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Siebzehntes Kapitel

Saïdjahs Vater hatte einen Büffel, mit dem er sein Feld bestellte. Als dieser Büffel ihm von dem Distriktshäuptling von Parang-Kudjang fortgenommen wurde, war er sehr traurig und sprach viele Tage lang kein Wort. Denn die Zeit des Pflügens war nahe, und wenn die Sawah nicht rechtzeitig bestellt wurde, mußte man fürchten, daß auch die Zeit des Säens vorbeigehen würde, und daß es schließlich keinen Padie zu schneiden gebe, um ihn im Lombong des Hauses zu bergen.

Saïdjahs Vater war nun sehr bekümmert. Er fürchtete, daß seine Frau Mangel an Reis leiden würde, und auch Saïdjah, der noch ein Kind war, und Saïdjahs kleine Brüder und Schwestern.

Auch würde ihn der Distriktshäuptling beim Residentschaftsassistenten verklagen, wenn er mit der Bezahlung seiner Landrenten im Rückstand blieb. Denn darauf stand nach dem Gesetz Strafe.

Da nahm Saïdjahs Vater einen Kris, der ein pusaka Erbstück von seinem Vater war. Der Kris war nicht sehr schön, aber er hatte silberne Bänder auf der Scheide, und auch an der Spitze der Scheide war ein Beschlag aus Silber. Er verkaufte diesen Kris an einen Chinesen, der auf dem Hauptplatz wohnte, und kam nach Haus mit vierundzwanzig Gulden; für dieses Geld kaufte er einen anderen Büffel.

Saïdjah, der damals ungefähr sieben Jahre alt war, hatte mit dem neuen Büffel schnell Freundschaft geschlossen. Ich sage nicht ohne Absicht: Freundschaft, denn es ist wirklich rührend zu sehen, wie der javanische Kerbo Name der auf Java vorkommenden Büffelart. an dem kleinen Jungen hängt, der ihn bewacht und versorgt. Das große, starke Tier beugt willig den schweren Kopf nach rechts oder links oder unten auf einen Fingerdruck des Knaben, den es kennt, den es versteht, mit dem es aufgewachsen ist.

Solche Freundschaft hatte denn auch der kleine Saïdjah dem neuen Gast schnell einzuflößen gewußt, und Saïdjahs aufmunternde Kinderstimme schien dem kraftvollen Nacken des starken Tieres noch mehr Stärke zu verleihen, wenn es den schweren Lehmboden aufriß und seinen Weg in tiefen, scharfen Furchen zeichnete. Der Büffel kehrte gefügig um, wenn er an das Ende des Ackers kam und verlor keinen Fingerbreit Boden beim Zurückpflügen der neuen Furche, die stets dicht neben der alten lag, als wäre das Reisfeld ein Stück Gartenland, von einem Riesen geharkt.

Dicht daneben erstreckten sich die Reisfelder von Adindas Vater, dem Vater des Kindes, das Saïdjah heiraten sollte. Und wenn Adindas Brüder an den Feldrain kamen, gerade wenn auch Saïdjah da war mit seinem Pflug, dann riefen sie einander fröhlich zu und rühmten um die Wette die Kraft und den Gehorsam ihrer Büffel. Aber ich glaube, daß Saïdjahs Büffel der bessere war, vielleicht weil Saïdjah es besser als die anderen verstand, ihm zuzureden. Denn Büffel sind für freundliche Worte sehr empfänglich.

Saïdjah war neun Jahre alt geworden und Adinda schon sechs Jahre, als dieser Büffel von dem Distriktshäuptling von Parang-Kudjang Saïdjahs Vater fortgenommen wurde.

Saïdjahs Vater, der sehr arm war, verkaufte nun an den Chinesen zwei silberne Klambuhaken, – Pusaka von den Eltern seiner Frau, – für achtzehn Gulden. Und für dieses Geld kaufte er einen neuen Büffel.

Aber Saïdjah war traurig. Denn er wußte von Adindas Brüdern, daß der vorige Büffel auf den Hauptplatz getrieben worden war, und er hatte seinen Vater gefragt, ob der das Tier nicht gesehen hatte, als er dort war, um die Klambuhaken zu verkaufen. Auf diese Frage hatte Saïdjahs Vater keine Antwort geben wollen. Darum fürchtete er, daß sein Büffel geschlachtet worden war, genau wie die anderen Büffel, die der Distriktshäuptling den Eingeborenen fortnahm.

Und Saïdjah weinte sehr, wenn er an den armen Büffel dachte, mit dem er zwei Jahre lang so freundlich gelebt hatte. Und lange Zeit konnte er nichts essen, denn die Kehle war ihm zu eng, wenn er schluckte.

Man bedenke, daß Saïdjah ein Kind war.

Der neue Büffel lernte Saïdjah kennen, und nahm in der Gunst des Knaben rasch die Stelle seines Vorgängers ein, – – allzu rasch eigentlich. Denn ach, die Wachseindrücke unseres Herzens werden so leicht geglättet, um späterer Schrift Platz zu machen. Wie dem auch sei, der neue Büffel war wohl nicht so stark wie der vorige, – wohl war das alte Joch zu weit für seinen Nacken, – aber das arme Tier war willig wie sein Vorgänger, der geschlachtet worden war; und wenn auch Saïdjah nicht mehr die Kraft seines Büffels rühmen konnte, wenn er Adindas Brüdern am Grenzrain begegnete, so behauptete er doch, daß kein anderer den seinen an gutem Willen übertreffe. Und wenn die Furche nicht so gerade verlief wie früher, oder wenn Erdklumpen undurchschnitten umgangen waren, so half er gern mit seinem Spaten nach, so gut er konnte. Überdies hatte kein einziger Büffel einen User-Useran Doppelter Haarwirbel (Glückbringendes Zeichen). wie der seine. Der Penghulu Priester. selbst hatte gesagt, daß der Verlauf der Haarwirbel auf dem Widerrist Glück brächte.

Eines Tages rief Saïdjah auf dem Felde vergebens seinem Büffel zu, sich etwas zu beeilen. Das Tier stand unbeweglich. Der Knabe, aufgebracht über diese große und vor allem so ungewohnte Widerspenstigkeit, konnte sich nicht enthalten, ein Schimpfwort auszustoßen. Er rief: A. S. Jeder, der in Indien gewesen ist, wird mich verstehen. Und wer mich nicht versteht, kann dadurch nur gewinnen, daß ich ihm die Erklärung eines groben Ausdrucks erspare.

Saïdjah meinte aber nichts Böses damit. Er sagte es nur, weil er es so oft von anderen hatte sagen hören, wenn sie mit ihren Büffeln unzufrieden waren. Aber er hätte es nicht zu sagen brauchen, denn es nützte nichts: Sein Büffel ging keinen Schritt weiter. Er schüttelte den Kopf, als wolle er das Joch abwerfen, – – man sah den Atem aus seinen Nüstern strömen, – – er schnaufte, zitterte, schauderte, – – Furcht stand in seinem blauen Auge, und die Oberlippe war hochgezogen, so daß das Zahnfleisch bloßlag. – –

»Flieh, flieh,« riefen auf einmal Adindas Brüder, »flieh, Saïdjah! Ein Tiger!«

Und alle machten ihre Büffel aus den Jochen los, schwangen sich auf die breiten Rücken und galoppierten über die Reisfelder, durch Sümpfe und Gestrüpp und Gebüsch und Alang-Alang, über Felder und Wege, und als sie keuchend und schwitzend einritten in das Dorf Badur, war Saïdjah nicht bei ihnen.

