurde, nur weil er Schleswig-Holsteiner bleiben wollte. Und dann war das kleine Bild des ältesten Sohnes unseres Großvaters, der in Jütland gefallen war, der stete Gegenstand unserer Fragen! Die arme, gute Großmutter, die starb, als wir alle noch klein waren, wie oft haben wir sie gebeten, uns von dem Onkel zu erzählen, der auszog, um niemals wiederzukommen! Ich höre noch ihre leise, müde Stimme, mit der sie uns einen Zug, eine kleine Geschichte von dem erzählte, der ihr Stolz und ihre Freude gewesen war, und der nun in fremder Erde schlummerte. Wir liebten unsere Großmutter sehr: als sie starb, verloren ihre Enkelkinder Unersetzliches; aber wir waren noch sehr jung und konnten nicht lange traurig sein. Unser größter Wunsch war, von der großen Welt und von fremden Menschen zu hören; wer uns etwas Schönes erzählen konnte, den liebten wir über alle Maßen. Aber diese Geschichte begann nur zu oft mit den Worten: Das war damals, als die Dänens noch nich hiergewesen waren, oder: Gerade als die Dänens aus die Stadt zogen, usw. So konnten wir von der Politik nicht loskommen, und wir wuchsen in alles hinein, in den letzten Krieg, in den Dänenhaß, in die leidenschaftliche Liebe zu unserer düstern und für uns doch so schönen Heimat.

Was wir eigentlich mit unserem Dänenhaß wollten, weiß ich nicht mehr. Den einzelnen dänisch redenden Beamten oder Lehrer haßten wir nur in sehr vereinzelten Fällen, und dann war der sogenannte Haß auch noch lau. Aber das Wort Däne war nun einmal ein Schimpfwort, das besonders denen galt, die deutsch geboren waren, und deren Tun Grund zum Argwohn gab. Selbst in unserer kleinen Stadt lebten Renegaten. Da war vor allen der Amtmann, ein finster dreinblickender Mann, der den Namen eines dänischen Spions wahrscheinlich nicht unverdient trug. Er stammte von der Insel Föhr, gehörte also dem freien Friesenvolke an. Aber der Durst nach Ehren war größer in ihm gewesen als der Durst nach Freiheit; er schrieb fleißig Berichte nach Kopenhagen, denunzierte auch bisweilen, und alle Jahre durfte er ein buntes Bändchen mehr im Knopfloch tragen. Da er nicht in unserer Familie verkehrte, sahen wir Kinder ihn nur auf der Straße, grüßten ihn widerwillig und standen ihm nur ungern Rede und Antwort. Er war immer sehr höflich gegen uns, nahm den Hut vor uns ab, während andere Leute uns nur zunickten; aber wir machten doch einen langen Umweg, um ihm nicht zu begegnen. Da er nicht verheiratet war und nur eine Haushälterin bei sich hatte, von deren Verhältnis zu ihm, wie wir später hörten, allerhand Gerüchte gingen, so lebte er sehr einsam und verkehrte nur mit denen, die sich über seine politischen Ansichten wie über sein Privatleben hinwegsetzten.

Außer dem Amtmann gab es noch allerhand Zoll- und Postbeamte, die mit ihrem lispelnden Dänisch eine stete Quelle der Freude für uns bildeten, und deren Kinder wir auch wohl im Eifer einer erregten Unterhaltung mit schweren Strafen bedrohten, wenn wir einmal an die Reihe kämen! Dann kam hin und wieder die trotzige Antwort, sie seien die Herren und wir nichts anderes als verdammte Deutsche; meistens aber behielten wir das letzte Wort. Denn die eingeborenen Dänen fühlten sich bei uns doch niemals recht heimisch. Mit einigen dänischen Kindern spielten wir, trotz unseres Hasses, recht gern, und – solange wir es nicht vergaßen – wir wußten ja auch, daß Kinder nicht über Politik sprechen durften. Aber es kamen doch manchmal Augenblicke, wo wir alle Verbote in den Wind schlugen und mit wilder Leidenschaftlichkeit Farbe bekannten. Nachher konnten die bittersten Reuetränen die unbedacht den Lippen entflohenen Worte nicht zurückholen. So warf die politische Lage unseres Vaterlandes manchen düstern Schatten auf unsere sonst so fröhliche Kindheit.

