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II.

Vor dem Hause des Haffnerslippl spielten zwei Kinder im Schatten der Maulbeerbäume, hinter denen die grünen Fensterläden hervorlugten. Und auf der mehrstufigen schmalen Steintreppe, die zur Eingangstür einporführte, saß eine stille Frau und sah ihnen zu. Die Kinder waren ihre Enkel, frühe Enkel; denn die Frau Bärbl sah noch nicht nach einer Großmutter aus. Eine Magd hatte die Kinder hierhergebracht und sie im Schutze dieser stillen Bäuerin gelassen, während sie selbst wieder im Hause verschwand, um ihren Arbeiten nach zugehen. Es waren Zwillingskinder, ein Bub und ein Mädel, blauäugig, blond und prall wie die Blasengel auf alten Kirchenbildern. Sie saßen auf einer braunen Pferdedecke, und in einem Korb, der neben ihnen stand, befand sich allerlei hölzernes Spielzeug, wie es von den slowakischen Händlern von Dorf zu Dorf getragen und als »Spirelei! Spirelei!« ausgerufen wird. Die Kinder warfen es um die Wette aus dem Korb heraus und wieder hinein, lachten und freuten sich ihrer Kunstfertigkeit.

Kalt und teilnahmlos ruhten die Augen der Großmutter auf ihnen. Und auch die kühnen Versuche des kleinen Hansl, sich am Rand des Korbes zu erheben und auf den feisten Strampelbeinchen zu stehen, weckten keinen wärmeren Strahl in ihren wasserhellen grauen Augen. Es war, als ob sie die Kinder gar nicht sehe, als ob ihre Seele weitab irrte.

So mancher Bauer fuhr vorüber und rief ihr einen Gruß zu; sie hörte es nicht. Jetzt kam auch der Straubmichel des Weges und bot ihr einen »Gute Marja Morgen, Bas' Bärbl!« Sie schien ein klein wenig betroffen von seiner hellen Stimme und nickte. Der Michel aber hatte keine Zeit, sich weiter um sie zu bekümmern, denn er trug auf jeder seiner Schultern eine leichte, schmale Leiter, und hinter ihm liefen ein paar barfüßige Buben her, mit denen er sich unterhielt. Jeder von ihnen hatte ein Körbchen unterm Arm, und als sie jetzt an der Bas' Bärbl vorbeikamen, riefen sie sämtlich »G'lobt sei's Chrischt!« Auch auf diesen hellen Kindergruß erfolgte nicht der landesübliche Dank »In Ewigkeit!« sondern nur ein leises, stummes Nicken des Kopfes.

»Daß d'r nier uf kan Baam im Dorf steigt,« sagte der Straubmichl zu seinen Begleitern, die begehrlich nach den zwei großen Haffnerschen Maulbeerbäumen auslugten. »Sau Sau, gesprochen wie sa-u = so long sau schei's Wedder isch, holt ihrs Laab so weit als möglich. Die Bauern sei' froh, wenn die Beem uf der Landstraß' so früh wie möglich abgelaabt werde, d'rmit ihre Felder koin Scheede keinen Schatten häwe. Weih dem, der ohne Laater uf an Baam steigt und Äscht' abbricht. Und wer in die Karnfelder geiht und Wachtelneschter sucht, dem reiß' ich die Ohre aus.' Lacht nitta! Ich schlaa' euch die Knoche darch, wann ich ei Klag' heer. Und die Laatern trag' ich euch nar heunt 'naus, die werde im Zaun beim Klugsbaltzer sei'm Wingert Weingarten ufg'hobe. Vun dart holt ihr se immer selwer. Äwer niemals aaner alloin. Ihr müscht immer euer zwaa sin. Ich werd' euch's heunt weise, wie m'r's macht.«

