Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Der Haffnerslippl hatte alle Wege umsonst gemacht, er konnte den Prozeß gegen seinen Sohn nicht verhindern. Die Zeugenschaft all der jungen Männer des Dorfes, die mit draußen waren beim Donaudamm, nützte dem Jörgl nichts; der Stromingenieur Vilmos Gergely und sein Diener behielten recht. Sie sagten, es wurde niemand beschimpft, und das Gericht glaubte ihnen. Nicht arbeiten hätten sie wollen, die faulen Schwaben, obwohl es doch um ihr eigenes Hab und Gut ging. Gegen das Komitat und die Regierung hätten sie räsonniert, weil nichts geschehe für ihre Dämme, und alle wollten sie gescheiter sein als der Stromingenieur. Zuletzt haben sie ihm die Arbeit bei der einen Pumpmaschine direkt verweigert, und da sei er etwas scharf gewesen und habe geflucht. Ihn dafür zu beschimpfen in Ausübung seines Dienstes, das sei strafwürdig und verlange eine exemplarische Sühne. Alle Gegenbeweise wurden vom Gerichtshof abgelehnt; man wollte keinem der jungen deutschen Bauern zugestehen, daß er so viel Madjarisch verstünde, um beurteilen zu können, was Herr Vilmos Gergely gesagt habe. Der Haffnersjörgl wurde wegen Amtsehrenbeleidigung zu einem Monat Arrest verurteilt. Und nur die dringenden Vorstellungen der Gemeinde Karlsdorf bewirkten es, daß man dem Jörgl die Verschiebung der Abbüßung seiner Strafe bis nach der Ernte zugestand.

Das ganze Dorf war erbittert von diesem Ausgang des Prozesses. Und was der Vater des Verurteilten schon gleich nach seinem Streit in der Gemeinde angeregt hatte, man möge das Komitat um die Versetzung des Stromingenieurs ersuchen, das verlangten jetzt viele Männer im Dorfe. Der Klugsbaltzer, der Richter, hatte sich damals vom Notär bestimmen lassen, nicht an das Komitat zu schreiben; jetzt aber mußte auch er die Notwendigkeit erkennen, diesen Beamten fortzuschaffen, da niemand mehr mit ihm verkehren wollte. Er bat den Ingenieur zu sich und legte ihm selbst nahe, um seine Versetzung einzuschreiten; aber Herr v. Gergely trotzte dem allgemeinen Unwillen, er wollte nicht weichen. Er werde dem Bauernvolk schon zeigen, wie man mit ihm verkehre, einem Edelmann, dem Neffen des Vizegespans. Die Tür der Gemeindestube schlug er hinter sich zu und ging stolz seines Weges. Er war ein braunhaariger Rassemensch, ein Kumanier aus der Gegend von Mohács, von gedrungener Gestalt, mit einem Rundkopf und blitzenden dunklen Augen. Laut fluchend ging er die Hauptstraße hinauf, vor drei Tagen noch Sieger in dem Prozeß und heute solch ein Ansinnen? Soha! Nie! Vor kaum zwei Jahren erst hatte er sein Amt hier angetreten; und jetzt sollte er es freiwillig räumen? Man will ihn nicht mehr? Nembánom Geniert mich nicht, ihm lag nichts daran. Aber weichen wird er nicht.

Dem Oberlehrer Heckmüller war Gergely begegnet, und auch dieser wich ihm aus. Er war verdächtig rasch abgebogen und in das Schulhaus getreten, als er den Stromingenieur kommen sah. Dieser lächelte grimmig. Der Alte hatte ja einen Sohn, erzählte ihm der Halmos, der einmal an seine Stelle möchte. Wenn er sich nur nicht irrte! Der Junge mußte wohl erst trocken werden hinter den Ohren. Und seine ungarischen Prüfungen mußte er auch ablegen. Daß er in der Schweiz und in Wien studierte, mag ja sein, aber das glaubt ihm hierzulande kein Mensch; madjarisch mußte er sich prüfen lassen, ehe er eine Anstellung in Ungarn erhielt. Gergely lachte und redete laut mit sich selbst, so, als ob er aus dem Wirtshaus käme und ein Gläschen zuviel getrunken hätte.

