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Blasse Rosen

Oben auf Großvaters Boden stand der Tantenkoffer, eingezwängt zwischen alten Truhen, Kisten und Schachteln. Er war alt, groß und häßlich, aber wir betrachteten ihn stets mit Neugierde, weil wir nicht wußten, was darin war. Die Großen wußten es auch nicht. Früher, vor vielen, vielen Jahren, waren zwei Kusinen unseres Großvaters lange bei dem Großvater im Hause gewesen, und als sie wieder davongezogen waren, hatten sie gebeten, diesen Koffer hier lassen zu dürfen, bis sie ihn selbst holen würden. Aber sie waren nicht wiedergekommen, und der Koffer stand noch immer auf Großvaters Boden. Dieser Boden war unheimlich. Groß, niedrig und dämmerig, mit schrägen Dachfenstern, war er uns schon am hellen Tage ein bißchen gruselig. Abends aber gingen wir vollends ungern hinauf, und unter keiner Bedingung ohne Begleitung. Es huschte, knackte und raschelte dort in allen Ecken, und wir waren froh, wenn mir wieder unten waren. Am Tage saßen wir wohl manchmal gern in einer helleren Ecke des Bodens, sahen die Stäubchen in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen tanzen, suchten nach altem Gerümpel oder betrachteten den Tantenkoffer. Früher war er schwarz gestrichen gewesen; jetzt hatte ihn die Farbe allmählich verlassen, man sah das gerissene, wurmstichige Holz, und die eisernen Bänder, die ihn umklammert hielten, rosteten nach und nach immer mehr. Öffnen konnten wir ihn aber doch nicht; das Schloß schien noch sehr gut zu sein, und so mußten wir uns damit begnügen, den Tantenkoffer von allen Seiten zu betrachten, auf ihm zu sitzen oder auf ihm herumzutrampeln. Vertragen konnte er nämlich alles.

Nach den Tanten, die die glücklichen Besitzer dieses Schatzes waren, fragten wir übrigens wenig. Nicht weil es uns an allgemeiner Menschenliebe gefehlt hatte, sondern weil wir nach unserer Ansicht genug Tanten hatten. Wir hatten, wie alle Sterblichen, verschiedene Arten von Tanten. Einige waren sehr lieb, sehr gut und liebenswürdig; andere mäkelten beständig an uns herum und fanden uns unliebenswürdig, unartig und unbescheiden. Es gab gewisse Tanten, die niemals mit uns zufrieden waren, die uns beständig fühlen ließen, wie weit wir uns alle Tage vom Wege der Tugend entfernten, und die uns von unheimlich artigen Kindern lange Geschichten erzählten, deren Sinn darin bestand, daß wir mit diesen Tugendbolden auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit hätten. Wir empfanden nicht leicht Müdigkeit; diese Tanten aber wirkten ermüdend auf unsere Gemüter. Wir waren ihnen nicht gerade böse, sie mochten ja recht haben mit ihrer schlechten Meinung von uns; aber wir liebten sie auch nicht. Kinder sollen aber nur lieben, und deshalb war ihr Einfluß nicht gut. Noch jetzt empfinde ich nur Kälte, wenn ich zurückdenke an jene liebeleeren, tadelsüchtigen Tanten, und wie warm durchströmt mich dankbare Liebe, wenn ich jener Tante gedenke, die mich mit liebender, weicher Hand einführte in die Geheimnisse des Alphabets, die alles Gute in mir sorgsam hegte, der keine Unart verschwiegen wurde, und die niemals Moralpredigten hielt. Dafür wird sie auch wieder geliebt werden bis in die Ewigkeit. Fremden Tanten standen wir immer mit einem gewissen Mißtrauen gegenüber. Jürgen meinte allerdings, die Tanten, die Fräulein hießen, seien meistens die nettesten. Meinen Erfahrungen entsprach das nicht ganz. So gingen unsere Ansichten über diesen Punkt auseinander, und die Frage, ob eine unverheiratete Tante einer verheirateten vorzuziehen sei, ist bis heute von uns nicht gelöst worden.