So redend schritt der Straubmichl mit großen Schritten die Gasse hinab, und der Schwarm der kleinen Seidenzüchter trippelte hinter ihm her. Einige von ihnen wußten schon vom vorigen Jahre Bescheid in allem. Die Bäume im Dorf durften nur abgelaubt werden, wenn es tagelang regnete, oder ganz zuletzt, wenn die »Seidewärm« schon groß und immer gefräßig waren, wenn sie Tag und Nacht gefüttert sein wollten. Dann war keine Zeit, meilenweit auszulaufen um Laub. Bis man es heimbrachte, war es halb welk. »Und die Ludersch wolle partu nar frisches Laab,« predigte ihnen der Herr Gemeinde-Ausbrüter, Michael Straub, der wohlbestallte Nährvater aller Seidenraupen des Dorfes, der sich auf sein gewähltes Deutsch, das er beim Militari gelernt hatte, nicht wenig zugute tat.

Die Schritte und die Stimmen der Laubsucher waren noch nicht verhallt, als auf der anderen Seite der Gasse die Gestalt einer herrischen Frau auftauchte und auf das Haus zukam. Es war die Frau Oberlehrer. Sie hatte kleine Einkäufe beim Kaufmann Jellinek gemacht, und ihr Weg führte sie hier vorbei. Da konnte sie es nicht unterlassen, ein wenig nach der Frau Haffner zu sehen. Ihre schlanke Gestalt und ihr freundliches, glattes Gesicht nahmen sich in dem hellen, bequemen, städtischen Morgenkleid und unter dem breiten gelben Strohhut recht vornehm aus. Sie ließen die Frau Heckmüller auf den ersten Blick auch viel jünger erscheinen, als sie war.

»Guten Mogen, liebe Frau Haffner,« rief sie schon, als sie noch in der Mitte der Straße war, und winkte ihr mit dem Sonnenschirm.

Frau Bärbl horchte auf und sah starr nach der Erscheinung. Dann erhellten sich ihre Züge, und sie erhob sich. Die Frau Oberlehrer drückte ihr die Hand und nötigte die Bäuerin, sich wieder niederzusetzen. Dann rief sie in den Hof:

»Resi! Resi! – Bring' mir einen Stuhl. Ich will der Bas' Bärbl ein bisserl G'sellschaft leisten.«

»Jjoo!« erscholl es aus dem Hofe und alsbald erschien die Resi mit einem schön geblumten alten Bauernstuhl und stellte ihn mit einem breiten, schämigen Lächeln neben die Steintreppe, auf deren mittlerer Stufe die Bäuerin saß. Die Resi war derb und stark, und aus ihren sechzehnjährigen braunen Augen sprühte das Leben. Aber sie redete kein Wort. Über und über rot war sie geworden, daß ihr die Frau Oberlehrer »Danke schön!« sagte. Sie putzte mit einem Zipfel ihrer blauen Schürze rasch die Nase der kleinen Liesel und zog sich wieder ins Haus zurück.

»Ich habe gestern gehört, daß Sie wieder zu Hause sind, liebe Frau Haffner. Mein Mann hat es voll Freude erzählt. Daß Sie nicht krank sind, und nur Ruhe brauchen, habe ich mir ja gleich gedacht.«

Frau Bärbl blickte der Sprecherin aufmerksam in das freundliche Gesicht. Man merkte, daß sie jedes Wort verstand, aber sie antwortete nicht. Sie nickte, lächelte trübe und wehrte mit der Rechten ein wenig ab. So, als wolle sie nicht zugeben, daß sie nicht krank sei.

»Na ja, ich weiß schon, wo es fehlt. Darüber alterieren Sie sich nur nicht. Das kommt von selbst wieder. Mein Gyuri ist einmal von einem Apfelbaum gefallen, und ich bin so erschrocken, daß ich einen halben Tag kein Wort hab' reden können. Ich war in Verzweiflung. Aber da hat mein Mann den kleinen Spitzbuben, dem gar nichts geschehen war, zu mir gebracht, ihn mir in den Arm gelegt und mich schön gestreichelt und lieb gehabt, und langsam ist meine Stimme wiedergekommen. Und der Sachen – wie heißt sie doch nur? – der Frau Gärtner in Neudorf ist es auch einmal so gegangen, die hat drei Tage nicht reden können. Wir Mütter nehmen alles zu schwer. Es geht mit den Kindern immer alles besser aus, als wir befürchten.«

Ein dankbarer Blick traf die Frau Oberlehrer.

