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XXV.

Das war der letzte Abend, den die Leute von Karlsdorf gemeinsam verbracht haben, an dem sie sich noch als eine starke Einheit fühlten in Leib und Freud, an dem sie sogar noch lachten.

Zwischen der majestätischen Donau, diesem Urweltstrom, der durch das Herz Europas rauscht und die Wasser der deutschen Alpen bis an die Küste von Asien hinspült, und der tückisch schleichenden, ewig bohrenden Theiß lag ihre Welt, lagen ihre Gräber und ihre Zukunfshoffnungen. Immer war Krieg bei ihnen, jedes Kolonistenjahr zählte doppelt in diesem gesegneten und ständig bedrohten Stück Erde. Und jetzt hatten sie wieder einmal eine große Schlacht verloren.

Erst am zweitnächsten Tage war der Klugsbaltzer mit dem Peterl heimgekehrt von seiner Rundfahrt, und es folgten ihm Helfer von überall. Aber auch sie konnten das Unheil nicht mehr abwenden. Die Ereignisse vollzogen sich wie nach einem vorbestimmten Verhängnis.

Der Donaudamm hatte zuerst einen Bruch bekommen. Aber der Komitatsingenieur Stepan mit den dreihundert Männern aus Josefsfeld besiegte die Gefahr. Und es eilten ihm zwei Kompagnien Pioniere zu Hilfe, die den Damm in seiner ganzen Ausdehnung besetzten und hüteten. Die Josefsfelder hatten zwei Tote zu beklagen, ehe die Hilfe kam.

In nervöser Überreizung, in einer Art Verzweiflung war der Oberstuhlrichter nach Karlsdorf geeilt. Und kaum hörte er von den Verlusten an Menschenleben, wollte er auf dem äußeren Theißdamm jede Arbeit verbieten. Er sei verantwortlich, rief er den Karlsdorfern zu, denen am Spitz schon drei Männer waren fortgespült worden; er befehle ihnen, die Arbeit einzustellen. Sie hörten nicht auf ihn. Wie ein brandendes Meer tobten dort die Fluten, und der Südwind peitschte sie über die Köpfe der Arbeiter hinweg. Nur mit Gendarmen könne man sie von da wegholen, ließen sie ihm sagen.

Der Vizegespan, Herr von Tallianffy, kam ebenfalls. Und er hieß den Oberstuhlrichter schweigen, als dieser seine Autorität anrief. Er begriff, was diese Männer verteidigten, und warum sie nicht weichen wollten. Der Klugsbaltzer berichtete ihm über die Lage, so gut er's vermochte; seinen Neffen Gergely aber, der unablässig auf den Oberstuhlrichter einredete, übersah er. Und während Herr von Tallianffy da auf dem zweiten Damm stand, inmitten all der erdeschaufelnden und karrenschiebenden Bauern, gellte auf einmal ein Schrei des Entsetzens aus hundert Kehlen durch die Luft, und alle Hände deuteten nach einer Richtung. Dort rückwärts war der äußere Damm gebrochen, während er vorne, beim Spitz, mit Löwenmut verteidigt wurde. Kaum drei Fuß breit war der Riß, durch den das lehmige gelbe Wasser plötzlich hereinbrach und von der Dammhöhe in die Riedfelder niederrauschte. Aber die Lücke wurde im Nu doppelt so groß und ein Bach sauste hindurch. Jetzt kam das Unheil, jetzt mußten die inneren Dämme ihre Widerstandskraft beweisen.

Herr von Tallianffy war ganz bleich geworden. »Dort wäre dein Platz!« herrschte er seinen Neffen an, den er bisher keines Blickes gewürdigt hatte. »Dort! Dort!«

Aber schon waren die Karlsdorfer herbeigeeilt. Der Entsetzensschrei der Zuschauer riß sie zum Äußersten fort. Der riesige Straubmichel und die beiden Haffner stürzten sich ohne Besinnen in die Lücke und boten dem Wasser die Brust. Männer und Buben in bunter Reihe folgten ihnen; sie bildeten eine doppelte, eine dreifache Mauer, und füllten die Lücke mit ihren Leibern. Das Wasser schäumte an ihnen empor, zerstob über ihren Köpfen, aber es kam nicht mehr hindurch. Da sanken sie unmerklich tiefer; man fühlte, wie das Wasser unter ihren Füßen das Erdreich wegfraß; schon war nur mehr der Kopf des Straubmichel zu sehen, und ein kalter Schauer ging durch die Seelen von Hunderten.