Als wir Tante Julie und Tante Auguste vom Sunde abholen sollten, fiel uns plötzlich unterwegs ein, daß wir gar nicht wüßten, ob sie verheiratet wären. Es waren die Koffertanten, die erwartet wurden, und wir hatten uns auf die endliche Eröffnung des geheimnisvollen Gegenstandes so gefreut, daß uns die Frage, wer Tante Julie und Auguste eigentlich wären, ziemlich gleichgültig erschien. Jetzt aber, wo wir bei Hinrich auf dem Bock saßen, während die Glaskutsche einsam prächtig hinter uns herrollte, empfanden wir doch das Bedürfnis, etwas von den Damen zu erfahren, mit denen wir nachher artig im Wagen sitzen sollten. Ich hatte kürzlich eine etwas erregte Auseinandersetzung mit der unverheirateten Tante gehabt, die das Hauswesen unseres Großvaters leitete, und daher ging mein Wunsch dahin, daß sich die neuen Tanten im Stande der Ehe befinden möchten. Jürgen bemerkte aber mit dem ihm eigenen Widerspruchsgeist, daß ihm die neuen Tanten überhaupt gleichgültig wären. Er könnte keine Tanten mehr leiden, möchten sie nun verheiratet oder unverheiratet sein, die meisten taugten doch nichts. Onkel wären unter allen Umständen besser. Ich widersprach nicht, denn wir hatten nette Onkel: einen ganz jungen, lustigen besonders, der noch Student war; aber mir lagen die Tanten doch am Herzen, und ich fragte Hinrich, ob er etwas von den erwarteten gehört hätte, worauf der Kutscher mit ernsthaftem Gesicht bemerkte, daß er die Fräulein vor dreißig Jahren auch schon einmal gesehen habe.

Da waren sie Jungferns, setzte er hinzu, indem er mit der Peitsche eine Fliege von Hermanns Halse fortschob; aber in dreißig Jahrens kann sich das ümmer ein büschen verändern!

Das war gewiß möglich, und so konnten wir uns jetzt den gewagtesten Vermutungen hingeben, bis uns der scharfe Ostwind noch herber um die Ohren pfiff, und der Fährpächter uns vom Kutschbock in seine Arme springen ließ.

Sie kreuzen all lange, bemerkte er, eine hat ein blauen und eine ein grünen Sleier, und hellschen dünn sind sie auch!

Dann schraubte er sein Fernrohr zusammen, durch das er auf die sich wild stürzende See geblickt hatte, und wir liefen auf die Brücke, um das Boot zu beobachten, das jetzt anscheinend still zwischen den hohen Wellen lag.

Unser Sund ist bis zum heutigen Tage ein unberechenbarer Geselle geblieben. Bei heftigem Sturme, der, nebenbei bemerkt, selten eine Richtung beibehält und oft aller Viertelstunden umspringt, ist es gar kein Genuß, auf den grüngrauen Wellen der Ostsee im Segelboote zu tanzen. Die eine Strömung schleudert das Fahrzeug hierhin, die andre dorthin, und es gehört die Kaltblütigkeit eines gewiegten Schiffers dazu, sein schweres Boot glatt durch die Brandung zu führen. Aber die Insassen des Bootes fühlen sich nicht immer wohl dabei.

Ich glaub, daß die Damens fix seekrank sind! meinte der Fährpächter, der neben uns stand, und wir nickten bedauernd. Mit Seekrankheit hatten wir immer Mitleid.

Jürgen aber hatte plötzlich einen ganz neuen Gedanken. »Wird man eher seekrank, wenn man unverheiratet ist, oder eher, wenn man einen Mann hat?« fragte er.

Der Gefragte zog sich den Südwester etwas mehr über die Ohren. »Da weiß ich nix genaues von zu sagen,« erwiderte er dann bedächtig. »Was mein Swägerin ihr Swester is, die mit ihr Mann nach Schina fährt, die is in ein Taifun, was ein schinesischen Sturm is, gesund wie ein Stint geblieben, wogegen ihr Mann und der Steuermann und die Mannschaft reineweg elendig gewesen sind. Sie hat mich das in ein Brief geschrieben. Und wenn sich ein verheirateter Mann erst mal auf den Rücken legt, denn muß es all slimm sein! Nee, mit'n Ehestand hat die Seekrankheit ganz und gar nix zu tun! Na, da kommen sie ja – nun helft man ein büschen bei die Packenüllens, Kinder!«

Mit den Packenüllen, unter denen unser Freund alles Gepäck verstand, waren wir seit unserer Geburt vertraut. Wir wußten, daß, wenn Tanten kamen, wir eine Zeitlang vor Hutschachteln, Mänteln und Mützenkörben überhaupt nicht zu sehen waren, und als sich das schwere Boot dröhnend an die Brücke lehnte, während diese in allen Bohlen knarrte, da streckten wir bereits erwartungsvoll die Hände aus, um die bekannten Packenüllen in Empfang zu nehmen.

