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IX.

Auch im Pfarrhause gab es Kokons abzuliefern nach Neusatz an die Seidenfabriken. Es war nicht viel geworden aus der Unze Samen, den der Pfarrer übernommen hatte, denn alle pfuschten mit bei der Fütterung und Pflege der Tiere, die Juliska, der Kaplan, die Klarinéni. Am besten waren sie noch versorgt, wenn der Pfarrer selbst sich ihrer annahm. Es verdroß ihn nur, daß er dabei nicht rauchen sollte. Diese neue Botschaft hatte der Herr Kaplan ihm gebracht; es war die Weisheit der Wielandsliszka. Und die galt etwas in diesem Falle. Der Pater Istvan schwärmte ja für ihre Seidenzucht. Die Juliska, die auch immer gern eine Zigarette im Munde hatte, sollte zuletzt auch nicht mehr rauchend das Zimmer betreten dürfen, in dem die Zucht untergebracht war. Sie lachte nur dazu. Ihr weiblicher Instinkt witterte hinter der Schwärmerei des Kaplans das Interesse für das Mädel und nicht für die Seidenzüchterin. Sie hatte nur einen unbewachten Blick aufgefangen, damals beim Kaufmann Jellinek, und sie erwartete mit voller Sicherheit den Tag, an dem ihr geistlicher Hausgenossen unter irgendeinem Vorwand mit der »schönen« Liszka in Verkehr treten würde. Sie täuschte sich nicht, der Tag kam. Und sie behandelte den Pater, mit dem sie früher gern geflirtet hatte, jetzt eisig kalt. Er merkte es wohl, doch er stellte sie nicht zur Rede, er ließ es sich gefallen. Das bestätigte nur ihre Vermutungen, und es reizte sie.

Na, wenn der Bácsi davon Wind bekam! In solchen Dingen verstand er keinen Spaß.

Aber was ging das sie an? Sie langweilte sich tödlich in dem »Nest« und schmiedete schon Pläne für den Winter. Der Kaplan spielte in diesen Plänen aber keine Rolle. Ihre Leidenschaft war das Theater. In Preßburg hatte man sie als Pensionärin des Klosters ängstlich ferngehalten von dem Stadttheater, das vor ihren Fenstern lag, hier aber sollte das niemandem gelingen. Temesvar war nicht weit … Sie wird die Mammi schon dafür gewinnen.. War nicht der Baron Simonyi entzückt von ihrem Vortrag? Wer weiß …

Die Seidenernte des Pfarrhauses war durch den Kaplan zum Schlusse doch noch gerettet worden, und die Klarinéni wußte ihm Dank dafür. Wenn es auch nur ein oder zwei Kilo waren, und wenn sie auch nur dreißig Frank für das Kilo erhielt, es war leicht verdientes Geld. Sie ließ den Straubmichl rufen, er sollte für sie liefern gehen. Er fuhr ja so oft nach Neusatz.

Und er kam. Der Kaplan zeigte ihm alles, überzeugte ihn, daß die Kokons reif waren, und übergab sie ihm. Er hatte sie genau so hergerichtet, wie die Liszka die ihren, und der Michel schmunzelte, als er das merkte.

»D'r Herr Kaplan hot was galernt von mein'r Braut,« sagte er.

»Von –!«

»Joo … Sidder gescht seid gestern is die Liszka mei' Braut,« sagte er breit und behaglich.

Dem Kaplan war, als hätte ihn wer auf den Kopf geschlagen. Der also war es? Zu dem stieg sie herab, um der Schande zu entgehen? Stotternd entgegnete er: »Da wü-ünsch ich Ihnen Glück, Herr Straub.«

»Dank schön. Des werd von selber kumme mit so ei'm brave Weib.«

Pater Istvan sah in forschend an. Wußte er oder wußte er nicht? Hatte sie seine Bedingung erfüllt? Der Mann sah ihm zu zufrieden aus, zu beglückt.

»Und weiß man's schon im Dorfe?«

»Ah, naa. Die Liszka will noch eh'nder wallfahrte geihn. Sie is gar frumm.«

»Das ist recht. Und wann wollt ihr denn heiraten?«

»Glei' druf werd g'heiert. Mir wer'n den Herrn Pfarrer halt um an Dischpens bitta.«

»Wenn es sein muß,« sagte achselzuckend der Kaplan. Jetzt wußte er, daß seine Bedingung erfüllt worden war.