»Sie ertrinken alle!« schrie der Oberstuhlrichter.

Aber die ersten Sandsäcke waren schon da und wurden rasch vor ihnen versenkt; die Männer setzten die Füße drauf. Und so kam Sack um Sack, und ihr Grund wurde sicherer. Man schlug Pflöcke vor ihnen ein und legte Baumstämme dazwischen, füllte die Lücken mit Erdsäcken, und die flinken Dorfbuben brachten biegsame junge Weiden aus den Auen herbei und flochten sie als Wand in die Pflöcke. Nach einer Stunde konnten die Männer ihre Todeskette wieder lösen. Einige mußten mit Slibowitz gelabt werden, viele erbrachen erst jetzt das grausliche Wasser, das sie geschluckt hätten.

Eine Tat war vollbracht. Man hatte wieder Zeit gewonnen. Und Herr von Tallianffy ritt auf einem Bauerupferd durch die aufgeweichten, in dem trüben Wasser ertrinkenden Saatfelder hinüber zum äußeren Damm, um den Tapferen die Hände zu schütteln.

Ganz durchnäßt kam er zurück. Man hatte ein Telegramm für ihn gebracht, und er las es hastig. »In Budapest beginnt die Donau schon zu fallen!« rief er.

»Da steigt sie hier noch dreißig Stunden,« sagte der Klugsbaltzer betrübt. »An uns muß alles vorüber!«

»Mut, Herr Richter, Mut, wir müssen es zwingen! Ihre Leute sind Helden!« sprach der Vizegespan.

Und er begab sich von Gruppe zu Gruppe, von Damm zu Damm; belobte, eiferte an und griff selbst zu, wo er einen Erschöpften traf. So befeuerte er den Mut und die Zuversicht der Leute, und dabei versprach er dem Richter für die Zukunft jedwede Förderung. Das sei der letzte Kampf, den sie auf solche Weise zu führen hätten. Er werde dafür sorgen.

Das glättete manche Zornesfalte, das richtete manches zaghafte Gemüt wieder auf.

* * *

Indessen ereignete sich im Dorfe selbst allerlei. Eine lange Wagenkette bewegte sich auf der Straße gegen Josefsfeld hin; die daheimgebliebenen Greise retteten, was zu retten war. Das Brot wenigstens sollte in Sicherheit sein.

Der Oberlehrer Heckmüller aber hatte die jungen Mädchen aufgerufen zur Schanzarbeit. Die Frauen mußten in allen Häusern Brot backen für die vielen hundert fremden Männer draußen und für die Soldaten; die Mädchen aber besaßen keine Aufgabe in der allgemeinen Not. Heckmüller gab ihnen eine solche. Sie kamen mit Schaufeln und Schiebkarren, fuhren Erde und Hölzer herbei, nähten Sandsäcke und füllten sie, gruben ganze Krautfelder um, ohne zu fragen, wem sie gehörten, und stampften sie zu einem Schutzdamm zusammen, den ihr Oberlehrer ersonnen. Er hatte niemanden an der Hand, der ihn belehrte; er holte sich sein Wissen aus dem Lexikon und aus einem vergessenen alten Hilfsbuch des Franz.

Die Mädchen glaubten nicht recht an eine so große Gefahr, aber sie kamen alle. Auch die Liszka und ihre Genossinnen von der Schandbank des Dorfes durften Erde führen und den Dammkörper feststampfen. Da mußten sie nicht zurückstehen wie in der Kirche und auf dem Tanzboden, da ließ man sie gelten. Und heller Jubel brach los, als die Liszka am dritten Tag doppelt anfuhr, als sie einen Mann mitbrachte, der alsbald für drei arbeitete. In einem grünen steirischen Lodenanzug mit Kniehosen und hohen Wadenstrümpfen, ein rundes Hütchen mit Stoß auf dem Kopfe, so war der junge Mann angetreten, dem ein kleiner blonder Schnurrbart die Oberlippe bedeckte. »Ihr Bruder Lajos!« sagten die einen. »Jessas, der Herr Kaplan!« riefen die anderen. Und sie behielten recht, es war Stefan Michlbach.