Zwei schlanke, ältliche Damen wurden von Niels aus dem Boot gehoben. Sie schwankten noch ein wenig und sahen sehr blaß aus; als wir aber nach Hutschachteln und Tüchern griffen, kamen sie uns zuvor. Wir sollten nichts tragen, sagten sie, das könnte uns schaden; und dann streichelten sie uns und meinten freundlich, wir wären liebe, hübsche Kinder. Unser Erstaunen war groß; es wuchs aber ins Grenzenlose, als die Tanten in der Kutsche durchaus rückwärts sitzen wollten, während sie uns beschworen, doch vorwärts oder im »Fond«, wie man damals sagte, zu fahren. Wir taten es natürlich; schon des Spaßes wegen und um nachher den Gespielen gegenüber prahlen zu können, daß wir Tanten hätten, die rückwärts sitzen wollten, während wir vorwärts führen; unheimlich aber war uns doch dabei zumute, und wir wurden still und nachdenklich.

Die Tanten, die uns also bescheiden gegenüber saßen und auch noch Hutschachteln auf dem Schöße hielten, sprachen hin und wieder einige französische Worte miteinander. Wir konnten nicht alles verstehen, aber doch soviel, daß sie uns bien élevés nannten, und mich un pou laid. Erst sahen wir möglichst gleichgültig vor uns hin; dann stießen wir uns an, und endlich konnten wir uns vor Lachen nicht mehr halten. Es war doch zu komisch, daß wir bien élevés sein sollten! Und als wir merkten, daß uns die Tanten lächelnd anblickten und gar keine Miene machten, uns von anderen Kindern zu erzählen, die niemals lachten, oder die plötzlich gestorben wären, weil sie in Gegenwart ihrer Verwandten gelacht hatten, da wurden wir sehr zutraulich. Wir eröffneten ein wahres Kreuzfeuer von Fragen auf die unglücklichen Damen, und als wir nach Hause kamen, konnte ich bereits dem Stubenmädchen erzählen, daß Tante Julie fünfzig und Tante Auguste fünfundfünfzig Jahre alt geworden sei, daß jede vier Kleider mitgebracht hatte, und daß keine von ihnen verheiratet gewesen sei. Und der Koffer sollte morgen gleich ausgepackt werden. Der Koffer! Der Gedanke, daß mir endlich hinter die Geheimnisse des Koffers kommen sollten, regte uns gewaltig auf, wir sprachen unaufhörlich darüber, was er wohl enthalten möchte, und begriffen gar nicht, daß sich die Tanten nicht mehr auf dies Ereignis freuten, und daß Tante Auguste sogar ein trauriges Gesicht machte, als sie, verfolgt von uns, die schmale Bodentreppe hinaufging. Und nun endlich, endlich öffnete sich der schwere verstaubte Deckel, ein sonderbarer Moderduft stieg uns entgegen, und wir erblickten einen Haufen sorgfältig zusammengelegter Kleidungsstücke.

»Auspacken!« riefen Jürgen und ich in einem Atem; aber die beiden sonst so höflichen und rücksichtsvollen Tanten gehorchten uns nicht sogleich. Sie knieten vor dem gefüllten Koffer, und die Tränen stürzten aus ihren Augen. Draußen regnete es, schwere Tropfen glitten wie Tränen über die schrägen Dachfenster; der Wind spielte mit einigen losen Ziegeln, und manchmal klang es, als ob auch er weinte. Uns wurde unheimlich zumute, bis Tante Auguste unsere bestürzten Gesichter bemerkte, trotz des grauen Lichtes. Mit bittendem Lächeln sah sie uns an, freundlich über unsere Haare streichend.