Ein bedeutungsvolles Jahr war für uns Kinder das Jahr 1862. Unser Vater wurde versetzt, und als die Eltern mit ihrer Knabenschaar davonzogen, blieb ich beim Großvater. Als Geisel, spotteten die Brüder wohl; doch als es an den Abschied ging, da lachten sie nicht mehr; meine wilde Verzweiflung, als sie alle, alle von mir gingen, machte auch die großen Jungen weich. Es war Winters Anfang, als die Trennung eintrat, und der Winter wollte nachher gar kein Ende nehmen. Der folgende Sommer war desto kürzer, und bald kamen die Herbststürme wieder. Am fünfzehnten November 1863 starb König Friedrich, und zwar auf schleswig-holsteinischer Erde, in Schloß Glücksburg. Täglich läuteten die Glocken eine lange, lange Zeit, und als das Läuten endlich vorüber war, da spannte sich der bleigraue Winterhimmel über unserer Stadt, und die Welt sah aus nach ewigem Winter. In der Zeitung stand allerhand Wunderbares von Sachsen, von Hannoveranern, vom Herzog von Augustenburg, und wieder begannen die Leute vom Krieg zu sprechen. Krieg! Sollte es wieder so werden wie damals, wo erst die Freischaren kamen und dann die Dänen, wo die Dänen so trotzig auftraten, sich als Sieger gebärdeten, in manchem Hause herrisch Unglaubliches verlangten, und sollten wir wieder alles schweigend tragen, was ein frecher Eroberer uns auferlegen würde?

Aber es kam anders, schon insofern, als die Dänen zuerst erschienen. Eines Tages, als wir Kinder aus der Privatstunde kamen, sahen wir eine Ansammlung von Menschen auf der Straße. »Die Dänen kommen!« riefen sie uns entgegen, und nun standen wir mitten in der Menge und sahen einen Trupp Soldaten an uns vorbeiziehen. Still zog der »tappere Landsoldat« ein, still wurde er auch empfangen: niemand sagte ein Wort, weder ein gutes noch ein böses – nur der Amtmann schien sich zu freuen. Er trug seine goldgestickte Uniform und schüttelte dem Führer der kleinen Truppe lächelnd die Hand. Vielleicht mochte er sich in der stillen, kleinen Stadt doch ein bißchen verlassen gefühlt haben. Dann standen die dänischen Soldaten in den Straßen herum, und wir fanden, daß sie gar nicht so übel aussahen. Es waren Reservisten, ältere Leute mit guten Gesichtern, unter ihnen Nordschleswiger, die deutsch sprachen und wahrscheinlich nicht begreifen konnten, daß wir sie mit Mißtrauen betrachteten. Sie wollten uns ja nur beschützen vor den Preußen und Österreichern, von denen es plötzlich hieß, daß sie nicht mehr weit wären. Wir bekamen aber keine Post und keine Zeitungen mehr; selbst die erwachsenen Leute wußten nicht, was Lord Palmerston zu all diesen merkwürdigen Sachen sagte. Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich von Lord Palmerston gehört. Großvater las abends seine Reden vor, von denen ich kein Wort verstand; ich freute mich nur immer, wenn das Unterhaus hört! hört! rief. Doch auch diese kleine Abwechslung gehörte nun der Vergangenheit an; nur über Kopenhagen hörten wir noch etwas von der Welt. Einförmig glitten die Tage dahin, und wir Kinder freuten uns doch, als nun auch eine kleine Anzahl hübscher dänischer Dragoner erschien. Aber sie kamen unberitten, die reichen Hofbesitzer der Landschaft mußten schweren Herzens ihre Ställe öffnen und den dänischen Offizieren die Auswahl unter ihren wohlgepflegten Pferden freistellen. Wahrscheinlich herrschte keine große Freude über diese Requisition. Bei uns in der Stadt war außer dem Amtmann und einigen dänischen Beamten wohl nur ein Mensch glücklich über die Gegenwart der blauen Dragoner.