Heiter und frohgemut ging er einher, er war aus der Kutte gesprungen. Und lachend trat er in die Reihen der Erdarbeiterinnen. Er hatte nie einen Mädchenblick gescheut, und sie fühlten es alle, daß er ein Hallodri war, ein Luftikus. Jetzt kam er als Bräutigam der Liszka. Und gleich fiel ihm ein Scherzwort von der Lippe, das Flügel bekam. Er wolle auch mithelfen am Jungferndamm, sagte er, und hier alle seine Sünden abbüßen. Und die Schwabenmädchen gingen ein auf seinen Scherz und nahmen ihn, wie er sich gab. Sie stimmten sogar Spottlieder an bei der fröhlichen Arbeit.

Die Sonne brannte heiß, und die Wasserdämpfe ballten sich zu schweren Wolken zusammen über der kochenden Erde. Sie trugen vielleicht neues Unheil in ihrem Schoß, und doch lechzte Mensch und Tier nach einer Lösung der Spannungen.

Auch das Pfarrhaus wurde langsam von der allgemeinen Aufregung des Dorfes ergriffen. Der Pfarrer schaffte fort, was ihm besonders wichtig erschien; die Pfarr- und Matrikelbücher wanderten zunächst zu dem Herrn Amtsbruder nach Josefsfeld. Und sorgfältig verwahrt manches andere, ihm persönlich Wertvolle. Und auch die Klarinéni war in nicht geringer Erregung. So mancher ihrer heimlichen Gläubiger war in Gefahr zu verarmen. Und jetzt hatte sich auch noch der Herr Vizegespan zu Tisch angesagt. Sie sollte ihn endlich bei sich sehen, den Mächtigen, auf dessen Bürgschaft hin sie dem Gergely Tausende geliehen. Vielleicht konnte sie ein bescheidenes Wort darüber anbringen, daß der Herr Neffe ein recht säumiger Zahler sei. Nicht einmal die Zinsen seien eingegangen im letzten Halbjahr. Darüber kann man sich doch beim Herrn Bürgen beschweren.

Sieh da, die Frau von Gergely!

»Hab schon lange nit die Ehr' g'habt, sehr lange nit,« begrüßte sie die Klarinéni spitzig. »Was bringen Sie mir, Liebste?«

Der blassen kleinen Frau verschlug es die Rede bei dieser vieldeutigen Grußformel. Was sollte sie denn bringen außer ihrem kummervollen Herzen. Ihre Aufopferung für die Juliska war hier rasch vergessen, wie es schien. Oh, warum hat sie doch damals, nach dem großen Erfolg, wie die Juliska so lange mit dem Grafen draußen geblieben war, nicht den Mund aufgemacht und geredet. So dumm war sie, so verängstigt; sie hatte nicht den Mut, und jetzt war es wohl zu spät. Die ihr helfen konnte, war nicht mehr hier.

Aber jetzt mußte sie reden. Und kostete es auch die Ehre und die Zukunft – sie mußte.

Doch es ging nicht. Nein, nein, es ging nicht.

»Ich will heute nicht stören. Sie haben ja Gäste …« stotterte sie. »Nur kein Wort … Bitte, liebste, gnädigste Klarenéni, edle Wohltäterin, sagen Sie nur kein Wort, daß wir im Rückstand sind. Der Onkel wäre bitterbös. Mein Mann wird gewiß Oberingenieur werden, wenn alles gut ausgeht; er kommt ins Komitat, und dann sind wir bald in Ordnung. Bitte, bitte, nicht verklagen!«

In flehendem Tone, halblaut, geängstigt, sagte sie das alles, und die Klarinéni wurde stutzig. Ihr schien, als ob da etwas nicht in Ordnung wäre. »Gut, gut, ich will noch warten,« sagte sie gedehnt. »Aber in solchen Zeiten muß jeder an das Seine denken.« Und sie sagte das mit dem Hinterhalt, die Gelegenheit, an das Ihre zu denken, heute wahrzunehmen, so gut es sich fügen wollte. Der Herr Onkel sollte nur wissen …

Die verhärmte kleine Frau von Gergely küßte der prallen, feisten Pfarrersköchin, die sie ihr im tiefsten Grunde ja doch nur war, die beiden Hände und eilte wieder heim zu ihren Kindern.

Noch einmal gerettet! Es mußte noch nicht gesagt werden, was der unselige Mann getan.