Denn als er wie die anderen seinen Büffel vom Joch befreit und bestiegen hatte, um zu fliehen wie sie, da hatte ihm ein unerwarteter Sprung des Tiers das Gleichgewicht genommen und ihn zu Boden geworfen. Der Tiger war sehr nah. – –

Durch den eigenen Schwung fortgerissen, schoß Saïdjahs Büffel ein paar Sprünge über die Stelle hinaus, wo sein kleiner Gebieter den Tod erwartete. Aber nur aus dem eigenen Anlauf, nicht aus dem eigenen Willen heraus, war das Tier an Saïdjah vorbeigerannt. Denn kaum hatte er der Bewegung Einhalt getan, die alle Materie beherrscht, auch wenn die Ursache der Bewegung aufgehört hat, so kehrte er um, stellte seinen gewaltigen Leib auf den gewaltigen Beinen wie ein Dach über das Kind und wandte sein gehörntes Haupt dem Tiger zu. Der sprang, – aber er sprang zum letztenmal. Der Büffel fing ihn auf seinen Hörnern und verlor nur ein bißchen Fleisch, das ihm der Tiger am Hals abfetzte. Mit aufgeschlitztem Bauch lag der Angreifer da, und Saïdjah war gerettet. Wohl hatte der User-Useran dieses Büffels Glück gebracht!

Als dieser Büffel Saïdjahs Vater fortgenommen und geschlachtet – –

Ich hab' dir gesagt, lieber Leser, daß meine Geschichte eintönig ist – –

– – als dieser Büffel geschlachtet wurde, zählte Saïdjah bereits zwölf Jahre, und Adinda webte schon Sarongs Der Sarong ist das Hauptkleidungsstück der Javaner; beim »batiken« fließt die Farbe aus einem kleinen Gefäß, das wie eine antike Lampe geformt ist (»Farbschiffchen«)., und batikte sie mit zierlichen Kanten. Sie hatte schon Gedanken in den Gang ihres Farbschiffchens zu legen, und sie zeichnete Trauer auf ihr Gewebe, denn sie hatte Saïdjah sehr traurig gesehen.

Und auch Saïdjahs Vater war betrübt, doch am allermeisten seine Mutter. Denn sie hatte die Wunde am Hals des treuen Tieres geheilt, das ihr Kind unversehrt nach Hause gebracht, als sie nach den Berichten von Adindas Brüdern schon geglaubt hatte, er wäre von dem Tiger weggeschleppt worden. So oft hatte sie die Wunde angesehen und daran gedacht, wie tief sich die Klaue, die so weit in das grobe Fleisch des Büffels gedrungen war, in den weichen Leib ihres Kindes geschlagen hätte; und jedesmal, wenn sie frische Heilkräuter auf die Wunde legte, streichelte sie den Büffel und sagte ihm ein paar freundliche Worte, damit das gute, treue Tier doch wissen sollte, wie dankbar eine Mutter ist! Sie hoffte später, daß der Büffel sie doch vielleicht verstanden hätte, denn dann mußte er auch ihr Weinen verstehen, als er zum Schlachten weggeführt wurde, und er mußte begreifen, daß es nicht Saïdjahs Mutter war, die ihn schlachten ließ.

Einige Zeit darauf floh Saïdjahs Vater außer Landes. Denn er hatte große Furcht vor der Strafe, wenn er seine Landrenten nicht bezahlen würde, und er hatte kein pusaka mehr, um einen neuen Büffel zu kaufen, denn seine Eltern hatten immer in Parang-Kudjang gelebt und ihm daher wenig hinterlassen. Auch die Eltern seiner Frau hatten immer in demselben Distrikt gewohnt. Nach dem Verlust des letzten Büffels konnte er sich einige Jahre halten, indem er mit gemieteten Pflugtieren pflügte. Aber das ist eine sehr undankbare Arbeit und vor allem verdrießlich für einen Mann, der eigene Büffel besessen hatte. Saïdjahs Mutter starb aus Kummer, und da geschah es, daß sein Vater in einem Augenblick der Verzweiflung aus Lebak und aus Bantam floh, um Arbeit in der Gegend von Buitenzorg zu suchen. Er wurde mit Stockschlägen bestraft, weil er Lebak ohne Paß verlassen hatte, und von der Polizei wieder nach Badur zurückgebracht. Da wurde er ins Gefängnis geworfen, weil man ihn für wahnsinnig hielt, was ja nicht erstaunlich gewesen wäre, und weil man fürchtete, daß er in einem Anfall von Matah-glap amok Matah-glap, wörtlich »finsteres Auge«. Die populäre Bezeichnung für den typischen Wahnsinn des Javaners, der plötzlich in eine Art Tollwut übergeht, das Amok, das wörtlich »Mord« bedeutet. Der Amokläufer macht alles nieder, was ihm in den Weg kommt. machen oder andere Sinnlosigkeiten verüben würde. Aber er war nicht lange gefangen, weil er kurz darauf starb.

Was aus Saïdjahs kleinen Geschwistern geworden ist, weiß ich nicht. Die Hütte, die sie in Badur bewohnten, stand einige Zeit leer und stürzte bald ein, denn sie war nur von Bambus gebaut und mit atap gedeckt. Ein wenig Schutt und Schmutz bedeckte den Fleck, wo viel gelitten worden war. Es gibt viele solche Flecken in Lebak.

Saïdjah war schon fünfzehn Jahre alt, als sein Vater nach Buitenzorg ging. Er hatte ihn nicht dahin begleitet, weil er größere Pläne im Herzen trug. Man hatte ihm gesagt, daß es in Batavia so viele Herren gäbe, die in bendies Leichter, zweirädriger Wagen. führen, und daß er da leicht Dienst als Bendie-Junge finden würde, wozu man gewöhnlich jemand wählt, der jung und noch nicht erwachsen ist, damit das Gleichgewicht des zweirädrigen Gefährts nicht durch zu große Belastung gestört wird.

Wenn man sich gut führte, hatte man ihm versichert, war in einer solchen Stelle viel zu verdienen. Vielleicht könnte er sogar auf diese Art in drei Jahren genug Geld erübrigen, um zwei Büffel davon zu kaufen. Diese Aussicht schien ihm besonders verlockend. Mit stolzem Schritt, wie jemand, der große Dinge im Sinn hat, trat er nach dem Weggang seines Vaters bei Adinda ein und erzählte ihr von seinem Plan.

»Denk nur,« sagte er, »wenn ich wiederkomme, werden wir alt genug sein, um uns zu heiraten, und wir werden zwei Büffel haben!«

»Sehr gut, Saïdjah! Ich will mich gern mit dir verheiraten, wenn du zurückkommst. Ich werde spinnen, und Sarongs und Slendangs Javanisches Kleidungsstück. weben und batiken, und die ganze Zeit sehr fleißig sein.«

»O, ich glaub' dir, Adinda! Aber – – wenn ich dich nun verheiratet vorfinde?«

»Saïdjah, du weißt doch gut, daß ich niemand anderen heiraten werde. Mein Vater hat mich deinem Vater versprochen.«

»Und du selbst?«

»Ich werde dich heiraten, verlaß dich drauf!«

»Wenn ich zurückkomme, werde ich aus der Ferne rufen – –«

»Wer wird das hören, wenn wir Reis stampfen im Dorf?«

»Das ist wahr. Aber Adinda – – o ja, so ist's besser: warte auf mich beim Djati-Hain, unter dem Ketapan Djati, der Teakbaum, Ketapan, ein Baum mit mandelähnlichen Früchten., wo du mir die Melatti gegeben hast.«

»Aber Saïdjah, wie kann ich wissen, wann ich hingehen muß, um auf dich zu warten beim Ketapan

Saïdjah bedachte sich einen Augenblick und sagte:

»Zähle die Monde. Ich werde dreimal zwölf Monde fortbleiben, – – dieser Mond zählt nicht mit. Weißt du, Adinda, mach' eine Kerbe in deinem Reisblock bei jedem neuen Mond. Wenn du dreimal zwölf Kerben eingeschnitten hast, werde ich am Tag, der darauf folgt, unter den Ketapan kommen. Versprichst du, da zu sein?«

»Ja, Saïdjah! Ich werde unter dem Ketapan beim Djatihain sein, wenn du zurückkommst.«

Da riß Saïdjah einen Streifen von seinem blauen Kopftuch, das sehr abgetragen war, und gab Adinda das Stückchen Leinwand, damit sie es als Unterpfand bewahren sollte. Und dann verließ er sie und Badur.