Der Straubmichl zwinkerte halb pfiffig, halb verlegen: »Jo – es hot halt Eil'.«

»So so! So so!« sprach der Kaplan und sah den Mann starr an. Beinahe hätte er gelacht. Der nahm das also auf seine Kappe. Er wollte sogar ihn, den Kaplan, glauben machen … Na ja, freilich! Für den Straubmichl wäre die Liszka gewiß zu haben gewesen ohne dieses Malheur. Ausgerechnet für ihn war sie aufgeblüht in ihrer ganzen blonden Schönheit. So ironisierte Pater Istvan den Mann in Gedanken. Aber es gefiel ihm, daß der Michl seine Rolle so gut spielte, daß er sich so breit vor den guten Ruf seiner Braut stellte.

»Und wann geht die Liszka wallfahrten?« fragte er leichthin.

»Am Dunnerschtag. Sie will aus Buß' – Hochwürde versteihn mich schun – uf Maria Schnee; hin und z'rick will se zu Fuß geihn. Ich häb mitwolle, äwer sie leidt's nit. Allaan will se sein.«

»Lassen Sie ihr den Willen, lieber Herr Straub, sie tut recht.«

»Dank schön, Herr Kaplan … Na, und die Kokons wer' ich halt abliefere. Ich wer s' ehna schun ufschwätze für die erscht Klass'. Die Bas' Klari soll zufriede sei' mit mer. G'lobt seis Chrischt, Hochwürde.«

So ging der Straubmichl mit seinem Körbchen Kokons aus dem Pfarrhaus. Er ging heim zu seiner Mutter.

Die war seit einigen Tagen ganz still geworden; sie redete nicht ungefragt mit ihrem Sohn, sie grollte ihm. Wie ein kleiner Bub' war er vor ihr gestanden, als er ihr alles sagte, und sie fuhr gar mächtig auf. Nie und nimmer werde die alte Straubin so eine Schwiegertochter in ihr Haus nehmen, sagte sie. Und ob er sich denn als Mann nicht in die Haut hinein schäme, so einen Schritt zu tun, fragte die Mutter. Sogar mit der Auswanderung drohte sie. Zurückt nach Josefsfeld wolle sie gehen, wo sie noch einen Bruder und eine verheiratete Tochter hatte, wenn der Sohn ihr das antue. Denn sie stammte aus dem Nachbardorf und war protestantisch. Ihre Heirat mit dem Straub aus Karlsdorf zählte zu den so seltenen Mischehen zwischen evangelischen und katholischen Schwaben, und die geborene Gertrud Ulmer war nicht übergetreten, sie war augsburgisch geblieben. Der Sohn wurde katholisch, die Tochter evangelisch getauft, und diese hat wieder hinüber geheiratet in das Heimatsdorf der Mutter. Jeden Sonntag ging sie mit dem Mädel hinüber zum Gottesdienst, und drüben fand sie auch den Schwiegersohn. Sie war dort nicht unwillkommen; der Michel solle nur ja nicht glauben, daß sie bei ihm bleiben müsse.

Wie ein Gewitter hatte das getobt ein paar Tage lang. Der Michel schwieg und kränkte sich. Er aß nichts mehr, rauchte nicht, kam ganz von Kräften. Da schwieg auch endlich die Mutter. Das konnte sie tun, reden und zanken brauchte sie ja nicht, aber nachgeben wird sie gewiß nicht. In ihr Haus kommt die Wielandsliszka keinesfalls. Der dumme Bub'! War er darum dreißig Jahre alt geworden, daß er sich von so einer fangen ließ?

Der Michel hätte sich die Haare ausraufen können, daß er seiner Mutter die volle Wahrheit gesagt hatte. Zu spät erkannte er, daß das gar nicht nötig gewesen wäre. Was braucht eine Mutter so etwas zu wissen? Und zurück konnte er nicht mehr. Das Mädel lag ihm schon lange im Sinn; nur getraut hatte er sich nie, daran zu denken, daß sie ihn nehmen möchte. Alles lebte auf in ihm, als er merkte, daß sie ihm geneigt war; ein Fieber fiel ihn an, und er konnte nicht mehr von ihr lassen. Sollte er sie deshalb preisgeben und verachten, weil ein Schuft sie betrogen hat? Mögen andere darüber anders denken, er wollte nichts davon hören. Und wissen tut es ja nur einer. Wenn der davon redet, schlägt er ihn nieder.