* * *

»Nur noch sechzehn Stunden kann das Wasser der Donau steigen!« sagte man sich bei Sonnenuntergang dieses schwersten Tages. Dann wird man die Pioniere und die Josefsfelder mit vereinter Kraft gegen die Theiß aufbieten können, »dann kommt Ablösung!« seufzten schon viele der Karlsdorfer.

Blutigrot sank die Sonne hinter eine grauschwarze Wolkenwand. So plötzlich war sie dahin, als ob sie der Hand des Herrn entfallen wäre und nimmer wieder käme. Es herrschte eine unheimliche Stille in den Lüften. So ruhig war es, daß man selbst die Stimme der Theiß hörte, die sonst nur gluckste und gurgelte. Es war ein Reiben und Mahlen, als ob eine unsichtbare Weltenmühle in Tätigkeit wäre, die Sand und Erde zerrieb. Ein tückischer Urlaut des Elementes, für dessen Wiedergabe noch kein Vokal gebildet wurde. An das Geheul der Donau war man längst gewöhnt, dieser Ton aber war neu. Ein Ungeheuer rieb und fraß und nagte dumpf und gleichmäßig hinter dem Damm.

Jetzt aber hob sich der Wind, ein schweres Gewitter zog herauf. Die ersten Blitze knatterten, und der Donner rollte. Es kam von jenseits der Donau, aus den slawonischen Bergen und warf sich mit elementarem Ungestüm in die Ebene. Wie rasend geworden heulte der Sturm dahin, bildete Wirbel und Wasserhosen, die sich wie Riesensäulen zum Himmel erhoben und alles mitrissen, was in ihren Kreis geriet, Mensch und Tier, Wagen und Pferde.

Das Gewitter der Ebene! Nichts ist so furchtbar, als seine Macht. Frei, ohne Schranken toben die Elemente, und nichts widersteht ihnen.

Blitz auf Blitz krachte nieder, wie umgekehrte Raketen, die der hinter den Wolken nach der Erde schießt. Wie glühende Donnerkeile zischten die Schläge in die unabsehbare Wasserfläche. Alles duckte sich hinter die Dämme oder legte sich flach zur Erde; keiner wollte ein Hindernis sein gegenüber solchen Gewalten. Hoch oben, wie Orgelklang im Weltendom, rollte und hallte der Donner. Und endlich prasselte der Regen nieder, wie von Furien gepeitscht, wie aus zerspellten und geborstenen Wolken. In wilden Stößen, als ob der Sturm immer erst Atem schöpfen müßte zu neuen Taten, tobte das Wetter. Und jede Sturzflut warf ein paar Männer nach rückwärts über den Damm, kopfüber flogen sie in die Pfützen. Die Nacht war rabenschwarz, alle Lichter verlöschten, und man sah sich nur, wenn es blitzte. Wie viele schon fehlen mochten? Niemand wußte es. Keiner hatte mehr einen Ton in der Kehle, man war heiser geschrien und müde bis auf den Tod.

Nach Mitternacht hatte das Wetter sich ausgetobt, es war die Theiß hinaufgezogen, dem Wasser entgegen; das Donnerrollen klang immer dumpfer und ruhiger. Aber ein Rauschen und Sausen lag in der Luft, das man vorher nie vernommen.

War es ein Dammbruch?

Fast stumpfsinnig horchten die Männer.

Der Haffnersjörgl, dem der Vater von der Seite fortgespült worden war wie ein Stück Holz, und der Straubmichel wollten den Grund des seltsamen Geräusches erforschen. Sie tasteten sich an der inneren Dammböschung vorsichtig weiter in der Dunkelheit und kamen dem Lärm immer näher und näher. Nach einer Jochlänge stießen sie auf den nächsten Querdamm, den Grünzeugdamm, auf dem die Wagen in langer Reihe standen und die müden Gäule schnauften, die auch diese Sturmnacht ohne Schutz verbracht hatten. Und von da ging es weiter in den Lärm hinein. Der Mond trat aus den Wolken, und die beiden Männer sahen das Furchtbare bestätigt, das sie ja ahnten. Weit droben war der Damm gebrochen, dreimal gebrochen, und die Wasser sausten in Sturzbächen in die Tiefe.

Jetzt war es aus … Wie lange konnte es dauern und die drei Bruchstellen waren eine einzige. Es konnte sich nur mehr darum handeln, die inneren Dämme zu halten und das Dorf selbst zu schützen.