Er lief viele Tage lang. Er kam durch Rangkas-Betung, das zu jener Zeit noch nicht Hauptstadt von Lebak war, und durch das größere Warung-Gunung, wo damals der Residentschaftsassistent wohnte, und am folgenden Tag sah er Pandelang, das wie in einem Garten liegt. Noch einen Tag später kam er nach Serang und erstaunte über die Pracht einer so großen Stadt mit vielen Häusern, die aus Stein gebaut und mit roten Ziegeln gedeckt waren. Noch nie hatte Saïdjah so etwas gesehen. Er blieb dort einen Tag, weil er müde war, aber des Nachts in der Kühle ging er weiter und kam bis Tangerang am folgenden Tag, ehe noch der Schatten bis zu seinen Lippen Die Zeitbestimmung nach dem Schatten des Hutes auf dem Gesicht ist eine indische Eigentümlichkeit. gesunken war, obwohl er doch den großen Tudung trug, den ihm sein Vater hinterlassen hatte.

Zu Tangerang badete er im Fluß neben der Fähre, und er ruhte aus im Hause des Bekannten seines Vaters, der ihn lehrte, wie man Strohhüte flicht, genau wie die von Manila. Er blieb dort einen Tag, um das zu lernen, weil ihm in den Sinn kam, daß er später damit etwas verdienen könnte, für den Fall, daß er in Batavia kein Glück hätte. Am nächsten Tag gegen Abend, als es kühl wurde, bedankte er sich sehr bei seinem Wirt und ging weiter. Sobald es ganz dunkel war, damit niemand es sehen sollte, holte er das Blatt heraus, in dem er die Melatti bewahrte, die Adinda ihm gegeben hatte unter dem Ketapan-Baum. Denn er war traurig geworden, weil er sie so lange Zeit nicht sehen sollte. Am ersten Tag, und auch am zweiten hatte er nicht so stark gefühlt, wie allein er war, denn seine ganze Seele war erfüllt von der großen Vorstellung, soviel Geld zu verdienen, daß er zwei Büffel kaufen konnte, wo doch sein Vater nie mehr als einen besessen hatte; und seine Gedanken waren viel zu sehr auf das Wiedersehen mit Adinda gerichtet, um der Trauer über den Abschied Raum zu lassen. In hochgespannter Hoffnung hatte er diesen Abschied genommen und ihn in seiner Vorstellung fest verknüpft mit dem endlichen Wiedersehen unter dem Ketapan. Denn eine so große Rolle spielte die Aussicht auf dieses Wiedersehen in seinem Herzen, daß er ein frohes Gefühl hatte, als er beim Verlassen von Badur an diesem Baum vorbeiging, so als wären sie schon vorüber, die sechsunddreißig Monde, die ihn von jenem Augenblick trennten. Es war ihm so vorgekommen, als ob er nur umzukehren brauche, als ob er schon zurückkäme von der Reise, um Adinda zu sehen, wie sie auf ihn wartete unter dem Baum.

Aber je weiter er sich entfernte von Badur, und je mehr ihm die furchtbare Länge eines Tages zum Bewußtsein kam, um so länger schienen ihm die sechsunddreißig Monde, die vor ihm lagen. Es war etwas in seiner Seele, das ihn weniger schnell weiterwandern ließ. Er fühlte Traurigkeit in seinen Knien, und wenn ihn auch nicht gerade Mutlosigkeit überkam, so doch Wehmut, die nicht sehr weit von Mutlosigkeit entfernt ist. Er dachte daran, umzukehren, aber was würde Adinda sagen, wenn er so wenig Ausdauer hatte?

Darum lief er weiter, aber er ging langsamer als am ersten Tag. Er hielt die Melatti in der Hand und drückte sie oft an seine Brust. Er war viel älter geworden seit drei Tagen und begriff nicht mehr, wie er früher so ruhig gelebt hatte, da doch Adinda so nah bei ihm war, und er sie sehen konnte, so oft und so lang er wollte. Denn jetzt würde er nicht ruhig sein, wenn er erwarten könnte, daß sie plötzlich vor ihm stünde. Und er begriff auch nicht, daß er nach dem Abschied nicht noch einmal umgekehrt war, um sie noch einmal anzusehen! Auch kam es ihm in den Sinn, daß er noch vor kurzem sich mit ihr gezankt hatte wegen der Schnur, die sie für den Lalayang Drache. ihrer Brüder spann und die zerrissen war. Dadurch war eine Wette mit den Kindern aus Tjipurut verloren gegangen, und er hatte behauptet, es sei ein Fehler in ihrem Gespinst gewesen. Wie war es möglich, dachte er, deswegen auf Adinda böse zu sein? Denn, selbst wenn sie einen Fehler gesponnen hatte in der Schnur, und selbst wenn die Wette von Badur gegen Tjipurut deswegen verloren war und nicht durch die Glasscherbe, die der kleine Djamien aus seinem Versteck hinter der Hecke so mutwillig und geschickt geworfen hatte, – hätte er selbst dann so hart gegen sie sein und sie mit ungehörigen Namen nennen dürfen? Was soll denn werden, wenn er in Batavia stürbe, ohne sie um Verzeihung gebeten zu haben wegen solcher Grobheit? Wird es nicht sein, als ob er ein schlechter Mensch wäre, der einem Mädchen Scheltworte gibt? Und werden nicht alle zu Badur sagen, wenn sie hören, daß er in einem fremden Lande gestorben sei: Es ist gut, daß Saïdjah gestorben ist, denn er hat gegen Adinda einen großen Mund gehabt!

So nahmen seine Gedanken ganz andere Wege als in der früheren Hochspannung, und unwillkürlich äußerten sie sich, erst in halben noch unausgesprochenen Worten, bald im Selbstgespräch, und endlich in dem wehmütigen Lied, dessen Übersetzung ich hier folgen lasse:

»Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.
Ich habe das große Meer gesehen an der Südküste.
Als ich dort war mit meinem Vater,
Salz zu machen.
Wenn ich sterbe auf dem Meere
Und sie meinen Körper ins tiefe Wasser werfen,
Werden Haie kommen.
Sie werden um meine Leiche schwimmen und fragen:
»Wer von uns soll den Körper verschlingen,
Der da niedersinkt im Wasser?«
Ich werd' es nicht hören.

Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.
Ich habe brennen sehen Pa-Ansus Haus,
Das er selbst angezündet hatte,
Weil er rasend war.
Wenn ich sterbe in einem brennenden Haus,
Werden glühende Holzstücke niederfallen
Auf meine Leiche.
Und vor dem Haus wird lautes Rufen sein
Von Menschen, die Wasser werfen,
Um den Brand zu töten.
Ich werd' es nicht hören.

Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.
Ich hab' den kleinen Si-Unah fallen sehen
Vom Klapper-Baum, als er eine Klapper pflücken wollte
Für seine Mutter.
Wenn ich von einem Klapper-Baum falle,
Werd' ich tot an seinem Fuße liegen,
In den Büschen, wie Si-Unah.
Dann wird meine Mutter nicht rufen.
Denn sie ist tot.
Aber andere werden rufen: »Seht, da liegt Saïdjah!«
Mit lauter Stimme.
Ich werd' es nicht hören.

Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.
Ich habe die Leiche gesehen von Pa-Lisu,
Der gestorben war an hohem Alter.
Denn sein Haar war weiß.
Wenn ich sterbe am Alter, mit weißem Haar,
Werden die Klageweiber um meine Leiche stehen.
Und sie werden Lärm machen,
Wie die Klageweiber an Pa-Lisus Leiche.
Und auch die Enkel werden weinen, sehr laut.
Ich werd' es nicht hören.

Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.
Ich habe viele gesehen zu Badur, die gestorben waren.
Man kleidete sie in weiße Kleider
Und begrub sie in der Erde.
Wenn ich sterbe zu Badur,
Und sie begraben mich vor dem Dorfe,
Ostwärts gegen den Hügel,
Wo das Gras hoch ist – – –
Dann wird Adinda dort vorbeigehen,
Und der Saum ihres Sarongs wird leise hinstreichen über das Gras – – –
Ich werd' es hören.«

Saïdjah kam zu Batavia an. Er bat einen Herrn, ihn in Dienst zu nehmen, was dieser Herr auch auf der Stelle tat, weil er Saïdjah nicht verstand. Denn in Batavia hat man gern Bediente, die noch kein malayisch sprechen und also noch nicht so verdorben sind wie andere, die schon länger in Berührung mit europäischer Bildung waren. Saïdjah lernte malayisch schnell genug, aber er paßte brav auf, denn immer dachte er an die zwei Büffel, die er kaufen wollte, und an Adinda. Er wurde groß und stark, weil er alle Tage aß, was zu Badur nicht immer sein konnte. Er war beliebt im Stall und wäre sicher nicht abgewiesen worden, wenn er die Tochter des Kutschers zur Frau begehrt hätte. Sein Herr selbst hielt so viel auf Saïdjah, daß er bald zum Hausbediensteten befördert wurde. Man erhöhte seinen Lohn und gab ihm überdies fortwährend Geschenke, weil man so besonders zufrieden mit seinen Diensten war. Die gnädige Frau hatte den Roman von Sue Gemeint ist der Roman von Sue »Der ewige Jude«, in welchem ein sehr idealisierter javanischer Prinz Djalma vorkommt. gelesen, der so viel Aufsehen machte, und dachte immer an Prinz Djalma, wenn sie Saïdjah sah. Auch die jungen Mädchen begriffen besser als früher, daß der javanische Maler Radhen Saleh in Paris so großen Anklang gefunden hatte.

Aber man fand Saïdjah undankbar, als er nach beinahe drei Jahren Dienst um seine Entlassung bat und um ein Zeugnis ersuchte, daß er sich gut geführt hatte. Man konnte ihm das aber nicht verweigern, und Saïdjah machte sich mit fröhlichem Herzen auf die Reise.

Er kam durch Pising, wo einst Havelaar gewohnt hatte, vor langer Zeit. Aber das wußte Saïdjah nicht. Und hätte er es auch gewußt, so trug er doch etwas ganz anderes im Herzen, das ihn beschäftigte. Er zählte die Schätze, die er nach Hause brachte. In einem Bambusrohr hatte er seinen Paß und das Zeugnis über gute Führung. In einem Behältnis, das an einem ledernen Riemen befestigt war, schien etwas Schweres fortwährend gegen seine Schulter zu schlagen, aber er fühlte das gerne, – – das glaub ich wohl! Darin waren dreißig spanische Matten Damals in ganz Ostasien verbreitete Silbermünze, die heute vollständig durch den amerikanischen und mexikanischen Dollar verdrängt ist., genug, um drei Büffel zu kaufen. Was würde Adinda sagen! Und das war noch nicht alles. Auf seinem Rücken sah man die silberbeschlagene Scheide eines Kris, den er im Gürtel trug. Der Griff war sicher aus feingeschnitztem Kamuning Ein kostbares Wurzelholz., denn er hatte ihn sehr sorgfältig in eine Seidenhülle gewickelt. Und er besaß noch mehr Schätze. Im Wulst des Kahins Tuch. um seine Lenden verwahrte er einen Gürtel von silbernen Gliedern mit goldenem Ikatpendieng Schliesse.. Wohl war der Gürtel kurz, aber sie war so schlank – – Adinda!

Und an einer Schnur um seinen Hals trug er ein seidenes Säckchen, in dem einige vertrocknete Melatti waren.

War es zu verwundern, daß er sich in Tangerang nicht länger aufhielt, als nötig war um den Freund seines Vaters zu besuchen, der so feine Strohhüte flocht? War es zu verwundern, daß er wenig sagte zu den Mädchen, denen er begegnete und die ihn fragten: »Wohin, woher?« So grüßen sie in jener Gegend! War es zu verwundern, daß er Serang nicht mehr so schön fand, er, der Batavia kannte? Daß er sich nicht mehr in der Hecke verkroch wie vor drei Jahren, wenn der Resident vorbeigefahren kam, er, der den viel größeren Herrn gesehen hatte, der zu Buitenzorg wohnt, und der Großvater ist des Susuhunans von Solo Der Kaiser von Surakatra.? War es zu verwundern, daß er wenig achtete auf die Erzählungen der Leute, die ein Stück Wegs mit ihm gingen und von all den Neuigkeiten in Bantan-Kidul sprachen? Daß er kaum hinhörte, als man ihm berichtete, daß der Kaffee-Anbau nach viel vergeblicher Mühe ganz aufgegeben worden war? Daß der Distriktshäuptling von Parang-Kudjang wegen Raub auf der öffentlichen Landstraße zu vierzehn Tagen Arrest im Hause seines Schwiegervaters verurteilt worden war? Daß die Hauptstadt nach Rangkas-Betung verlegt worden war? Daß ein neuer Residentschaftsassistent gekommen war, weil der vorige vor ein paar Monaten gestorben war? Wie der neue Beamte auf der ersten Sebah gesprochen hatte? Daß seit einiger Zeit niemand verklagt und bestraft worden sei? Und daß man im Volke hoffte, daß alles Gestohlene zurückgegeben oder vergütet werden würde?

Nein, schönere Bilder standen vor dem Auge seiner Seele. Er suchte den Ketapan-Baum in den Wolken, als er noch zu weit weg war, um ihn bei Badur zu suchen. Er griff nach der Luft, die ihn umgab, als wollte er die Gestalt umfassen, die ihn unter dem Baum erwartete. Er zeichnete sich Adindas Antlitz, ihren Kopf, ihre Schulter, – – er sah den schweren Kondeh, so glänzend schwarz, gefangen in seiner eigenen Schlinge, wie er ihr im Nacken hing, – – er sah ihr großes Auge, leuchtend im dunkeln Widerschein, – – die Nasenflügel, die sie so stolz in die Höhe zog als Kind, wenn er, – – wie war es möglich! – sie neckte, und den Winkel ihres Mundes, der ein Lächeln barg. Er sah ihre Brust, die nun schwellen würde unter dem Kabaai Frauenjacke., – er sah wie der Sarong, den sie selbst gewebt hatte, ihre Hüften eng umschloß, und, dem Schenkel folgend in geschwungener Linie, längs der Knie niederfiel in herrlichen Wellenfalten auf den kleinen Fuß – – –.