»Es geht gleich vorüber,« sagte sie entschuldigend. »Wir haben den Koffer so lange nicht gesehen – er wurde eingepackt, als wir noch dreißig Jahre jünger waren. Nun kommen die Erinnerungen –« sie brach ab, um uns noch einmal zu liebkosen. Sie mochte einsehen, daß Kinder weder für Erinnerungen noch für eine lange Spanne Zeit Verständnis haben.

Tante Julie hatte schon angefangen auszupacken. Zuerst waren es gleichgültige Gegenstände, die durch unsere Hände gingen: alte Wäsche, feine Strümpfe und sonstige nützliche Dinge, so daß wir aufmerksam Tante Julie zuhören konnten, die uns die Geschichte jedes Kleidungsstückes erzählte. Dies Spitzenjabot hatte ihr Vater bei feierlichen Gelegenheiten getragen. Er war Amtmann gewesen und mußte, nach den Schnallenschuhen zu urteilen, die jetzt ans Tageslicht kamen, auf großem Fuße gelebt haben. Und dann kam ein Ordensband, das dem Großvater der Tanten, einem dänischen General, gehört hatte. Früher mochte es nicht Mode gewesen sein, die Ordensdekorationen dem Landesherrn wiederzuschicken, ein Kasten, mit verblaßter Seide gefüttert, enthielt allerhand Kreuze und Medaillen. Solange wir uns bei dem Unterkostüm des tapferen Generals aufgehalten hatten, waren wir stille Zuhörer der Tanten gewesen; als aber sein oberer Galamensch an das Tageslicht befördert wurde, da hätten sie ebensogut mit den Dachziegeln wie mit uns sprechen können. Kaum daß wir ihre Erlaubnis abwarteten, etwas von den köstlichen Gegenständen anzulegen, dann polterten wir die Bodentreppe hinunter. Jürgen trug einen feuerroten Frack, dessen Zipfel wie eine Schleppe hinter ihm herzogen; ich hatte mir einen Dreimaster aufgesetzt und das Kommandeurkreuz des Danebrogs und eine Degenquaste um den Hals gehängt.

Am Fuße der Treppe standen die älteren Brüder, die auch von dem Koffer gehört hatten, und nach wenig Sekunden saßen wir weinend vor der Haustür. Alles, was uns zum »Teilen« geblieben war, war die Degenquaste. Unsere Schätze waren nicht allein in andere Hände übergegangen, man hatte uns auch noch vorgeworfen, daß wir schlechte Schleswig-Holsteiner wären – denn wer trägt heutzutage eine dänische Uniform und einen Orden des Dänenkönigs? Jedenfalls mußte man doch dazu die Erlaubnis der Eltern einholen und vorläufig diese Sachen den älteren Brüdern überlassen!

Wir weinten jedoch nicht lange. Der rote, mottenzerfressene Frack wanderte wieder zu den Tanten zurück, die Orden gleichfalls, und als diese nachher uns allen etwas schenkten, waren es andere und passendere Gegenstände. Der Koffer enthielt wirklich köstliche Sachen: alte Glassachen, Bücher, Notiztafeln und eine Menge von altmodischen Dingen, die jedem Liebhaber Freude gemacht hätten. Uns Kindern wurde allerhand zur Auswahl hingelegt. Ich bekam eine dicke Taschenuhr aus einem Metall, das man Tombak nannte, und Jürgen wählte sich eine schmale, zusammengerollte Stickerei. Es waren verblaßte Rosen und Vergißmeinnicht auf ganz schmalem Stramin gestickt, und die Tanten meinten, er solle sich später ein paar Hosenträger davon machen lassen.

Es war mir aufgefallen, daß Tante Auguste, ehe sie dieses Bündel auf den Tisch legte, wieder etwas geweint hatte. Sie sah lange auf die matten Rosen und strich wehmütig darüber hin. Als sie meine Augen auf sich gerichtet sah, suchte sie sich wieder zu entschuldigen. »Es ist nur, weil ich an meine Jugend dachte,« sagte sie mit ihrer leisen Stimme. »Als ich bei meiner Tante in Apenrade lebte, habe ich diese Rosen gestickt – es sollte ein Besatz für Vorhänge werden, es ist aber niemals fertig geworden!«

Ich stellte gerade meine Tombakuhr, die die Angewohnheit hatte, nur dann ein Weilchen zu gehen, wenn man sie heftig geschüttelt hatte. Daher hörte ich wenig auf Tante Auguste, sondern mehr auf das schwerfällige Ticken der Uhr.