Aber die Mutter? O, das schmerzte ihn. Aber seitdem er mit der Liszka in Neusatz war, einen ganzen Tag mit ihr allein, seitdem war auch das überwunden. Wie sie alle sich nach dem Landmädel umgeschaut haben, die Beamten, die Offiziere, die französischen Seidenfabrikanten – an jedem Finger könnte sie einen »Herrn« haben, wenn sie wollte, und doch wählte sie ihn, den einfachen Straubmichl. Mochte die Mutter trutzen, mochte sie auswandern zur Schwester; ihm war jetzt alles gleich. Und da die Liszka meinte, daß er nach der Hochzeit zu ihr ziehen solle, war ja auch alles anders. Man konnte der alten Mutter ihren Frieden lassen, sie brauchte nicht auszuwandern, wenn sie nicht wollte.

Und seitdem alles klar war, was zu geschehen habe, kehrte sein Humor wieder zurück. Er konnte und wollte sein Glück nicht verbergen.

Die alte Straubin sah es mit Staunen. Er aß heute ganz vergnügt sein Mittagbrot. Sie aber kleidete sich daraufhin resolut an, um nach Josefsfeld zu gehen und mit der Tochter ihre Zukunft zu besprechen.

Der Michl merkte gleich, als sie voll Mißbehagen die Prünellschuhe, die sie immer trug, gegen Lederschuhe vertauschte, was sie vorhabe. Er blinzelte ihr zu und lächelte sie an. Aber sie übersah ihn. Er redete ihr zu Gehör, daß es doch nicht zu verachten wäre, wenn man künftig zwei Häuser besäße und wohnen könnte, wo man wollte.

Da lachte die Straubin auf, daß das Schlagwerk der alten Schwärzwälderin zu rasseln und zu summen begann.

»Die alt' Wielandin gitt deer er Haus? Maanscht? Dem Bankert werd' sies gäwe und du konnscht d'r 's Maul abwische, du Hans Narr du!« sagte sie schneidend und band sich ihr schwarzes Kopftuch unterm Kinn. Sie war fertig. »In mei Haus kimmt nar a brav's Mädscha, des schaffe gelernt hot. Koi Putzgredl mit aner zuwag. Des is met letscht' Wart.«

Der Michel blieb ruhig und gelassen und stopfte sich seine Pfeife nach Tisch.

»Ich loss' die Kathl halt schön grüßa, und wann die Hochzeit is, werd je schun noch erfahre,« sagte er. »Mei Motter, des könnt 'r ehr sage, konn in dem Haus wohne, sau lang se lebt. Ich geih am Hochzeitstag fart und kimm nimmei.«

»Nimmei?« rief die alte Straubin entsetzt und starrte ihren Sohn an.

»Nimmei ‚« sagte dieser und wendete sich nach der Tür. »Sau an Dickkopp wie die Motter hot der Suhn halt aa.«

Und damit verließ er die Stube. Die alte Straubin aber zog wieder ihre geliebten Prünellschuhe an, als er draußen war.