Es tat der Frau Bärbl augenscheinlich wohl, daß man so gütig und verständig mit ihr redete. Ihre Leute im Hause hatten ja keine Zeit, sich so recht mit ihr zu beschäftigen. Und auch nicht das Verständnis. Das erste Erstaunen darüber, daß sie die Sprache verloren hatte, war wohl groß. Aber man gewöhnte sich daran. Und als sie nach Wochen stillen und lauten Jammers keine Tränen mehr hatte und in Trübsinn verfiel, da schaffte man sie einfach nach Temesvar »in die Beobachtung«. Sie fühlte, daß es gut gemeint war, aber die Angst, die Angst … In den Stunden ungetrübten Bewußtseins, in denen sie wußte wo sie war, nahm sie all ihre Kräfte zusammen, um bei den Ärzten einen guten Eindruck zu machen. Und gerettet hat sie ein guter, alter Doktor, der immer so lieb auf sie einredete, der sogar schwäbeln konnte. Er gab sie sogleich frei, als ihr Mann nachfragen kam.

»Herr Vetter,« sagte er zu Haffner, »des isch a' Schlagerle ein Schlaganfall g'west, die Frau isch im Kopp ganz g'sund. Wird scho' besser werde!«

Und jetzt saß sie wieder daheim, aber es wollte nicht anders werden, nicht besser. Sie war unnütz in Haus und Hof, sie konnte ihre Gedanken nicht zusammenhalten, nichts unternehmen, denn auf halbem Wege vergaß sie immer, was sie wollte. Und ihre Zunge war gelähmt. Sie konnte, wenn sie sich zusammennahm, jedem Gespräch eine Weile folgen, dann aber begann wieder die Flucht ihrer Gedanken, und alles, was weiter geredet wurde, ging an ihr vorbei. Und Antwort geben konnte sie nicht. Wie eine Verzweifelte stand sie im Anfang vor jeder Frage, eine wahre Angst befiel sie jedesmal, wenn sie Auskunft geben sollte, wie es denn in Szegedin gewesen wäre. Und sie erwartete auch jetzt diese selbstverständliche Frage mit Schrecken. Aber sie kam nicht. Frau Rosa Heckmüller war eine gar gescheite und taktvolle Frau. Und sie wandte sich jetzt den Enkelkindern zu, die sich da unbedankt um die Wette bemühten, ihre ersten Gehversuche rings um den Korb mit dem Spielzeug zu machen. Die Großmutter sah es nicht, und die junge Bäuerin, die Mutter der Kinder, wird wohl erst am nächsten Sonntag entdecken, daß ihre Zwillinge laufen können. Die Susi stand von früh bis spät mit ihrem Manne draußen im Feld und sah ihre Kinder nur immer schlafend. Es gab zu viel zu schaffen zu dieser Jahreszeit.

»Schauen Sie doch die lieben Kinder an!« rief Frau Rosa der Bäuerin zu. »Wie der Hansl stolz ist, wie er schaut, ob man's auch merkt, daß er schon Schritte machen kann … Na, Liesl, hoppla, steh nur auch auf – ja, ja, probier's nur … es geht nicht? Ei, schäm' dich vor dem Hansel.«

Und während Rosa Heckmüller so mit den Zwillingen redete, beobachtete sie verstohlen die Frau Haffner. Sie blieb ganz teilnahmlos und starrte ins Leere. Das war schlimm. Waren es auch nicht ihre eigenen Enkelkinder, Großmutter hieß sie ihnen doch, und Kinder waren es, liebe, gesunde, hilflose Kinder, die lechzten nach einem guten Wort von ihr. Die verlorene Frau, die ganz und gar in einen rätselhaften Schmerz versunken zu sein schien, konnte auch kein Schutz sein für diese lebhaften Kleinen, die ihre ersten Gehversuche machten. Und es war wohl besser, man rief die Resi herbei und ließ die Kinder in den Hof hineinbringen.