Einer Ohnmacht nahe krochen sie wieder zurück bis zum Grünzeugdamm.

Die Pioniere sollten her! Doch wie weit waren die! Ehe eine Botschaft sie erreichte, war es wohl zu spät. Achtzig tote Pferde hatte man schon gezählt in dieser fürchterlichen Woche. Wer hat noch eines, das laufen kann? Der Klugspeterl, der unter seinem Wagen auf dem Grünzeugdamm die Nacht verbracht hatte, erbot sich, zu Fuß hinüber zu laufen. Er kenne alle Wege, und der Mond scheine ja auch. »In Gottesnamen, Büberl, lauf, lauf!« rief der Jörgl ihm zu. »Nur die Pioniere können noch helfen!«

Als der Morgen graute war noch kein Peterl da und kein Pionier. Und es wäre auch zu spät gewesen. Die Theiß, der die Donau so hartnäckig die Gastfreundschaft versagte im eigenen Bett, hatte einen anderen Weg gefunden. Jetzt sah man es mit Grausen. In einem kilometerbreiten Strom ergoß sie sich seitwärts nach dem Karlsdorfer Gebiet, schon waren wohl zehntausend Joch Feld unter Wasser. Die inneren Dämme erwiesen sich als zu nieder und zu schwach.

Dem Stromingenieur Gergely hatte in der allgemeinen Verwirrung seine Frau einen Brief oder ein Telegramm geschickt, eine Botschaft, die ihn erblassen machte, aber niemand kümmerte sich mehr um ihn, alles eilte zu den Wagen, es gab nur noch den Rückzug in das Dorf. Viele Männer heulten beim Anblick ihrer Felder; andere fluchten; die meisten aber waren stumm geworden.

Während auf dem Grünzeugdamm alles einspannte und aufbrach, viele zu Fuß vorauseilten, stieg die Sonne strahlend aus den Wassern empor. Sie war wiedergekommen, aber sie beschien eine andere Landschaft als gestern noch; so muß sie über dem Chaos geleuchtet haben am ersten Schöpfungstag …

In der Ferne sah man auf einem noch aus der Flut herausragenden Damm einen einzelnen Menschen stehen, der die Arme zum Himmel hob und winkte und winkte. Der Ton seiner Stimme reichte wohl nicht so weit, seine Rufe hörte man nicht.

Abgeschnitten! Ohne Rückweg!

Wer konnte da helfen? Alles floh heimwärts.

Jörgl erkannte die Umrisse der Gestalt – es war des Richters Peter. O du armer, braver Junge! Er hatte ihn gehen lassen, er hatte ihn geschickt. Und er mußte ihn auch retten.

Schon war sein Wagen eingespannt, mit dem er heimkehren wollte, ohne den Vater heimkehren wollte … Ihm graute vor der Fahrt, vor dem Ende dieses Tages. Haus und Hof kann man wieder aufbauen, aber der Vater kam nicht wieder. Und wie wird sie es tragen, die Mutter, die kaum Genesene? Mochten sie alle Eile haben, heimzukommen, er hatte keine.

Rasch waren seine müden Gäule wieder ausgeschirrt, und er schwang sich auf den einen und ritt mit ihnen ins Wasser. Es reichte den Pferden zuerst nur bis an den Leib, aber es stieg und stieg, und bald mußten sie schwimmen. Peterl schien frohgemut, er warf den Hut in die Luft, juchzte und fing ihn wieder mit den Händen auf. Er merkte, daß es ihm galt, was da geschah. Die Flut ging reißend von den Dämmen herunter, und die müden Tiere konnten kaum noch rudern, als sie in die Strömung kamen. Aber der Jörgl redete ihnen freundlich zu und klopfte ihnen zärtlich die Hälse, bis sie an der Dammböschung anlangten und wieder Boden unter die Füße bekamen. Da schnauften sie aus. Und Peterl stieg auf das zweite Pferd.

Der Klugsbaltzer war mit dem frühesten aufgebrochen, um hinauszufahren zu seinen Leuten. Auch im Dorfe war die Sturmnacht schrecklich, und der Kirchenvater hatte die Wetterglocke läuten lassen, wie sonst nur bei allerschwersten Gewittern. Man ahnte daheim dunkel, daß es die Schicksalsnacht war. Und daß sie es war, das sah der Richter jetzt. Er begegnete nur Flüchtlingen und sah nur Wasser. »Umkehren!« »Es ist alles vorbei!« riefen ihm die heiseren Männer zu.