* * *

Früher als die Sonne war die Liszka aufgestanden, um ihre Bußfahrt anzutreten. Es herrschte schon Leben in den Bauernhöfen; das Vieh wurde gefüttert, die Wagen aus der Scheuer in den Hof geschoben‚ geschmiert und zur Ausfahrt vorbereitet, aber die Gassen lagen noch einsam da und leer. Die Hähne krähten, die Schwalben orgelten und tremolierten wie im Halbschlaf auf ihren Nestern in den Hausgängen. Da trat Liszka aus der Tür ihres Hauses und schritt das Gäßl hinauf gegen die Kirche hin. Sie war dunkel, ohne alle Hoffart gekleidet, hatte keine Farben auf sich ‚ nur ihre Wangen blühten im Rahmen des schwarzseidenen Kopftuches, und ihr Blondhaar quoll an den Schläfen ein wenig hervor. Ihre Mädchenhaftigkeit, die ihr gebot, ohne Kopftuch zum Altar des Herrn zu pilgern, hatte sie abgelegt; sie ging wie eine junge Bäuerin ihren Weg. Und an Stelle ihres mit Silber beschlagenen Gebetbuches hatte sie das bescheidene alte der Mutter genommen. Ein Rosenkranz war um das Gelenk ihrer Rechten geschlungen, und so ging sie ernsten, festen Schrittes dahin. Sie bekreuzte sich dreimal, als sie das Haus verließ und besprengte sich ein wenig mit Weihwasser. Und schon vor der Kirche schlug sie wieder ein Kreuz und betete im Weiterschreiten ihr erstes Vaterunser. Ihr Blick streifte flüchtig die Front des Pfarrhauses. Die grünen Fensterläden waren sämtlich geschlossen, nur an dem kleinen Anbau, in dem immer der jeweilige Kaplan wohnte, stand ein Fenster offen. Sie kam am Gemeindehaus, am »Großen Wirtshaus« vorüber, und alles lag noch in tiefem Schlaf. Das »Große Wirtshaus!« Die Liszka wendete den Blick ab von dem Schauplatz aller Tanzfreudigkeit und Weltlust, wo die Kirchweih und der Fasching, die Maitänze und die spätherbstlichen Feste vor Kathrein die Dorfjugend zusammenführten, wo auch sie ihrem jungen Blut erlegen war. Vortänzer war der Matz, und sie hatte ihm den Kirchweihstrauß auf den Hut binden dürfen; den ersten Reigen durfte sie mit ihm tanzen, während die anderen vor Neid platzten. Aber der Matz forderte seinen Lohn für diese Ehre, und sie gab ihn ohne viel Widerstreben; wie im Rausch war sie mit ihm aus dem heißen Tanzsaal hinausgestürmt in die Sommernacht.

Sie griff nach ihrem Rosenkranz und betete ein zweites Vaterunser. Dabei hatte sie den Höhepunkt des Dorfes überschritten; die Hauptgasse neigte sich wieder, floß in der Ebene dahin und ergoß sich in die breite, weiße Komitatstraße, die in die Ferne führte. Auf den Gipfeln der slawonischen und serbischen Berge jenseits der Donau blitzte die Sonne auf; die Lerchen trillerten hoch in den Lüften, und auch sie wurden schon von ihren ersten Strahlen getroffen. In dem Feldgebreite, das sich weithin dehnte, wogte das Getreide wie ein Meer. Und schon wurden überall die Sicheln und Sensen gedengelt zum Schnitt.

Als die Frühglocke geläutet wurde, schritt die Liszka schon durch Josefsfeld, und sie betete auch vor dieser Kirche ihr Vaterunser, unbekümmert darum, daß dieselbe ein evangelisches Gotteshaus war. Sie gedachte dabei der Mutter des Michel … Vielleicht hilft ihr der liebe Gott doch noch, sie umzustimmen.

Offiziere begegneten ihr in Josefsfeld und sahen ihr erstaunt nach. Den einen kannte sie vom Sehen, es war der Graf, der oft durch Karlsdorf ritt … Man sagte, daß ihm die Juliska gefalle.

Die bis dahin einsame Straße belebte sich von jetzt ab mit Bauernwagen und mannigfachen Gefährten. Sie grüßte jeden deutschen Wagen mit »G'lobt seis Chrischt«, und die Bauern rückten den Hut und dankten ihr; sie erkannten den Zweck ihres Ganges und luden sie nicht ein, mitzufahren, wie dies sonst üblich ist. An herrischen Wagen sah sie vorbei, denn die Insassen derselben belästigten sie nur mit kecken Zurufen; sie hatten keine Achtung vor dem Gebetbuch und dem Rosenkranz in ihren Händen. Daß sie sauber sei, wußte sie ohnehin. Brauchte ihr's nicht jeder herrische Laffe zu sagen.