Jürgen bekam also die gestickten, verblaßten Rosen, und er wollte sich eine prachtvolle Pferdeleine daraus machen. Später aber paßte ihm die Stickerei nicht mehr, und er tauschte sie bei mir gegen die Uhr um. Inzwischen waren die Tanten wieder abgereist. Die Trennung tat uns sehr leid, denn nach unserer Ansicht gab es keine besseren Wesen als sie. Sie hatten uns niemals Moralvorlesungen gehalten, noch hatten sie sich über unsere Wildheit gewundert. Immer höflich und freundlich, dachten sie von allen Menschen und auch von uns nur Gutes, sie gaben uns ein wundervolles Beispiel von Bescheidenheit und Herzensgüte, so daß wir in Kindergesellschaften, wo wir manchmal unsere Verwandten besprachen, erzählen konnten: Wir haben zwei Tanten, die nehmen immer die kleinsten Stücke bei Tisch und sagen, daß sie mit allem zufrieden wären, eine Behauptung, die von allen Zuhörern schon mit ziemlichem Mißtrauen angehört wurde. Verstiegen wir uns gar zu der Mitteilung, daß uns diese Tanten zuerst aus der Tür gehen ließen und sogar lachten, wenn wir mit lauter Stimme ihr Alter bei Tisch verkündigten, dann erfolgte meistens lauter Widerspruch. Solche Tanten gäbe es überhaupt nicht, sagten die größeren Kinder in der Versammlung. Tanten seien immer furchtbar eigen, sowohl mit Essen wie mit ihrem Alter; und da unsere Geschichten den meisten sehr langweilig vorkamen, so wurden sie gewöhnlich mit gleichgültigem Stillschweigen übergangen. Die anderen hatten interessantere Verwandte. Da war ein Onkel, dessen Haare standen nachts auf einem Stocke, und ein großer Junge konnte sich einer Tante rühmen, die schon seit Jahren gestorben war und doch noch immer in der Stadt »spökelte«, weil sie einen Schatz vergraben und die Mitteilung, wo er zu finden sei, versäumt hatte. Nun konnte sie im Grabe nicht zur Ruhe kommen, während sich der Schatz nicht weiter zu beunruhigen schien. Wir Kinder aber saßen zusammengedrängt, mit hochroten Wangen und dachten uns aus, was wir tun würden, wenn wir der Spökeltante begegneten. Und wir, die wir die Koffertanten liebten, bedauerten doch insgeheim, daß sie nicht etwas getan hatten, was sie in den Augen der Gespielen recht groß und wichtig gemacht hätte. Sie blieben aber, wie sie waren, und erlitten denn auch das Schicksal der besten unserer Mitmenschen: weil sie so gar nicht von sich reden machten, wurden sie endlich vollständig vergessen. Weinend hatten wir die guten Koffertanten übers Wasser gebracht, hatten zärtlichen Abschied genommen und ein treues Andenken versprochen – wo aber blieb dieses Andenken? Es kam neuer Besuch, andere Eindrücke beschäftigten das Kinderherz, und an die fernen Tanten wurde immer weniger gedacht. Zuerst, als die Tombakuhr noch manchmal ging, sprachen wir wohl von Tante Auguste, die sie uns geschenkt hatte. Als aber endlich das Räderwerk ganz versagte und allem Schütteln unzugänglich blieb, da kam die Uhr in eine schwer zu öffnende Schublade, und ich weiß nicht, wo sie ihr Ende gefunden hat. Aber ich hatte noch meinen Straminstreifen, für den ich nur vorübergehend Neigung gehegt hatte. Vergessen und zusammengewickelt, wie vor dreißig Jahren, lag er unter meinen übrigen Raritäten, bis ihn Jürgen einmal fand und ihn für sein Eigentum erklärte. Dies konnte ich aber doch nicht dulden: es kam zu einem heftigen Streite, der damit endigte, daß ich mit der Stickerei entfloh und im Wohnzimmer des Großvaters begann, sie zu öffnen und auseinanderzuwickeln. Es waren mehrere lange Streifen, die, mit losen Stichen aneinandergeheftet, eine große Rolle abgaben. Hübsch erschien mir das Ganze nicht, und während ich darüber nachdachte, ob es wohl der Mühe verlohnte, mich dieser blassen Rosen wegen mit Jürgen zu erzürnen, öffnete sich die Tür des Zimmers. Ein Herr trat herein, offenbar von dem Stubenmädchen hergewiesen. Er trug die dänische Uniform, und ich wußte gleich, daß es wohl ein Offizier von der Aushebungskommission sei, der den Großvater zu sprechen wünsche.