Nein, er hörte wenig von dem, was man ihm sagte. Er hörte ganz andere Töne. Er hörte, wie Adinda sagen würde: »Sei willkommen, Saïdjah! Ich hab an dich gedacht beim Spinnen und beim Weben und beim Stampfen des Reises im Block, der dreimal zwölf Kerben von meiner Hand aufweist. Hier bin ich unter dem Ketapan am ersten Tag des neuen Mondes. Sei willkommen, Saïdjah: ich will deine Frau sein!«

Das war die Musik, die so herrlich in seinen Ohren widerklang, und die ihn hinderte, auf all die Neuigkeiten zu hören, die man ihm unterwegs erzählte.

Endlich sah er den Ketapan. Oder vielmehr sah er einen großen dunklen Fleck, der seinen Augen viele Sterne verdeckte. Das mußte der Djati-Hain sein neben dem Baum, wo er am nächsten Tag nach Sonnenaufgang Adinda wiedersehen sollte. Er suchte im Dunkel und betastete viele Stämme. Bald fand er eine wohlbekannte Unebenheit an der Südseite eines Baums, und legte seinen Finger in einen Spalt, den Si-Panteh mit seinem Parang Langes Messer. hineingehackt hatte, um den Pontianak Baumgeist, der den Frauen, vor allem Schwangeren, feindlich gesinnt ist. zu beschwören, der schuld war an dem Zahnweh von Pantehs Mutter, kurz vor der Geburt seines kleinen Bruders. Das war der Ketapan, den er suchte.

Ja, wohl war das die Stelle, wo er zum erstenmal Adinda mit anderen Augen angesehen hatte als seine übrigen Spielgefährtinnen, weil sie da zum erstenmal sich geweigert hatte, an einem Spiel teilzunehmen, das sie doch noch kurz zuvor mit allen Kindern, – Knaben und Mädchen, – mitgespielt hatte. Da hatte sie ihm die Melatti gegeben.

Er setzte sich nieder am Fuße des Baumes und blickte auf zu den Sternen. Und als eine Sternschnuppe fiel, sah er das an als einen Gruß bei seiner Heimkehr nach Badur. Und er dachte, ob Adinda jetzt wohl schlafe? Und ob sie wohl die Monde auf ihrem Reisblock richtig eingekerbt hatte? Es würde ihn so schmerzen, wenn sie einen Mond übergangen hätte, als ob es nicht genug wäre, – – – sechsunddreißig! Und ob sie schöne Sarongs und Slendangs gebatikt hatte? Und er fragte sich auch, wer wohl in seines Vaters Haus wohnen mochte? Und seine Jugend kam ihm in den Sinn und seine Mutter, und wie ihn der Büffel vor dem Tiger gerettet hatte, und er überlegte, was wohl aus Adinda geworden wäre, wenn der Büffel nicht soviel treuen Mut bewiesen hätte.

Scharf paßte er auf, wie die Sterne niedersanken im Westen, und bei jedem Stern, der am Horizont verschwand, berechnete er, daß die Sonne nun wieder ihrem Aufgang im Osten etwas näher war, und wieviel näher er selbst dem Wiedersehen mit Adinda war.

Denn sicher würde sie kommen beim ersten Strahl, ja, beim Dämmern schon würde sie da sein, – – – ach, warum war sie nicht schon einen Tag früher gekommen?

Es betrübte ihn, daß sie ihm nicht vorausgeeilt war, dem schönen Augenblick, der ihm drei Jahre lang mit unbeschreiblichem Glanz vor der Seele geleuchtet hatte. Und, unbillig wie er war in der Selbstsucht seiner Liebe, kam es ihm vor, als ob Adinda hätte da sein müssen, wartend auf ihn, der sich nun beklagte, – vor der Zeit sogar! – weil er auf sie zu warten hatte.

Aber er beklagte sich zu Unrecht. Denn noch war die Sonne nicht aufgegangen, noch hatte das Auge des Tages keinen Blick auf die Ebene geworfen. Wohl verblichen da droben die Sterne, beschämt, weil bald das Ende ihrer Herrschaft kommen würde, – – wohl fluteten seltsame Farben über die Gipfel der Berge, die um so dunkler schienen, je schärfer sie sich abhoben vom lichteren Hintergrund, – – – wohl flog hier und da durch die Wolken im Osten etwas Glühendes, – Pfeile von Gold und Pfeile von Feuer, die am Horizont hin und wider schossen, – aber sie verschwanden wieder und schienen niederzufallen hinter dem rätselhaften Vorhang, der noch immer den Tag verhüllte vor den Augen Saïdjahs.

Doch wurde es allmählich heller und heller um ihn her. Er sah schon die Landschaft, und schon konnte er die Rundung des Klapper-Wäldchens erkennen, in dem Badur versteckt liegt, – – – dort schlief Adinda!

Nein, sie schlief nicht mehr! Wie sollte sie schlafen können? Wußte sie nicht, daß Saïdjah auf sie wartete? Gewiß hatte sie die ganze Nacht nicht geschlafen! Sicher hatte die Dorfwache an ihre Tür geklopft und gefragt, warum die Pelitah Lampe. weiterbrannte in ihrem Haus, und mit liebem Lachen hatte sie gesagt, daß ein Gelübde sie wachhielte, den Slendang, an dem sie arbeitete, fertig zu weben, – der mußte am ersten Tag des neuen Monds vollendet sein ...

Oder sie hatte die Nacht im Dunkel zugebracht und auf ihrem Reisblock gesessen und mit begierigen Fingern abgezählt, daß wirklich sechsunddreißig tiefe Kerben nebeneinander darin eingeschnitten waren. Und sie hatte sich ergötzt an dem künstlichen Schrecken, ob sie sich vielleicht verrechnet hätte, ob vielleicht noch einer fehlte, um sich noch einmal und noch einmal und immer wieder der herrlichen Sicherheit zu freuen, daß wirklich ganz bestimmt dreimal zwölf Monde vergangen waren, seit Saïdjah sie zum letztenmal gesehen hatte.

Auch sie würde jetzt, nun es schon hell war, in nutzloser Anspannung die Augen anstrengen, um die Blicke über den Horizont hinunter zu neigen, damit sie der Sonne entgegen liefen, der trägen Sonne, die zauderte, – – und zauderte – –

Da kam ein Streifen von bläulichem Rot, der sich festklammerte an den Wolken, und die Ränder wurden licht und glühend, und es begann zu blitzen, und wieder schossen feurige Pfeile durch den Luftraum, aber diesmal fielen sie nicht nieder, sie hefteten sich fest auf dem dunklen Grund und gaben ihre Glut weiter in größeren und größeren Kreisen, und begegneten einander und kreuzten sich und schwankten und drehten und verirrten sich, und vereinten sich zu Feuerbündeln, und spiegelten sich in goldenem Glanz auf perlmuttrigem Grund, und da war rot und blau und gelb und silber und purpur und azur in dem allen, – – – o Gott, das war der Anbruch des Tages: Das war das Wiedersehen mit Adinda!

Saïdjah hatte nicht beten gelernt, und es wäre auch schade gewesen, es ihn zu lehren, denn heiligeres Gebet und feurigerer Dank, als in dem wortlosen Entzücken seiner Seele lag, ließ sich nicht in menschliche Sprache fassen.