Mittags kam sie an dem Felsen der Festung von Peterwardein vorüber. Wie oft hatte sie ihn nicht schon gesehen, wenn sie nach Neusatz kam. Wie oft war sie nicht auf der Schiffbrücke über den Strom hinübergeschritten. Aber so gewaltig wie heute war ihr diese Donaufestung noch nie erschienen. Hoch oben, auf dem Kamm des Felsens, wurde jetzt eine Fahne geschwenkt, eine Glocke hallte über den Strom hin, und die Schiffsbrücke teilte sich langsam in der Mitte; sie öffnete eine Gasse für den Dampfer, der die Bergfahrt von Belgrad her machte. Vielleicht war wer aus dem Heimatsdorf auf dem Schiff. Aber was kümmerte das sie? Ihr war viel lieber, sie wurde heute nicht gesehen. Die Leute hätten sich doch nur unnötige Gedanken gemacht über ihre Wallfahrt. Und sie bog rasch ab auf den wohlbekannten Weg nach Maria-Schnee. Jedes Jahr pilgert die Gemeinde Karlsdorf einmal hierher und sie war oft genug mit dabei, aber allein hatte sie den Weg nach dem Gnadenort noch nie gesucht. Sie dachte viel Schönes auf diesem Wege, viel Gutes, und hatte ihren Rosenkranz schon zweimal durchgebetet. Sie wollte dem ehrlichen Straubmichel ein braves Weib sein und nie vergessen, was er für sie getan. Sie wollte ihm die Mutter versöhnen. Auch dem Oberlehrer Heckmüller dankbar zu sein, gelobte sie sich. Er hatte geschwiegen, selbst gegenüber der Frau Rosa. Und auch dem Herrn Kaplan, der ihr diesen Bußgang aufgetragen, und der sie zur Wahrhaftigkeit verhielt, war sie Dank schuldig. Sie wollte für alle hier beten, auch für ihn, der sie hergeschickt hatte. In ihrem tiefsten Innern regte sich etwas für ihn wie Mitleid. Ihr war, als ob sie ihn bedauern müßte. So jung und frisch, so lebensfreudig, und ausgeschlossen von der Liebe, von der Freude am eigenen Herd, von der Familie. Er tat ihr leid, denn sie merkte nur zu oft, daß sie ihm gefalle.

Dort winkte schon die Gnadenkirche. Wie erhaben kam sie ihr nicht heute vor. Und aus der Kinderzeit klangen ihr die Worte des Pfarrers im Ohr, der ihnen einmal in der Religionsstunde von dieser Kirche erzählte. Mitten im Schlachtfeld von Peterwardein liege sie, dort, wo der Prinz Eugen die Türken besiegte. Und immer am Tage der Schlacht, jedes Jahr, wallfahrten die Menschen aus der Umgebung hierher, um für die armen Seelen der Gefallenen zu beten. Längst, längst hatte sie das vergessen. Heute aber öffneten sich alle Kammern ihres Innern; Verklungenes und Verschollenes stieg in ihr empor, und der Gedanke, daß noch nach Jahrhunderten für die gebetet werde, die hier für das Vaterland gestorben sind, rührte sie bis zu Tränen.

Sie hörte einen Schritt hinter sich, der immer näher kam. Aber sie wendete sich nicht um, sie blieb versunken in ihre frommen Gedanken und lispelte leise Gebete vor sich hin.

»Das ist brav, Liszka, daß Sie Ihren Vorsatz so tapfer ausgeführt haben ‚« sprach plötzlich eine Stimme neben ihr.

»Jesus, Maria und Josef, der Herr Kaplan!« rief die Liszka erschrocken.

»Warum erschrecken Sie? Ich habe ihnen doch gesagt …«

»Ich war so verloren, so in Gedanken … Und hab' auch gemeint, der Herr Kaplan wären schon in der Früh dagewest.«

»Nein, liebe Liszka, ich bin mit dem Schiff gekommen. Und ich wollte an Ihrer Seite sein. Ein männlicher Schutz ist in dieser Gegend für eine einsame Wallfahrerin immer gut.«

»Freilich, Hochwürden. Ich dank' auch schön.«

»Da ist serbisches Gebiet. Und es gibt auch zuchtlose Soldaten, die hier herumschweifen. So eine schöne Wallfahrerin sollte doch nicht ganz allein sein.«

»Ich hab gedenkt, das Gebetbuch und der Rosenkranz sind mein bester Schuß,« sagte Liszka.