Solche Besuche kamen nicht selten, und ich wühlte mich aus meinen gestickten Streifen heraus, um dem Herrn die Hand zu geben und ihm einen Lehnstuhl anzubieten. Er redete mich gleich deutsch an, etwas, was viele Dänen aus Grundsatz bei Deutschen nicht taten, und bald stand ich ganz nahe vor dem General und beantwortete ernsthaft seine Fragen. Er hatte gute und kluge Augen; als er mir von seinen Kindern erzählte, wurde ich immer zutraulicher, und wie er mich in gutmütigem Spott fragte, was ich denn mit den gestickten Bändern dort auf dem Fußboden anfangen wollte, holte ich alles und zeigte es ihm. Aufmerksam und halb in Gedanken betrachtete er die verblaßten Rosen, während ich sie vor ihm ausbreitete. »Tante Auguste hat es uns geschenkt! Sie hatte einen Koffer, und der war in Apenrade gewesen vor vielen Jahren. Und diese Stickerei ist auch in Apenrade gemacht, und hier« – ich griff nach einem zusammengelegten Blatt Papier, das ganz unten am Ende befestigt schien –, »ach, hier ist ein Brief, und ich glaube, es ist etwas darin!« Plötzlich nahm der General mir das Billet aus der Hand. War er rot geworden, oder kam es mir nur so vor?

»Nicht wahr, du schenkst mir dieses Papier?« fragte er, und ich nickte gleichgültig, wenn auch ein wenig erstaunt. Dann trat der Großvater ins Zimmer; der dänische Herr begrüßte ihn höflich, und ich wurde fortgeschickt. –

Viele Jahre waren vergangen, lange schon wehte der Danebrog nicht mehr über dem schleswig-holsteinischen Lande, da besuchte ich einmal die Koffertanten. So nannte ich sie nun allerdings lange nicht mehr; sie aber erinnerten mich an diesen Beinamen, und wir sprachen über alte, längst vergangene Zeiten. Sie waren mit den Jahren nicht schlechter geworden; wenn es wirklich wahr ist, daß die Menschen halb Engel, halb Teufel sein sollen, dann hatte der Teufel bei diesen alten Damen ein schlechtes Geschäft gemacht. Sie waren in ihrem ganzen Kreise bekannt durch ihre erstaunliche Güte, und während ich jetzt bei ihnen auf dem besten Platze saß und ihnen durchaus das Beste, was sie an Lebensmitteln hatten, wegessen sollte, kam über mich das drückende Gefühl der Beschämung, das den gewöhnlichen Menschen befällt, wenn er nicht mehr mit seinesgleichen, sondern mit Besseren umgeht.

Tante Auguste war sehr taub geworden. Wer ihr aber in die noch immer strahlenden Augen sah, der konnte ahnen, wie schön sie wohl früher gewesen war. Jetzt, nach dem Essen, zog sie mich in eine Ecke.

»Ich muß dir noch danken,« begann sie mit ihrer leisen Stimme, »du hast mir viel Gutes getan!«

Ich mochte wohl sehr erstaunt aussehen, denn sie lächelte, wenn auch voller Wehmut. Dann legte sie ein kleines, beschriebenes Blatt in meine Hand und zeigte auf einen schmalen Reif an ihrer Uhrkette.