Er kehrte nicht um. Er wollte heute gern der Letzte sein. Und jetzt rief ihm einer zu, daß sein Peterl noch weit draußen wäre, mitten im Wasser.

Und er sah die ferne, kleine Gestalt … Und er sah auch den Hut fliegen und sah den nahenden Retter.

Jörgl brachte ihm den Sohn zurück.

Mächtig erschüttert schloß der Klugsbaltzer seinen Jüngsten in die Arme. Dieser aber war ganz munter und erzählte, daß der Herr Pionierhauptmann sich empfehlen lasse, er dürfe den Donaudamm nicht verlassen, sonst sei alles verloren.

Es war alles verloren …

Als erster war der Dorfrichter mit den beiden Haffner vor einer Woche hinausgefahren, als letzter fuhr er jetzt heim, aber der Platz neben ihm war leer – sein Gevatter fehlte. Und sechs andere Männer waren verschollen!

Und sie waren alle umsonst gestorben.

Es war eine stumme, traurige Heimfahrt. Und das Wasser folgte ihnen. Nicht stürmisch, nicht wild und tödlich, denn es kam nicht der Fluß, es war nur Stauwasser, das dem Dorfe zutrieb. Langsam anschwellend, aber greifbar sich nähernd, still und schleichend kam die Theiß hinter ihnen her. Es war gar nicht nötig, daß sich neuerlich der böse Südwind hob und das Wasser vor sich her peitschte, damit es nur ja früher ins Dorf käme als der Richter und der tieftraurige Haffnersjörgl. Die Keller standen daheim ohnehin schon unter Wasser, die Mauern zahlreicher Häuser waren unterwaschen und aufgeweicht von dem endlosen Regen – sie werden jetzt alle einstürzen und Hab und Gut der Ärmsten unter sich begraben. Doch was lag schließlich an dem Dorf und an den Häusern, die man wieder aufbauen konnte. Waren doch ihre Fluren verschlammt und versandet, die sie alle ernähren und erhalten sollten, war doch die Ernte vieler Jahre dahin und aller Glaube an den Bestand der Gemeinde.

Welch ein Jammer! Welch ein tausendfältiges Leid! Hatten sie diese Heimsuchung verdient?

Träne um Träne rollte still und unbemerkt über die gebräunten Wangen des Klugsbaltzer, und er wußte wohl selbst kaum, daß er sie vergoß, so tief war er verloren in Gedanken. Er war sich keiner Schuld bewußt, keiner Unterlassung. Wenn von Schuld gesprochen werden durfte, dann lag sie ganz woanders … Oder war man vielleicht zu weichmütig geworden und zu vertrauensselig in dem Menschenalter, das keine Heimsuchung mehr gebracht hatte? Ein anderes Regiment mußte beginnen, ein neues, starkes Kolonistengeschlecht erzogen werden; auf niemand durfte man künftig bauen als auf die eigene Kraft. Inmitten der halborientalischen Faulheit und Nichtsnutzigkeit, von der man umringt war, und in die man selber zu versinken drohte, wenn man abließ von der Väter Art und Sitte, von der Väter Tüchtigkeit und Redlichkeit – da mußte man seiner Sendung bewußt bleiben und durfte den Schwabentrotz und den Schwabenmut nicht sinken lassen.

Kopf auf, mag auch die Sintflut kommen!

Die große Überraschung der Heimkehrenden war der Jungferndamm. Und er hielt stand, er trotzte der schleichenden Schlammflut, die ihn umspülte.

Verdruß und Ärger mischten sich bald in die seltsame Überraschung. Zum erstenmal hatte der alte Heckmüller etwas schlecht gemacht Was fiel ihm denn ein?

Das Wasser kam, aber es drang nicht in die tiefer liegenden krummen Gassen der Kleinhäusler und Handwerker, wie nach Anno 1868; nein, es kam durch die Hauptstraßen herein und lief den Großbauern zuerst in die Höfe und Scheuern. Der Übereifer eines alten Idealisten hatte eine gleiche Schicksalslinie hergestellt zwischen den Kleinen und den Großen.