Dies war der ehemalige Dragonerwachtmeister Eritzoe, ein hübscher Mann mit guten Augen, der zuerst als Gendarm zu uns gekommen war und dann eine Zivilstellung bei dem Amtmann bekleidete. Er war ein Vollblutdäne und konnte kaum ein Wort deutsch verstehen. Nicht anders war es mit seinen Kindern, und doch konnten wir Thor und Signe Eritzoe sehr gern leiden. Sie hatten keine Ahnung davon, daß wir eigentlich die Dänen haßten; sie waren so zutraulich und freundlich und so hübsch dabei, daß man ihnen gut sein mußte. In der Tanzstunde trug die graziöse Signe über die patriotischen Schleswig-Holsteinerinnen stets den Sieg davon, und wie jeder Junge immer mit der kleinen, zarten Dänin tanzen wollte, so errang der Bruder große Erfolge bei den Mädchen. Und weil auch der Wachtmeister gutherzig war, uns stets freundlich grüßte und die Augen hastig abwandte, wenn er an irgend einer Jungenmütze die schleswig-holsteinische Kokarde erblickte – seit Friedrichs Tode trugen wir sie alle, wenn auch verborgen –, so hatten wir ihn wirklich in unser Herz geschlossen wie keinen anderen Dänen. Als er die schöne blaue Uniform aus- und einen schwarzen Rock anzog, bedauerten wir ihn anfänglich sehr: Thor und Signe erzählten uns aber, daß er nun Beamter werden wollte; das sei mehr als Wachtmeister.

Um diese Zeit war es, daß die Kinder sich untereinander erzählten, die Preußen würden kommen. Diese Nachricht stammte von den Fischern: kein Erwachsener glaubte sie, und die dänischen Offiziere schienen sich gleichfalls sehr sicher bei uns zu fühlen. Obgleich das Kriegsschiff, das die Dragoner mit ihren requirierten Pferden nach den dänischen Inseln bringen sollte, bereits seit einigen Tagen angekommen war und in der Nähe unserer Leuchtfeuer umherkreuzte, so konnten sich die Herren doch nicht von uns trennen. Vielleicht war auch der Amtmann zu liebenswürdig gegen sie, kurz, der Dragonerrittmeister mit seinen Leutnants und einem Tierarzt wohnte noch immer im ersten Gasthof unseres Städtchens, und man sagte, daß es sich alle Krieger dort sehr wohl sein ließen.

»Morgen kommen die Preußen!« erzählte ich am Abend des vierzehnten März meinem Großvater; der aber schüttelte den Kopf und sagte: »Sie kommen nicht – das ist ja dummer Kinderschnack!«

Die Nacht war sehr unruhig, heulend fuhr der Märzsturm durch die kahlen Bäume, rüttelte an den Ziegeldächern und warf klirrend einige Dachpfannen auf die Straße. Ich kannte nicht schlafen; hatte mir nicht mein Freund, Georg S., ganz bestimmt erzählt, daß die Preußen heute kommen würden? Er hatte die Nachricht von seinem ältesten Bruder, der im offenen Boot von einer kleinen holsteinischen Stadt zu uns herübergerudert war, hart an dem dänischen Kriegsschiff vorbei, das ihn erst angerufen hatte, als er nicht mehr nötig hatte, zu antworten. Dann waren einige Kugeln über ihn dahingeflogen aber keine hatte ihn getroffen. Mit seiner Ladung von Kolonialwaren, die kein Krämer bei uns von Kopenhagen beziehen wollte, war er glücklich gelandet. Die Preußen kamen sicher – er hatte sie ja selbst gesehen: kleine Kerls, mit den Hosen in den Stiefeln! Dies und vieles andere hatte mir Georg berichtet, so schöne Geschichten, und niemand wollte sie mir glauben! Es war ärgerlich, so ärgerlich, daß ich aufstand, als der Morgen kaum graute. Es wehte noch immer stark, und der Himmel war trübe. Ich sah mißmutig aus dem Fenster – im nächsten Augenblick stürzte ich die Treppe hinab und aus der Haustür.