Ehe Frau Rosa zu einem Entschluß kommen konnte, war sie dieser Sorge auch schon enthoben, denn ein Wagen rollte rasch heran gegen das Haustor und in demselben saß Philipp Haffner, der Großbauer. Er nahm Leitseil und Peitsche in die Rechte und griff mit der Linken grüßend nach dem Hut. Dann hielt er mit beiden Händen die Pferde, erhob sich auf seinem Sitz und rief über das Brettertor hinweg:

»Reeesi!«

»Jjooh!« erscholl es wieder im Hofe, und alsbald öffneten sich die beiden Torflügel; der Bauer fuhr ein. Auch Frau Bärbl war aufmerksam geworden und blickte nach ihrem Manne. Nicht ganz so fremd wie nach den Kindern, merkte die Frau Oberlehrer.

Auf dem leeren Wagen des Bauern hatte Frau Rosa ein Bündel grober Säcke gesehen, und auch an seinem gewählteren Anzug erkannte sie, daß er in der Stadt gewesen sein mochte, auf dem Markt. Er hatte offenbar Weizen oder Korn verkauft, hatte sich Bargeld ins Haus geschafft zu dieser Jahreszeit, wo dies sehr rar war im Dorfe. Wohl ihm, daß er so lange warten konnte mit dem Verkauf des vorjährigen Weizens. Im Frühling hat alles einen besseren Preis.

Philipp Haffner, der Haffnerslippl, hatte mit Hilfe der Resi ausgespannt, sich die Pfeife angesteckt und kam jetzt wieder hervor aus dem Hofe. Sein wettergebräuntes hageres Gesicht mit den dunklen Augen unter buschigen Brauen nahm den freundlichsten Ausdruck an, dessen es fähig war, als er die Frau Oberlehrer begrüßte. Er war ein stolzer Bauer und ein weltläufiger Mann. Er hatte Pest und Wien gesehen, war auf den »Landboten« verabonniert und galt viel in der Gemeinde. Auch die Herrischen schätzten ihn. Er verkehrte gern mit ihnen, und seitdem seine ältesten Söhne erwachsen waren und er sich ein wenig schonte, hatte er auch mehr Zeit für diesen Verkehr als ehedem. Die beiden Söhne aus seiner ersten Ehe, der Jörgl und der Hannes, waren schon fertige Bauern, seine Tochter hatte sich kürzlich auch verheiratet, und so hätte er ganz gemächlich mit seiner Bärbl, die er als Vierziger noch ehelichte, leben können, wenn sie ihm nicht auf so unerwartete Weise krank geworden wäre. Sie hatte wenig mitbekommen, die Bärbl, sie war eines Kleinbauers sechstes Kind. Und seine Kinder aus erster Ehe machten schiefe Gesichter, als er die neue Frau heimführte. Sie fürchteten eine weitere Vermehrung der Familie, eine Schmälerung ihres Erbes. Und das bedeutet im bäuerlichen Leben gar viel. Jede Zerstückelung des Besitzes in allzu viele kleine Teile ist eine Gefahr für den Fortbestand der Familie, und so mancher reiche Bauernhof ist an seinem Kindersegen verarmt. Gesetze zum Schutze des Bauernstandes gibt es in Ungarn nicht, nur die Überlieferung hält den Stand aufrecht. Jeder Bauer kann machen, was er will, er ist unbeschränkter Herr seines Besitztums.