Er wollte nicht nach Badur gehen. Sogar das Wiedersehen mit Adinda stellte er sich nicht schöner vor als die Sicherheit, daß er sie gleich wiedersehen würde. Er setzte sich an den Fuß des Ketapan und ließ die Augen über die Gegend schweifen. Die Natur lachte ihm zu und schien ihn willkommen zu heißen wie eine Mutter ihr heimgekehrtes Kind. Und gleich, wie sie ihre Freude schildert durch freiwillige Erinnerung an den vergangenen Schmerz, durch das Hervorholen der Andenken, die sie während seines Fernseins bewahrte, so erfreute sich auch Saïdjah am Wiedersehen so vieler Stellen, die Zeugen seines kurzen Lebens gewesen waren. Aber wie auch seine Augen oder seine Gedanken umherschweifen mochten, immer wieder kehrte sein Blick und sein Verlangen zu dem Pfad zurück, der von Badur her nach dem Ketapan-Baum führt. Alles, was seine Sinne wahrnahmen, hieß Adinda. Er sah links den Abgrund, wo die Erde so gelb ist; wo einmal ein junger Büffel in der Tiefe versunken war: Da hatten sich die Leute aus dem Dorf versammelt, um das Tier zu retten, – denn es ist keine Kleinigkeit, einen jungen Büffel zu verlieren! – und sie hatten sich niedergelassen an starken Rettan-Seilen. Adindas Vater war der mutigste gewesen, – – o, wie sie in die Hände geklatscht hatte Adinda!

Und dort hinten, auf der andern Seite, wo das Kokoswäldchen über den Hütten des Dorfes winkt, da war irgendwo Si-Unah von einem Baum gefallen und gestorben. Wie weinte seine Mutter: »weil Si-Unah noch so klein war«, jammerte sie, – – als ob sie weniger getrauert hätte, wenn Si-Unah größer gewesen wäre! Aber klein war er, das ist wahr, denn er war noch kleiner und schwächer als Adinda –

Niemand betrat den schmalen Weg, der von Badur zu dem Baum führte. Bald würde sie kommen: Es war noch sehr früh.

Saïdjah sah einen Badjing Javanisches Eichhörnchen., der munter und ausgelassen am Stamm eines Klapper-Baumes hin und her sprang. Das Tierchen, – ein Ärgernis für den Eigentümer des Baumes, aber doch reizend von Gestalt und Bewegung, – kletterte unermüdlich auf und nieder. Saïdjah sah es und zwang sich, es weiter zu beobachten, weil das seinen Gedanken Ruhe gab nach der schweren Arbeit, die sie seit Sonnenaufgang verrichteten, – – Ruhe nach dem ermattenden Warten. Bald äußerten sich seine Eindrücke in Worten, und er sang, was seine Seele bewegte. Ich würde euch sein Lied lieber auf malayisch, dem Italienisch des Ostens, vorlesen, doch hier ist die Übersetzung:

»Sieh, wie der Badjing seine Nahrung sucht
Am Klapperbaum, steigt auf und ab, springt links und rechts,
Läuft um den Baum, springt, fällt, klimmt und fällt wieder:
Hat keine Flügel und ist doch wie ein Vogel schnell.

Viel Glück, mein Badjing, ich wünsch' dir Heil!
Du wirst gewiß die Nahrung finden, die du suchst – –
Jedoch, ich sitze einsam hier am Djati-Hain,
Und warte auf Nahrung meines Herzens.

Schon lang ist das Bäuchlein meines Badjings voll,
Schon lange kehrte er zurück ins Nest – –
Aber noch immer weint meine Seele
Und ist mein Herz betrübt – – Adinda!«

Noch war niemand zu sehen auf dem Pfad, der von Badur zu dem Ketapan führte – –

Saïdjahs Blick fiel auf einen Schmetterling, der sich wohl freute, weil es warm zu werden begann:

»Sieh, wie der Falter in die Runde flattert.
Die Flügel schimmern wie ein buntes Blumenbeet.
Sein kleines Herz sucht die Kenariblüte,
Sucht seine süßduftende Geliebte.

Viel Glück, mein Falter, ich wünsch dir Heil!
Du wirst gewiß finden, was du suchst –
Aber ich sitz' allein am Djati-Hain
Und warte auf das, was mein Herz lieb hat.

Schon lang hat der Falter geküßt
Die Kenariblüte, die er so sehr liebt – –
Aber noch immer ist meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt – – Adinda!«

Und es war niemand zu sehen auf dem Pfad, der von Badur nach dem Ketapan führte.

Die Sonne begann schon hoch zu stehen, – – es war schon Hitze in der Luft.

»Sieh, wie die Sonne glänzt dort oben,
Hoch über dem Waringi-Hügel!
Ihr ist zu warm, sie möchte niedersinken
Ins Meer, zu schlafen, wie im Arm des Gatten.

Viel Glück, o Sonne, ich wünsch dir Heil!
Was du suchst, wirst du gewiß finden – –
Aber ich sitz' allein am Djati-Hain
Und warte auf Ruhe für mein Herz.

Schon lang wird die Sonne untergegangen sein
Und schlafen im Meer, wenn alles dunkel ist – –
Und noch immer wird meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt sein – – Adinda!«[*]

Noch war niemand auf dem Wege zu sehen, der von Badur zu dem Ketapan führt.

»Wenn nicht länger mehr Falter umherflattern werden,
Wenn die Sterne nicht mehr glänzen werden,
Wenn die Melatti nicht mehr duften wird,
Wenn es nicht länger mehr betrübte Herzen gibt,
Noch wilde Tiere im Wald – –
Wenn die Sonne umgekehrt laufen wird,
Und der Mond vergessen, was Ost und West ist – –
Wenn dann Adinda noch nicht gekommen ist,
Dann wird ein Engel mit schimmernden Flügeln
Niedersteigen zur Erde und suchen, was da zurückblieb.
Dann wird meine Leiche hier liegen unter dem Ketapan – –
Meine Seele ist bitter betrübt – – Adinda!«

Und noch immer war niemand zu sehen auf dem Pfad, der von Badur zu dem Ketapan führte.

»Dann wird der Engel meine Leiche erblicken.

Er wird den Brüdern mit den Fingern winken:
»Seht, da ist ein gestorbener Mensch vergessen,
Sein starrer Mund küßt eine Melatti-Blüte.
Kommt, daß wir ihn aufheben und gen Himmel tragen,
Ihn, der auf Adinda gewartet hat, bis er tot war.
Gewiß, er darf hier nicht allein zurückbleiben,
Des Herz die Kraft hatte, so zu lieben!«

Dann wird noch einmal mein starrer Mund sich auftun,
Um Adinda zu rufen, die mein Herz lieb hat – –
Noch einmal werd' ich die Melatti küssen,
Die sie mir gab – Adinda – – Adinda!«

Es war niemand auf dem Pfad zu sehen, der von Badur zu dem Ketapan führte.

O, sie war gewiß gegen Morgen eingeschlafen, müde vom Wachen während der Nacht, vom Wachen durch viele lange Nächte! Sicher hatte sie seit Wochen nicht geschlafen: So war es!

Sollte er aufstehn und nach Badur gehen? Nein! Durfte es scheinen, als ob er zweifelte an ihrem Kommen?

Wenn er nun den Mann anrief, der dort seinen Büffel aufs Feld trieb? Der Mann war zu weit weg. Und überdies wollte Saïdjah nicht über Adinda sprechen, nicht nach Adinda fragen, – – er wollte sie wieder sehen, sie allein, sie zuerst! O sicher, sicher würde sie nun bald kommen!

Er wollte warten, warten – –

Aber wenn sie krank war, oder – – tot?