Truppweise mit gefälltem Bajonett kommen fremde Soldaten die Straße herauf. Hier und da knattert ein Schuß, ein Kommando erschallt, dann geht es wieder trab! trab! durch unsere verschlafene Stadt. Ein dänischer Soldat stürzt bei mir vorbei nach der Schmiede, wo angeschirrte Pferde stehen; er schwingt sich auf ein Tier – da knattert es, und er sinkt lautlos zusammen. Dort sind einige halb bekleidete Dänen, die sich willenlos ergeben und den Schlaf sich aus den Augen reibend zusehen, wie indes die Preußen uns »erobern«. Es geht weiter hinein in die Stadt, wir Kinder selbstverständlich hinterdrein. Dort steht Wachtmeister Eritzoe in voller Dragoneruniform und stürzt mit geschwungenem Säbel auf die Fremden zu; wieder knattert es, und er bricht zusammen. Wir Kinder aber beginnen laut zu jammern: »Ach, was habt ihr getan! Das ist ja Eritzoe, der gar kein Soldat mehr ist!«

Aber wie konnten die Preußen wissen, daß Eritzoe kein Soldat mehr war! Sie liefen weiter, und vor dem Gasthause entwickelte sich eine eigentümliche Szene, die uns Kindern wie ein Theaterstück vorkam. Der eine dänische Dragonerleutnant wollte sich den Preußen nicht ergeben. Aus süßem Morgenschlummer erweckt, kletterte er im leichtesten Kostüm auf das Dach des Wirtshauses und schoß von dort nach allen Seiten seinen Revolver ab. Aber auch die preußischen Soldaten begannen mit einer Leiter das Dach zu erreichen, worauf der Leutnant wieder in das offenstehende Fenster seiner Giebelstube schlüpfte, sich einen neuen Revolver holte, in der Erregung aber stets nach uns Kindern und nicht nach den Preußen schoß und endlich, immer noch in unvollständiger Toilette, aus dem Fenster sprang und in ein Nachbarhaus floh. Was vermochte er aber gegen die Übermacht? Als er wieder erschien, führten ihn zwei preußische Soldaten, und ein dritter warf ihm aus dem Fenster einige höchst notwendige Kleidungsstücke zu. Daß der aufgeregte junge Herr keines der Kinder verwundet hatte, die in nächster Nähe dem Schauspiel beiwohnten, ist allen Augenzeugen später als ein Wunder erschienen.

Und noch etwas sollten wir erleben. Wildes Schreien und Johlen drang von der Straße, die nach dem Amthause führte, an unser Ohr, und ein kleiner Volkshaufe näherte sich, der so wütende Laute ausstieß, wie wir sie noch nie gehört hatten. Zwischen einigen preußischen Soldaten ging der dänische Amtmann, der Spion und Verräter, wie ihm wohl hundertmal zugerufen wurde! Dem großen, starkgebauten Mann, den wir nicht anders als in schöner Uniform gesehen hatten, merkte man es auch an, daß er eben aus dem Bette kam; die Kleidung hing lose um ihn herum; er ging schwankenden Schrittes und lehnte sich totenblaß auf einen Soldaten. Er wurde zum Kommandeur der Preußen geführt, der ihn nach kurzer Unterredung vorläufig wieder nach Hause schickte. »Habt ihr nicht noch mehr Dänen hier?« fragte einer der Preußen die umstehenden Leute, und diese nickten. Gewiß, da waren der Postmeister und der Zollverwalter; auch der Propst hatte neulich erst einen dänischen Orden bekommen, etliche Zollkontrolleure sprachen nur gebrochenes Deutsch. »Sind die Leute gefährlich?« hieß es, und man sah sich zweifelnd an. Gefährlich? Nun, es waren ja Dänen; man konnte sie immerhin wegjagen. »Nun, dann wollen wir sie wegjagen!« riefen die Brandenburger, »kommt mit und zeigt uns den Weg!«