Der Haffnerslippel brachte einmal ein Buch nach Hause, in dem zu lesen stand, daß die Schwaben in Deutschland nicht ihre ältesten, sondern ihre jüngsten Söhne zu Erben von Haus und Hof einsetzen, damit der Vater recht lange regieren und den Herrn spielen könne. Das las der Bauer immer wieder seinen Söhnen vor, und sie zitterten schon, daß es ihn gelüsten könnte, das nachzumachen, wenn die Schmiedsbärbl ihn mit Kindern beschenken sollte, mit Söhnen. Aber er hatte dieses Buch wohl zu spät entdeckt, seine ersten Söhne waren nicht mehr jung genug, daß er sie ein Handwerk hätte lernen oder studieren lassen können, sie waren schon für den Bauernstand erzogen. Und als dann richtig noch ein kleiner Bruder kam, verschärfte sich die Stimmung im Hause bedenklich. Die zweite Frau des Vaters sah nur verdrossene Gesichter, und ihr Mutterglück war allen lästig. Der kleine Lippl sollte wohl gar einmal Bauer werden? Der Vater sprach sich in keiner Weise aus, er ließ den Dingen ihren Lauf und erfreute sich an dem Gedeihen seines Jüngsten. Als die Frau aber zum zweiten Male guter Hoffnung war, da fand er es nötig, um des lieben Friedens willen, seinen älteren Kindern die Versicherung zu geben, daß die Kinder der zweiten Ehe sämtlich aus dem Hause kommen sollen. Die Welt brauche ja auch Lehrer, Notäre und »Phaffa« Pfarrer, sagte er ihnen. Und schon, als der kleine Lippl fünf Jahre zählte, gab er ihn nach Szegedin. Der kleine Schwabe sollte dort beizeiten Ungarisch lernen, damit er dann gleichmäßig aufsteigen könne in der Volksschule. So riet der Herr Pfarrer. Der Herr Oberlehrer Heckmüller war anderer Meinung. Er sagte, das Kind solle die vier Volksschulklassen daheim in seiner Muttersprache durchmachen und dann, gefestigt in seinem Familiengefühl und in seinem Deutschtum, in die Mittelschule gehen. Das nötige Ungarisch werde er ihm schon beibringen. Aber der Oberlehrer stand im Rufe eines Idealisten, eines halben Dichters, und der Rat des Pfarrers erwies sich beim Haffnerslippl als gewichtiger.

»Ihr Sohn wird nicht vorwärts kommen. Er wird nicht drei Sprachen auf einmal lernen können, und Sie werden immer in den Vakanzen einen Repetenten im Hause haben. Das setzt nur Verdruß und Ärger. Lassen Sie ihn zuerst einen Ungar werden, dann wird er leicht fortkommen« so redete der Pfarrer.

Und das befolgte der Haffnerslippl. Die Frau Bärbl, der das zweite Kind, ein Mäderl, gestorben war, wehrte sich vergeblich dagegen. Mitzufahren konnte sie sich nicht entschließen, als der Tag gekommen war. Weinend übergab sie das Kind ihrem Manne, und er brachte es nach Szegedin. Ihr Herz krampfte sich zusammen, aber sie wollte tapfer sein und ihren Lippl ein Jahr lang nicht sehen. Wenn sein Glück auf diesem Wege lag, dann mußte sie's tragen, daß er so früh von ihr ging. Und der Bub freute sich unbändig auf das Leben in der Stadt.

Tief verdrossen kam ihr Mann am nächsten Tage zurück. Sie konnte lange nicht aus ihm herausbringen, was ihm wäre. Und sie gab sich zufrieden mit dem Gedanken, daß er das Kind eben auch schwer vermisse. Sie suchte ihn sogar darüber zu trösten. Sie sah ja längst ein, daß ihre Söhne nicht auch Bauern werden konnten. Und der Pfarrer hatte gewiß den besten Rat gegeben. Die Stiefgeschwister mochten den Buben ja doch nicht … Philipp Haffner schüttelte oft den Kopf. Der Bub ging ihm ab, er fehlte ihm überall. Und nach vielen Wochen erst, als die ersten Briefe über ihn gekommen waren, machte er seiner Frau ein Geständnis. Der Direktor der Anstalt hatte ihn überredet, den Kleinen durch vier Jahre nicht nach Hause zu nehmen und auch nicht zu besuchen. Er werde jeden Monat berichten über ihn, es werde dem Kinde sehr gut gehen. Aber für einen vollen Erfolg seiner nationalen Erziehungsmethode könne er nur bürgen, wenn man ihm das Kind vier Jahre ungestört überlasse. Das täten jetzt zahlreiche schwäbische Eltern. Sein Bub' gefalle ihm riesig, das werde einmal ein großer Ungar werden. Aber den Grund dazu müsse man beizeiten legen.