Wie ein angeschossener Hirsch flog Saïdjah den Pfad hinauf, der von dem Ketapan nach dem Dorfe führte, wo Adinda wohnte. Er sah nichts und hörte nichts, und doch hätte er etwas hören können, denn es standen Menschen auf der Straße am Eingang des Dorfes, die riefen: »Saïdjah, Saïdjah!«

Aber, – – war es seine Hast, seine Leidenschaft, die ihn hinderte, Adindas Haus zu finden? Er war schon weiter geflogen bis ans Ende der Straße, wo das Dorf aufhört, und wie wahnsinnig kehrte er zurück und schlug sich vor den Kopf, weil er an ihrem Haus hatte vorbeigehen können, ohne es zu sehen. Aber wieder war er am Dorfeingang, und, – – mein Gott, war es ein Traum? – – wieder hatte er Adindas Haus nicht gefunden! Noch einmal flog er zurück, und auf einmal blieb er stehen, griff mit beiden Händen an seinen Kopf, als wolle er den Wahnsinn herauspressen, der ihn umfing, und rief laut: »Betrunken, betrunken, ich bin betrunken!«

Und die Frauen von Badur kamen aus ihren Häusern und sahen voller Erbarmen den armen Saïdjah da stehen, denn sie erkannten ihn und begriffen, daß er Adindas Haus suchte, und wußten, daß es kein Haus von Adinda gab im Dorfe Badur.

Denn als der Distriktshäuptling von Parang-Kudjang den Büffel von Adindas Vater fortgenommen hatte – –

Ich hab' dir gesagt, Leser, daß meine Geschichte eintönig ist.

– – da war Adindas Mutter gestorben vor Kummer. Und ihr jüngstes Schwesterchen war gestorben, weil es keine Mutter hatte, die es säugte. Und Adindas Vater, der sich fürchtete vor der Strafe, wenn er seine Landrenten nicht bezahlte, – – –

Ich weiß es wohl, ich weiß es wohl, daß meine Geschichte eintönig ist!

– – Adindas Vater war fortgegangen aus dem Land. Er hatte Adinda mitgenommen und ihre Brüder. Aber er hatte gehört, daß der Vater von Saïdjah in Buitenzorg mit Stockschlägen gestraft worden war, weil er Badur ohne Paß verlassen hatte. Und darum war Adindas Vater weder nach Buitenzorg gegangen, noch nach Krawang, noch nach Preanger, noch in die Gegend von Batavia, – – er war nach Tjilang-Kahan gegangen, dem Distrikt von Lebak, der ans Meer grenzt. Dort hatte er sich versteckt in den Wäldern und gewartet auf die Ankunft von Pa-Ento, Pa-Lontah, Si-Uniah, Pa-Ansiu, Abdul-Isma und noch einigen anderen, die durch den Distriktshäuptling von Parang-Kudjang ihrer Büffel beraubt worden waren, und die sich alle vor Strafe fürchteten, wenn sie ihre Landrenten nicht bezahlten. Da hatten sie sich bei Nacht eines Fischerboots bemächtigt und waren in See gestochen. Sie hatten westwärts gesteuert und ließen das Land rechts von sich bis Javapunt Die Südwestspitze der Insel.. Von hier aus waren sie nordwärts gefahren, bis sie Tanah-Itam vor sich sahen, das die europäischen Seeleute Prinzeninsel nennen. Sie hatten diese Insel an der Ostseite umsegelt und dann auf die Kaiserbucht zugehalten, indem sie sich nach dem hohen Gipfel in den Lampongs richteten. Das war jedenfalls der Weg, den man leise einander zuflüsterte in Lebak, wenn über offiziellen Büffelraub und unbezahlte Landrenten gesprochen wurde.

Aber Saïdjah in seiner Bestürzung verstand nicht ganz, was man ihm sagte. Sogar den Bericht vom Tod seines Vaters begriff er nicht recht. Es war ein Dröhnen in seinen Ohren, als würde in seinem Kopf auf einen Gong geschlagen. Er fühlte, wie das Blut stoßweise durch die Adern an seine Schläfen gepreßt wurde, die unter dem Druck einer so starken Ausdehnung zu bersten drohten. Er sprach nicht, und starrte mit stumpfem Blick umher, ohne zu sehen, was um ihn war, und brach endlich in ein gräßliches Lachen aus.

Eine alte Frau nahm ihn mit in ihre Hütte und pflegte den armen Narren. Nach einiger Zeit lachte er nicht mehr so gräßlich, aber doch sprach er nicht. Nur in der Nacht wurden die Hausgenossen aufgeschreckt durch seine Stimme, wenn er tonlos sang: »Ich weiß nicht, wo ich sterben werde,« und einige Bewohner von Badur legten Geld zusammen, um den Boajas Krokodil-Art. vom Tjudjung ein Opfer zu bringen für die Genesung Saïdjahs, den man für wahnsinnig hielt. Aber wahnsinnig war er nicht.

Denn eines Nachts, als hell der Mond schien, stand er auf von der Baleh-Baleh und verließ ganz leise das Haus und suchte nach der Stelle, wo Adinda gewohnt hatte. Es war nicht leicht, die zu finden, weil so viele Häuser eingestürzt waren. Doch er schien den Platz zu erkennen an der Weite des Winkels einiger Lichtlinien zwischen den Bäumen, auf die sein Auge traf, – wie der Seemann Peilung nimmt von Leuchttürmen und hohen Berggipfeln.

Ja, da mußte es sein, – – da hatte Adinda gewohnt!

Strauchelnd über halbverfaulten Bambus und über Teile des niedergestürzten Dachs bahnte er sich seinen Weg nach dem Heiligtum, das er suchte. Und wirklich, er fand noch ein Stück der aufragenden Wand, an der Adindas Baleh-Baleh gestanden hatte, und es steckte in der Wand noch der Bambuspflock, an den sie ihr Kleid hängte, wenn sie sich schlafen legte – – –

Aber die Baleh-Baleh war eingefallen wie das Haus und beinah zu Staub vermodert. Er nahm eine Hand voll davon und drückte das an seine geöffneten Lippen, und atmete sehr tief – –

Am nächsten Tag fragte er die alte Frau, die ihn gepflegt hatte, wo der Reisblock war, der auf dem Hof von Adindas Haus gestanden hatte? Die Frau freute sich, als sie ihn sprechen hörte und lief im Dorf herum, um den Block zu suchen. Als sie den neuen Besitzer Saïdjah nennen konnte, folgte dieser ihr schweigend, und als sie ihn zu dem Reisblock gebracht hatte, zählte er daran zweiunddreißig eingeschnittene Kerben – – –

Da gab er der Frau soviele spanische Matten, als nötig waren, um einen Büffel zu kaufen, und verließ Badur. In Tjilang-Kahan kaufte er ein Fischerboot und kam damit nach ein paar Tagen Segelfahrt an die Lampongs, wo die Aufständischen sich gegen die niederländische Macht zur Wehr setzten. Er schloß sich einer Schar Bantamer an, nicht so sehr, um zu kämpfen, als um Adinda zu suchen. Denn er war weichen Gemüts und neigte mehr zur Trauer als zur Bitterkeit.

Eines Tages, als die Aufständischen aufs neue geschlagen worden waren, irrte er in einem Dorf herum, das eben durch die holländische Armee erobert worden war und also in Brand stand. Saïdjah wußte, daß die Schar, die da vernichtet worden war, größtenteils aus Bantamleuten bestanden hatte. Wie ein Spuk glitt er durch die Häuser, die noch nicht ganz verbrannt waren, und fand die Leiche von Adindas Vater mit einer Klewang-Bajonettwunde in der Brust. Neben ihm erblickte Saïdjah die drei ermordeten Brüder Adindas, Jünglinge, beinahe Kinder noch, und ein wenig weiter lag die Leiche von Adinda, nackt, abscheulich mißhandelt – –

Es war ein schmaler Streifen blaue Leinwand eingedrungen in die klaffende Brustwunde, die langem Kampf ein Ende gemacht zu haben schien – –

Da lief Saïdjah ein paar Soldaten entgegen, die mit gefälltem Gewehr die letzten überlebenden Aufständischen in das Feuer der brennenden Häuser trieben. Er umfaßte die breiten Säbelbajonette, preßte sich vorwärts mit aller Kraft, und drängte mit einer letzten Anstrengung noch die Soldaten zurück, als die Schäfte gegen seine Brust stießen.