Schon setzte sich ein Trupp Leute in Bewegung, da kommt Bruder Heinrich des Wegs. Er ist jetzt wieder für eine Zeitlang in der kleinen Stadt anwesend und amüsiert sich heute vortrefflich.

»Jungens, wo wullt jü hen?« ruft er den Leuten zu, von denen er jeden einzelnen kennt, und einer der Angerufenen streicht sich bedächtig das helle Haar aus der Stirn.

»Ja, Heine, wir wullt den Propsten en beten wegjagen und de annern Dänens ok! Komm mit, min Jung, dat is en Spaß!«

Aber Heinrich schüttelt den Kopf. »Nee, ik will nich mit' de Lüd do hebbt mi ja gor nix dahn – de hebbt ja keenen Minschen wat dahn!«

Die Leute bleiben stehen und werden nachdenklich, »Dat is ja wull eegentlich ok wahr: nee, de hebbt uns gor nix dahn – dor sind ja ganz vernünftigen Kerls mit mang – nee, dahn hebbt se uns nix!« Und einer von ihnen wendet sich zu den Preußen, die diesen barbarischen Naturlauten verständnislos und ein wenig verächtlich gegenüberstehen. »Wir wollen das man sein lassen! Die paar Dänens, die noch hier sind, können for unsertwegen hierbleiben!«

Und sie blieben alle. Eine Zeitlang wahrscheinlich mit sehr unbehaglichen Gefühlen, besonders wenn sie der Zeiten gedachten, wo die dänischen Machthaber deutschgesinnte Beamte aus Amt und Brot in die Fremde jagten. Dann aber gewöhnten sie sich bald an das neue Regiment, das gegen die Dänischgesinnten des Landes mit großer Nachsicht verfuhr und sich wohl hütete, alte Wunden wieder aufzureißen. Nur die Beamten, die den frommen Wahn hegten, der augustenburgische Herzog würde jetzt sein rechtmäßiges Erbe antreten, mußten bald zu ihrem Schaden erfahren, daß es nicht so gemeint war. Vorläufig aber war natürlich von solchen Dingen nicht die Rede. Wir freuten uns alle unbändig, und viele Menschen behaupteten, der fünfzehnte März 1864 sei der schönste Tag ihres Lebens. Für die Frau des ehemaligen dänischen Wachtmeisters war er das nun freilich nicht. Ihr Mann hatte sich heute zum letztenmal die blaue Uniform angezogen, um dem Dragonerrittmeister, der früher sein Chef gewesen war, Lebewohl zu sagen: er sollte den Tod darin finden.

»Der schönste Tod ist der Soldatentod!« tröstete uns der tapfere preußische Hauptmann, als wir ihn immer wieder fragten, weshalb Eritzoe habe sterben müssen. Und er versprach uns für ihn das schönste Begräbnis. Es war auch wirklich schön: die drei Salven über das Grab, die feierliche Choralmusik, die vielen Uniformen. Unser Amtmann stand ebenfalls am Grabe: vielleicht wünschte er, daß auch ihn eine preußische Kugel getroffen hätte. So gut sollte es ihm aber nicht ergehen: den Verdacht, noch immer zu den Dänen in Beziehung zu stehen, konnte er ebensowenig von sich abschütteln, wie die Verachtung der Bevölkerung, und eines Tages war er verschwunden, um niemals wiederzukommen. Er ist dann auf einer der dänischen Inseln vergessen gestorben.