Es gab Wutanfälle im Dorfe. Am liebsten wäre man ausgezogen, den unbestellten Damm zu zerstören. Aber der Klugsbaltzer hielt die Leute zurück. Ihm gefiel diese Tat. Und es blieb ja für alle Wasser genug, auch für die kleinen Leute des Dorfes.

Drei Tage stieg das Wasser nur langsam und allmählich, man konnte bergen und retten. Dann aber mußte ein letzter, innerer Dammbruch erfolgt sein, denn das Wasser kam in Wellen daher, stürzte durch Türen und Fenster und warf Mauern um. Weiber und Kinder flüchteten, in den Ställen brüllte das Vieh in Todesnöten und konnte nicht überall befreit werden. Im Pfarrhof und Schulhaus, Gemeindehaus und Großen Wirtshaus, in der Kirche selbst drängten sich die Flüchtenden zusammen. Nur fünfzehn Häuser im Mittelpunkt blieben unversehrt, dreihundert stürzten ein oder waren doch für lange unbewohnbar.

Zu Hunderten kampierten die Menschen im Freien, Dampfschiffe kamen und führten sie fort; man teilte sie indessen auf in andere Gemeinden. Und eine Gruppe von Verzweifelten hatte sich gebildet, die den Ruf ausstieß: »Auf, nach Amerika!« Als ihr Leidensschiff sie die Donau aufwärts trug, befand sich unter ihnen allen nur ein glückliches Menschenpaar: Die Liszka und ihr Freund. Die Heimat gönnte ihnen kein eheliches Band, aber dort drüben frug wohl niemand darnach, wer sie waren.

Wie auf einer Insel lebten die Zurückgebliebenen, und man erfuhr endlich, daß der Gergely nicht heimgekehrt war zu den Seinen …

Als das Wasser zu sinken begann, umschlichen die Auswanderungsagenten wie die Hyänen das Dorf, und zu ihnen gesellten sich übereifrige patriotische Sendlinge. Die einen hofften auf ein fettes Geschäft, die anderen lauerten auf größere Beute – sie warteten auf den Beschluß der Gemeinde, sich aufzulösen. Da war dann Raum für eine nationale Siedelung auf Staatskosten im Mittelpunkt deutschen Lebens. Aber die einen und die anderen fielen ab mit ihren Hoffnungen und Wünschen.

Wohl löste sich die Gemeinde auf für einen Sommer, nur wenige Familien konnten zurückbleiben. Aber nach Amerika wollte keiner, dem noch ein Stück Feld gehörte unter dem Schlamm der Theiß. Und hätte er sein Vätererbe mit den Fingern aus diesem Schlamm hervorgraben müssen, preisgab er es, nicht.

Als Knechte und Mägde mußten sich viele verdingen, als Schnitter in die großen Schwabendörfer gehen, um sich das Brot zu verdienen für dieses verlorene Jahr. Dann aber, wenn die Wasser dieser Sintflut wieder abgelaufen waren, dann wollten sie alle, alle wiederkommen und ihr Lebenswerk von vorne beginnen. Sie waren nicht niederzuringen, die Schwaben von Karlsdorf, weder durch die Menschen, noch durch die Elemente.

Und ehe sie auseinander gingen, hielt ihnen der Pfarrer noch ein feierliches Hochamt, versammelte er die Gemeinde noch einmal um sich zu einer Predigt. Der alte Heckmüller, der ja nur vom Schuldienst enthoben war, spielte die Orgel. Der Klugsbaltzer aber hatte dem Pfarrer die Bitte vorgetragen, daß nach Schluß des Gottesdienstes, zum Abschied, das Schwabenlied in der Kirche gesungen werden dürfe. Der Pfarrer las den Text aufmerksam durch und gewährte die Bitte.

Die Jugend sang das Lied, die Alten kannten es noch nicht. Aber als die feierliche Schlußstrophe wiederholt wurde, da erhoben auch sie ihre Stimmen und sangen tief erschüttert mit:

O Heimat, deutschen Schweißes stolze Blüte,
Du Zeugin mancher herben Väternot,
Wir segnen dich, auf daß dich Gott behüte,
Wir stehen getreu zu dir in Not und Tod.

Nie haben die Glocken der Heimat so erhaben in ihnen allen geläutet wie in dieser Scheidestunde, nie war ihnen ihr blühendes Dorf so teuer wie das vielgeprüfte, das zerstörte.

* * *


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