Kurze Zeit darauf war in Batavia großer Jubel über den neuen Sieg, der den Lorbeeren der niederländisch-indischen Armee wieder so viele neue Lorbeeren hinzugefügt hatte. Und der Generalgouverneur schrieb nach dem Mutterland, daß die Ruhe in den Lampongs wieder hergestellt sei. Und der König von Holland belohnte auf den Bericht seiner Staatsdiener hin wiederum so vielen Heldenmut mit vielen Ritterkreuzen.

Und wahrscheinlich stiegen aus den Herzen der Frommen in der sonntäglichen Kirche oder Betstunde Dankgebete zum Himmel empor, als sie hörten, »der Herr der Heerscharen« habe wiederum mitgekämpft unter dem Banner der Niederlande.

— — —

Ich habe mich gegen Ende von Saïdjahs Geschichte kürzer gefaßt, als ich es hätte tun können, wenn mir die Schilderung des Gräßlichen Freude machen würde. Der Leser hat bemerkt: Bei der Beschreibung des Wartens unter dem Ketapan hielt ich mich auf, als zögerte ich vor der traurigen Entwicklung, und über diese glitt ich schnell mit Abscheu hinweg. Und doch war das meine Absicht nicht, als ich mit der Erzählung von Saïdjah begann. Anfangs fürchtete ich, zu stärkeren Farben greifen zu müssen, um den Leser mit der Schilderung der entsetzlichen Zustände zu packen, aber bald fühlte ich, daß es eine kränkende Zumutung für mein Publikum wäre, wollte ich noch mehr Blut in meine Geschichte bringen.

Und doch hätte ich es tun können! – – Vor mir liegen Akten, die, – – – doch nein, lieber ein Geständnis.

Jawohl, ein Geständnis! Ich weiß nicht, ob Saïdjah eine Adinda liebte, nicht, ob er nach Batavia ging, nicht, ob er in Lampong mit niederländischen Bajonetten ermordet wurde. Ich weiß nicht, ob sein Vater unter den Geißelhieben zusammenbrach, die man ihm verabreichte, weil er Badur ohne Paß verlassen hatte. Ich weiß nicht, ob Adinda die Monde zählte mit Kerbschnitten an ihrem Reisblock – – –

Das alles weiß ich nicht!

Aber ich weiß mehr als das alles. Ich weiß und kann beweisen, daß es viele Adindas gab und viele Saïdjahs, und daß, was im einzelnen ein Märchen ist, im allgemeinen Wahrheit wurde. Ich sagte bereits, daß ich die Namen derjenigen aufzählen kann, die, wie die Eltern von Saïdjah und Adinda, vor der Knechtung außer Landes flohen. Ich habe hier nicht Zeugnis abzulegen vor einem Tribunal, das über Niederlands Herrschaft in Indien zu Gericht sitzt, ich habe hier nicht Anklageakten zu liefern, die mit Geduld und anstrengender Aufmerksamkeit durchgearbeitet werden müßten, wie man es von einem Leser, der in seiner Lektüre Zerstreuung sucht, nicht erwarten darf. Darum habe ich an Stelle dürrer Dienstnotizen und langer Diebstahls- und Erpressungslisten eine Skizze von dem entworfen, was armen Menschen geschehen kann, denen man raubt, was sie zur Erhaltung ihres Daseins brauchen.

Aber man möge mich nur rufen! Man möge mich beweisen lassen, was ich schrieb! Man möge mir nur sagen: »Du hast Deinen Saïdjah erfunden! Er sang nie dieses Lied! Es wohnte nie eine Adinda in Badur!«

Ist denn das Gleichnis vom barmherzigen Samariter eine Lüge, weil vielleicht niemals ein beraubter Wanderer in eines Samariters Haus aufgenommen wurde? Ist die Parabel vom Sämann eine Lüge, weil kein Landmann die Saat auf steinigen Boden werfen würde? Oder, um ein Beispiel anzuführen, das meinem Buche besser ähnelt, will man die Wahrheit leugnen, die aus »Onkel Toms Hütte« spricht, weil vielleicht eine Evangeline in Wirklichkeit niemals existiert hat? Will man der Verfasserin dieser unsterblichen Anklage, – unsterblich nicht wegen ihres literarischen Wertes, sondern wegen ihrer Absicht und wegen ihrer Eindrücke, – will man Harriet Beecher-Stowe zurufen: »Du hast gelogen, die Sklaven werden nicht mißhandelt! – Dein Buch enthält eine Unwahrheit, es ist ein Roman!« Mußte nicht auch sie, anstatt einer Aufzählung trockener Tatsachen, eine Dichtung geben, die diese Tatsachen umkleidet, um auf diese Weise stärker auf die Herzen wirken zu können? Würde man ihre Anklagen gelesen haben, wenn sie sie in Form von Prozeßakten veröffentlicht hätte? Ist es ihre Schuld oder ist es meine, daß die Wahrheit, um Einlaß zu finden, so oft das Kleid der Lüge borgen muß?

Und jene, die vielleicht behaupten, ich habe Saïdjah und seine Liebe idealisiert, muß ich fragen, woher sie das wissen können. Nur wenige Europäer achten es der Mühe wert, sich um die Empfindungen der Kaffee- und Zuckerwerkzeuge, die man »Eingeborene« nennt, zu bekümmern. Aber selbst, wenn ihre Behauptung berechtigt wäre, ein solcher Beweisversuch gegen den Zweck meines Buches würde mir den größten Triumph bereiten! Denn das hieße ja, das Übel, das ich bekämpfe, bestünde nicht oder mindestens nicht in so hohem Maße, weil der Eingeborene nicht wie Saïdjah ist. Die Mißhandlung des Javaners ist nicht so schlimm, wie sie wohl sein könnte, wenn ich Saïdjah richtiger porträtiert hätte. Der Sundanese singt nicht solche Lieder, liebt nicht so und empfindet nicht so, also folglich – – –

Nein, Herr Kolonialminister, nein, ihr Herren Generalgouverneure in Pension, nicht das haben Sie zu beweisen! Ihnen liegt der Beweis ob, daß die Bevölkerung nicht getreten wird, ohne Rücksicht darauf, ob sich darunter ein paar sentimentale Saïdjahs befinden oder nicht. Oder wollen Sie etwa behaupten, man könne Büffel stehlen von Leuten, die nicht lieben, die keine schwermütigen Lieder singen, die nicht sentimental sind?

Wenn ich in literarischer Beziehung angegriffen werde, will ich die Zuverlässigkeit meiner Schilderung von Saïdjah verteidigen, aber mit der politischen Beurteilung hat das absolut nichts zu tun. Es ist mir völlig gleichgültig, ob man mich für einen talentlosen Schreiber hält oder nicht, sofern man nur zugibt, daß der Mißbrauch, der mit der Bevölkerung getrieben wird, »weitgehend« ist. Denn dieses Wort steht in den Aufzeichnungen des Vorgängers von Havelaar, und diese Aufzeichnungen liegen im Original vor mir.

Jedoch ich habe noch andere Beweise, denn auch Havelaars Amtsvorgänger kann sich geirrt haben.

Aber wenn er sich irrte, so wurde er für diesen Irrtum hart bestraft, denn er wurde ermordet!


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