Uns Kindern war sein Schicksal gleichgültig: wir hatten gar keine Zeit, an ihn zu denken. Am Eroberungstage wußten wir nicht, wo uns der Kopf stand. Da galt es zuerst den durchkälteten Preußen Kaffee aufs Rathaus zu bringen; dann mußte man sich doch eine Schleife in den schleswig-holsteinischen Farben kaufen, oder eine Nadel, die zwei verschlungene Hände darstellte, über denen stand: Up ewig ungedeelt, oder: Frei bis zur Königsau. Die Kaufleute hatten plötzlich alle diese Sachen vorrätig, und als am Abend das Städtchen illuminierte, da fehlten nur in wenig Fenstern die leuchtenden Farben, mit denen sich Schleswig-Holstein seit so vielen Jahren nicht hatte schmücken dürfen.

Dunkel und verhängt war nur das Häuschen des toten Wachtmeisters. Als ich am nächsten Tage einen Kranz hinbrachte, erschrak ich vor der Grabesstille, die dort herrschte, und vor der tränenlosen Verzweiflung der Angehörigen. Damals lernten wir zum erstenmal die traurige Rücksichtslosigkeit selbst des kleinsten Gefechts kennen und empfanden es dunkel, daß die, die einen Krieg zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein einen Bruderkrieg nannten, doch nicht so unrecht hatten. Aber das trotzige kleine Dänenreich hatte zu lange die Rolle des Kain gespielt, als daß sich Abel, trotz mancher Schmerzen, nicht aufjubelnd von dem Banne der Knechtschaft hätte losreißen sollen. Wie aber wäre es wohl nach dem Tode König Friedrichs geworden, wenn seine Ratgeber den stammverwandten Herzogtümern ihre Stammverwandtschaft gelassen, wenn sie die deutsche Sprache in Schleswig nicht zu unterdrücken versucht, die deutschgesinnten Beamten nicht verfolgt und gequält, wenn sie, mit einem Wort, Schleswig-Holstein den Schleswig-Holsteinern gelassen hätten?

Wen die Götter verderben wollen, den pflegen sie mit Blindheit zu schlagen. Dieses Wort bewahrheitete sich sogar bei der eben berichteten kleinen Eroberung. An demselben Tage, wo die Preußen uns eroberten, hatten die dänischen Dragoner mit den requirierten Pferden nach Kopenhagen segeln wollen. Trotz eines in der Nähe kreuzenden Kriegsschiffes, trotz ausgedehnter Wachen ahnten sie nichts von der Nähe der Preußen, während wir Kinder uns in der Schule davon erzählten! Viele Leute haben sich später darüber gewundert, daß so etwas möglich gewesen war; im Grunde genommen war es aber gar nicht so erstaunlich. Gerade wir deutschen Kinder hatten gar keine Fühlung mit den dänischen Soldaten; selbst dem neugierigsten Jungen fiel es nicht ein, sich ihnen zu nähern. Nicht aus Haß oder Abscheu hielt man sich fern von ihnen, es tat uns ja niemand etwas; es war eben eine Unmöglichkeit, mit ihnen zu sprechen.

Wenig Tage nach dem Einzuge der Preußen wanderte eine stille Schar durch unsere kleine Stadt. Es waren die gefangenen dänischen Soldaten, die nach Brandenburg marschierten, ihnen voran fuhren die Offiziere. Still waren sie gekommen, und still zogen sie wieder ab, kein Mensch sagte ihnen ein böses Wort. Sie hatten es auch nicht verdient; denn obgleich sie requiriert hatten, so wüßte ich mich doch keines einzigen Falles zu erinnern, wo sie sich ungehörig betragen hätten.

Mit den Dänen zog sie von dannen, die dänische Zeit, ein neuer Tag brach an in der Geschichte Schleswig-Holsteins. Und so lange Nord- und Ostsee an unsere Küsten schlagen, so lange unsere Buchenwälder grünen, und über unseren Marschen der Sturm pfeift, so lange wollen wir nun bleiben: »Up ewig ungedeelt!«


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