»Du erkennst beides nicht, und doch hast du beides besessen. Soll ich dir die Geschichte erzählen? Sie ist kurz, aber wenn sie dich langweilt, dann steh auf und geh fort, ich nehme dir's nicht übel. Es ist nun schon lange her, und ich kann gut darüber sprechen. Als ich die Jugendjahre bei meiner Tante in Apenrade verlebte, da lag das Leben sonnig vor mir. Die Leute waren alle freundlich gegen mich, und die Tante meinte, ich müßte reich heiraten, das wäre gut für meine Schwestern. Ich hätte es gewiß gern getan, aber da war ein junger dänischer Leutnant, der gar nichts hatte, als seinen guten Namen. Er kam oft zu uns, und ich vergaß ganz, daß die Tante andere Absichten mit mir hatte. Damals arbeitete ich die Straminstreifen, die du nachher bekommen hast; wie eifrig stickte ich die Rosen hinein, wenn er dabei saß und mir auf die Hände sah! Ach, es war eine schöne Zeit, zu schön, als daß sie lange hätte dauern können. Eines Tages suchte ich meine Stickerei vergebens, und dann kam der Leutnant plötzlich auch nicht mehr zu uns. Die Tante behauptete, ich sei wohl selbst unordentlich mit der Arbeit gewesen; aber ich konnte ihr Verschwinden doch nicht begreifen. Allerdings dachte ich nicht viel darüber nach; viel schrecklicher war mir der Gedanke, daß der Leutnant nicht wiederkam. Ich wollte nicht nach ihm fragen, und nachher, als ich zufällig erfuhr, daß er versetzt worden sei, hatte ich schon heimlich viele Tränen vergossen. Kein gutes Wort hatte er mir gesagt, und nun war er von mir gegangen!«

Tante Auguste schwieg einen Augenblick und seufzte; dann wandte sie sich wieder zu mir. »Nicht wahr, die Geschichte ist langweilig? aber nun ist sie auch gleich zu Ende. Zufällig fand die Tante nachher meine Arbeit wieder; ich mochte aber nicht mehr an den Rosen sticken. So wie es war, legte ich das Bündel weg und habe es nie wieder geöffnet. Die Tante starb; einige Jahre brachten wir dann bei deinen Großeltern zu, wo wir den alten Koffer ließen. Du weißt, wie es dann später kam, daß ihr Kinder einiges aus seinem Inhalt erhieltet. Ich dachte nicht mehr an die Rosen. Da erhielt ich eines Tages aus Kopenhagen einen Brief. Gehört hatte ich wohl von dem ehemaligen Leutnant; er war hoch gestiegen, und seine Frau war ein früheres Hoffräulein. Nun schrieb er mir. Es war ein Briefchen von ihm mit einem Ring darin gewesen, den er selbst in die Stickerei geschoben hatte. Ob es die Tante gesehen hatte? Es war gerade um die Zeit, wo ich die ganze Arbeit verlor. Aber die Tante meinte es gut mit mir; sie ist lange, lange tot – ich möchte ihr keinen unfreundlichen Gedanken nachsenden in die Ewigkeit. Sie wußte ja auch nicht, daß mein Lebensglück an dem Manne hing, der nun von mir gegangen war ohne Abschied, ohne ein Wort, weil er meine Handlungsweise nicht begreifen konnte!«

Die alte Dame hatte die Hände gefaltet und sah still vor sich hin. Draußen begannen plötzlich die Kirchenglocken zu läuten, und einige Kinder liefen lachend und plaudernd an unserem Fenster vorbei; Tante Auguste hörte von all dem Geräusch gar nichts. Strahlend lächelte sie.

»Er hat mich geliebt!« sagte sie mit verklärtem Gesicht. »Er hat mich doch geliebt! Seitdem ich das weiß, bin ich so glücklich geworden, viel glücklicher als früher. Er schrieb mir so herzlich, bald, nachdem er seinen kleinen Brief bei dir gefunden hatte, und er bat mich um Verzeihung, daß er an mir gezweifelt hatte. Unglücklich war er von mir gegangen, und nun, wo doch viele Jahre zwischen uns und unserer Jugend lagen, nun mußte er erfahren, daß ich niemals von seiner Liebe gehört hatte. Lange Zeit habe ich nicht an ihn denken mögen, jetzt, wenn ich für mich allein sitze und alles so still um mich ist, dann höre ich eine Stimme in mir, die leise sagt: Er hat mich doch geliebt, und er weiß jetzt, daß ich immer sein geblieben bin. Immer und ewig! Ist das nicht wundervoll? Und diesen Frieden im Alter danke ich einer Kinderhand!«

Nun ist die alte Tante tot, und im Sommer blühen die Rosen auf ihrem Grabe. Blasse Rosen sind es, von zartem, feinem Dufte, blasse Rosen, wie sie so vielen Herzen in diesem Leben genügen müssen.


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