»Auf dem Hinweg vielleicht. Nicht aber auf dem Heimweg. Ich will Sie begleiten, liebe Liszka und mich mit Ihnen heute aussprechen ‚« entgegnete Pater Istvan, und sein Blick ruhte warm auf ihrem errötenden Gesicht.

Sie schwiegen, und Liszka versuchte wieder leise zu beten. Aber sie kam nicht mehr in die frühere Stimmung. Neben ihr schritt etwas einher, das sie befangen machte, das ihre Gedanken ablenkte.

Die Sonne brannte heiß hernieder auf die stillen Wanderer, doch das Ziel war nahe. Liszka schien müde; sie hatte nichts zu sich genommen, als sie vom Hause fortging, hatte nirgends gerastet und wollte nüchtern vor den Altar der Gottesmutter hintreten, wie an den Tisch des Herrn, wenn es zur Kommunion ging. Niemand hatte ihr das geboten, aber sie legte es sich selbst auf und erzwang es auch. Und als sie vor den steinernen Stufen der Kirche angelangt war, bat sie den Kaplan, voranzugehen. Er hatte sein Brevier in der Hand, wie sie ihr Gebetbuch; ihm war, als täte auch er einen Bußgang da neben ihr, als hätte auch er manches zu bereuen. Und wie aus einem Traum erwachte er, als sie die Bitte an ihn richtete. Er tat ihr den Willen und ging voraus in die Kirche.

Sie aber ließ sich an der Kirchentür auf die Knie nieder und rutschte langsam, betend, das verzückte Gesicht aufwärts gewendet, bis zum Altar der Jungfrau hin. Und in diesem Augenblick war ihr, als hätte sich ein Wunder vollzogen – es regte sich ein zweites Leben in ihr. Mit ausgebreiteten Armen kniete sie dort und betete lange und inbrünstig, während ihr Begleiter mit gesenktem Haupt in einem Kirchenstuhl kniete. Langsam ermatteten Liszkas Arme und senkten sich; endlich lag sie nur noch auf den Stufen.

Sie hatte für sich und ihr Sündkind, dessen Dasein sie zum erstenmal empfand, für ihren künftigen Mann und für alle gebetet, die ihr lieb waren, und denen sie ein Vaterunser schuldig zu sein glaubte; auch für den jungen Priester, der jetzt hinter ihr kniete und leise ihren Namen aussprach, sie mahnend, daß es genug sei.

Es schlug drei Uhr, als Pater Istvan sie aus der Kirche hinausgeleitete, und es war Zeit, sich für den Rückweg zu kräftigen.

Als Liszka wieder auf den weißen Steinstufen vor der Kirche draußen stand und ihr Blick hinschweifte über die schöne Gotteswelt ringsum, dieses Paradies von Ährenfeldern und Weinbergen, durch das der mächtige Donaustrom so lautlos hinzog in die Ferne, da war ihr so leicht, so frei und so selig um das Herz wie noch nie. O ja, schon einmal war ihr so – nach der ersten Beichte in den Kindertagen, nach der ersten Kommunion. Gereinigt von allem Irdischen kam sie sich vor; sie fühlte Flügel an ihren Armen und meinte, sie könnte fortschweben in die Welt hinaus.

Der Kaplan sah, wie blaß sie war, und er erfuhr erst jetzt, daß noch nichts über ihre Lippen gekommen war, nicht einmal ein Tropfen Wasser. Es schien ihm, als schwanke sie über die Stufen hinab, und er umfing zart ihren Leib von rückwärts und geleitete sie. Auf festem Boden gab er sie wieder frei. Und sie traten alsbald in eine Gastwirtschaft und aßen ein wenig. Der Kaplan bestellte roten Karlowitzer, der auf jenen Höhen wuchs, über denen die Sonne jetzt stand. Und der stärkte Liszka, der weckte ihre Lebensgeister und brachte ihr Blut wieder in Wallung.

Pater Istvan Michlbach schlug jetzt einen anderen Ton an. Er betrachtete alles als abgetan, was hinter ihnen lag, und hielt die Bußfahrt für beendet. Und er rückte mit allerlei Vorschlägen heraus. Er wollte der Liszka die obere Festung von Peterwardein zeigen, die Aussicht nach Neusatz hinüber und nach der Kriegsinsel und vieles andere. Und abends würden sie mit dem letzten Semliner Dampfer heimwärts fahren.