»Schlagt ein, Vetter Philipp,« sagte der Direktor, »und gebt es mir schriftlich, daß Ihr Euren Sohn freiwillig hier laßt, bis nach der dritten Volksschulklasse.« Und der Vetter Philipp unterschrieb einen Revers, den man schon vorbereitet hatte.

Frau Bärbl war namenlos bestürzt, als sie das jetzt erfuhr. Aber sie mußte auch das tragen. Sie wurde nur immer blässer und einsilbiger. Die Reue ihres Mannes, daß er sich hatte überreden lassen, äußerte sich in einer tiefen Verstimmung, und er konnte es lange nicht verwinden, daß seine Frau so sehr darunter litt. Aber allmählich zog der Friede wieder ein, das Kind war ja in guten Händen, und die große Wirtschaft forderte ihr Recht. Der älteste Sohn, der Jörgl, heiratete, der zweite war zum Militär eingerückt, und für ihn mußte der Vater wieder eintreten in Haus und Hof. Er blieb im Familienhaus wohnen und räumte den Platz noch nicht dem jungen Bauer. Das hatte gute Weile. Der Jörgl sollte nur ein paar Jahre im Vorbehalthaus der Großeltern über dem Hof drüben hausen. Seine Zeit werde schon kommen.

Und so ging bald alles wieder im altgewohnten Geleise.

»Des is äwer schei, Frau Oberlehrerin, daß Ihr meine Frau amol haamsuche tut,« sagte Haffner und kam auf die Gruppe zugeschritten. »Wollt 'r nit ei' bissl nei' kumme ins Haus?«

»Danke schön, Herr Haffner, ich muß gleich heimgehn, sonst kriegt mein Mann heute kein Mittagessen. Ich wollte nur sehen, wie's der Bas' Bärbl geht.«

»Na,« erwiderte er und legte seine breite Linke – mit der Rechten hielt er die Pfeife – behutsam auf die Schulter seiner Frau, »es geiht jo veel besser. Gelt, Bärbl, 's werd' schun wieder gut werde?«

Er blickte seine Frau an, und sie sah dankbar zu ihm auf. Ein Lächeln wollte sogar um ihre Lippen herum hervorbrechen, aber es traute sich nicht.

»Die Hauptsache ist, daß Ihr Geduld habt, Eure Frau schön pflegt und sie nicht aufregt,« sprach Frau Heckmüller.

»Freilich, freilich. E guter Krischt muß m'r sin un uf Gott vertraue.«

»Was habt Ihr für Nachricht aus Szegedin?«

»Von Szegedin redde m'r lieber nit,« flüsterte schnell der Bauer und warf der Sprecherin einen warnenden Blick zu. Dann aber fuhr er bedächtig fort: »'s geiht dem Lippl ausgazeichnet. In drei Monat hol ich 'n.«

»Ach das ist eine gute Nachricht. Er kommt also endlich heim in den Ferien? Das muß ich meinem Mann erzählen. Der wird sich auch freuen.«

»Freilich kimmt er haam,« erwidert breit und mit gekünsteltem Behagen der Bauer, hatte aber dabei seine Frau fortwährend scharf im Auge. Sie zitterte; ein paar Schweißperlen traten auf ihrer Stirn hervor.

»Er muß doch wieder wisse, daß er zu uns g'hört, der kloi' Betyar. Gell Bärbl? M'r wern's ehm schun saage, gell?«

Wie zu einem kranken Kinde sprach der rauhe Mann und wieder traf ihn ein dankbarer Blick seiner Frau. Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen, aber es kam kein Ton hervor. Die Frau Oberlehrer verfolgte den Vorgang mit Erstaunen, und sie verstand auch das, was unausgesprochen blieb. Ihre Vermutungen, denen sie schon dem Pfarrer gegenüber Ausdruck gegeben, bestätigten sich also. Die Arme mußte etwas erlebt haben, dem ihr Inneres nicht gewachsen war.


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