Die Liszka war nicht dafür zu haben. Ein anderes Mal wolle sie das mit ihm machen; für heute hatte sie gelobt, zu Fuß heimzuwandern.

»Ein anderes Mal?« fragte er warm und hielt ihre auf dem Tisch liegende Rechte fest. »Gewiß, ein anderes Mal?«

»Gewiß,« sagte sie und errötete unter seinem Blick.

»Noch vor der Hochzeit?« fragte er dringend.

»Wann Ihr wollt, Hochwürden,« sagte sie mit niedergeschlagenen Augen.

»Ich werde Sie beim Wort nehmen,« sprach er und lächelte sie gar seltsam an. »Jetzt aber ist es Zeit, daß wir gehen.«

»Ja, ja ‚« sagte die Liszka, »ich hab' ein' weiten Weg vor mir.«

»Ich begleite Sie.«

Sie sah ihn groß an. »Bis haam?«

»Bis nach Hause. Darf ich Sie in den Abend hinein allein gehen lassen?«

»Wann sich's nar nur aa schick tut. Wann's nar ka Rederei gitt,« erwiderte sie befangen. »Recht wär's m'r schun.«

»Darum wollen wir uns nicht bekümmern, liebe Liszka.«

Und sie brachen auf.

Lange schwiegen sie. Dann aber kamen sie ins Plaudern. Er erzählte von seiner Jugend, von seiner Mutter, die auch so fromm gewesen sei wie sie, die Liszka. Sie hatte ihn dem lieben Gott versprochen, als er in einer schweren Kinderkrankheit lag, und wie er dann wieder gesundete, mußte sie ihr Wort halten. Am liebsten wäre er Soldat geworden, Reiteroffizier, aber er fügte sich in den Willen der Mutter.

Und die Liszka gestand ihm, daß auch sie heute ein ähnliches Gelöbnis getan habe …

Der Kaplan schüttelte mißbilligend den Kopf. Das hätte er wissen sollen. Darum hätte sie ihn fragen müssen. Er würde ihr nicht dazu geraten haben. Frei soll jeder Mensch über sich selbst bestimmen können.

Die leise Verstimmung, die dieses Gespräch zurückließ, wich bald. Die Landschaft, durch die sie schritten, war so herrlich, der Tag so einzig schön. Viele Wiesen blühten noch im vollen Farbenzauber, der Duft von jungem Heu lag in der Luft, und es war ein Gären und Reifen überall in dem fruchtbaren Gelände. Der Frühsommer mit all seiner Süße, seiner Gewitterschwüle, seinen Spannungen und Entladungen, schwebte wie das Schöpfungsgeheimnis über der schwellenden Erde. Die Schmetterlinge taumelten gepaart in seliger Vereinigung über Wiesen und Felder hin, die Vögel lockten einander, gurrten, balzten und stimmten Jubellieder an, während die Sonne sich langsam senkte. Es erklang ein Chor der Lust, der Freude in der ganzen Natur.

Und da ging ein junges Weib, das den schwellenden Frühsommer in allen Gliedern trug; und es hatte Buße getan für eine Sünde, die vor der Natur nur die Erfüllung einer Bestimmung war.

Und da schritt ein junger Mann, die ganze Gewitterschwüle seiner vierundzwanzig Jahre in den Gliedern, lechzend nach Erlösung, nach Erfüllung; aber es war ihm verboten, dieses Weib zu umfassen, es zu küssen und mit ihm zu versinken in der Seligkeit dieser schönen Stunde. Die Dämmerung brach herein, und die beiden einsamen Wallfahrer waren immer stiller geworden. Nahe nebeneinander gingen sie dahin. Bald streifte ihr Kleid an das seine, bald prallten ihre Arme aneinander, bald berührten sich zufällig ihre Hände. Er war um einen Kopf höher als sie, und sein heißer Atem strich ständig an ihrer Wange vorbei. Ihr war so schwül, so schwer in den Gliedern, sie hatte sich doch vielleicht zu viel zugemutet. Er merkte es und bot ihr seinen Arm als Stütze.

Und so schritten sie, sanft aneinander gelehnt, in die Frühsommernacht hinein …


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