Seine blasse kleine Frau erschrak über seinen roten Kopf, als er heimkam. Aber auch sie war seiner Meinung: Um keinen Preis die Stelle aufgeben! Wo fand er wieder einen gleichen Posten mit so vielen Taggeldern und sonstigem Nebeneinkommen, solcher Gelegenheit, sich auszuzeichnen? Da mußte sie doch gleich heute abend zur Klarinéni gehen. Der Pfarrer soll die Gemeinde wieder zur Raison bringen, soll ihr von der Kanzel herab sagen … Aber wozu diese Aufregung? Nichts wird so heiß gegessen … Der Mann war wütend, als seine Frau von der Klarinéni zu reden anfing. Brauchte er die Protektion der Pfarrersköchin? Er, der Neffe des Vizegespans Tallianffy? Sie möge ihm nicht mit solchen Sachen kommen! Die Frau Gergely wußte freilich besser wie er beim Herrn Onkel in der Gnade stand, und sie wollte den Weg zur Klarinéni dennoch machen. Er mußte ja nichts wissen davon. Sie war der Frau ohnehin noch einen Besuch schuldig, denn sie hatte im letzten Monat nicht zahlen können. Wenn sie darüber nur nicht böse war … Zum ersten Mal, daß sie mit den Zinsen im Rückstand blieb … Wie, wenn sie nicht mehr borgte? Wenn ihr Mann nur einmal ein Vierteljahr lang im Geleise blieb, nicht spielte, nicht die verdächtigen Ausflüge nach Temesvar oder Szegedin machte, die immer so viel kosteten, dann waren sie wieder in Ordnung. Es lebte sich ja so billig in dem reichen großen Dorfe. Und schlechte Gesellschaft gab es hier auch keine. Ja, sie wollte mit der Klarinéni reden, wenn sie auch diesmal mit leeren Händen kam. Nur nicht fort, nur nicht wieder in eine Stadt. Dort gab es zu viele Genossen und Frauen …

Gergely Vilmos zog sich hohe Stiefel an, hing das Gewehr um und pfiff seinem Hund. Zornig ging er fort in die Auen. Seine Inspektionsgänge mußten immer mit einem Vergnügen verbunden sein, sonst freuten sie ihn nicht. Auf die Frage, wann er zurückkomme, gab er der verschüchterten Frau gar keine Antwort. Sein Stolz war verletzt. Und als er am Hause des Haffnersjörgel vorbeikam, blitzte er aus funkelnden Augen in die Fenster. Ihm war, als sähe er dahinter ein schönes, glückliches Gesicht. So gelassen, so ruhig und heiter war sie, diese Frau. Haßte auch sie ihn?

Nikolaus Heckmüller hatte sich in der Tat ein wenig beeilt, den Weg des Stromingenieurs nicht zu kreuzen. Er liebte den hochmütigen Rüpel nicht, mit dem niemand ein Auskommen fand, und er kam ihm höchst bedenklich vor, als er ihn sah. Hatte er wieder einmal getrunken? Erst die Frau Rosa klärte ihn auf. Sie wußte schon, daß der Herr Gergely beim Richter war und auch, warum er dort gewesen. Man wollte ihn weghaben aus dem Dorfe.

»Ach, darum der rote Kopf!« sagte der Oberlehrer. »Der geht nicht. O nein, der geht nicht freiwillig,« fügte er hinzu. Und es kam von selbst die Rede auf den ältesten Sohn. Das hatten sie sich ja beide einmal gedacht, daß der Franz in der Heimat eine schöne Stelle erhalten und bei ihnen sein würde. Aber das war vorbei. Er dachte nicht mehr daran. Er hatte sich der Elektrotechnik zugewendet, war an den Hochschulen zu Wien und Zürich ausgebildet und vergaß das bißchen Ungarisch, das er daheim gelernt. Keinesfalls war er befähigt und gewillt, seine Prüfungen in madjarischer Sprache zu wiederholen. Sein Schweizer Diplom als Zivilingenieur aber galt in Ungarn nichts. Des Vaters Versuche, dieses Diplom in Ungarn nostrifizieren zu lassen, schlugen fehl. Er begriff diese Härte des Gesetzes nicht. Was man von Juristen mit Recht forderte, das erschien ihm, gegenüber Technikern und Medizinern angewendet, wie eine tückische Bosheit. Wie viele Söhne hatte dieses Land nicht damit in die Fremde gestoßen? Aber ob es nicht doch vielleicht auch einen Ausweg gab?

Frau Rosa lächelte verwundert, daß ihr Mann so plötzlich wieder die alten Pläne aufnahm. Der Franz wollte doch gar nicht heim. Und hat er denn nicht recht?

Er lebte in Zürich sehr glücklich und hatte Aussicht, Professor zu werden.

»Nein, er hat nicht recht,« polterte Heckmüller los. »Wir sind arm an Bildungsmenschen, er gehört in seine Heimat. Das taugt nichts, daß wir unsere Söhne immer an das Ausland abgeben oder an das reiche Österreich. Zusammenhalten müssen wir unsere Kräfte hier im Lande.«

»Ach ja … das hört sich ganz gut an.«

»Seit ich denke, ist dieser Zug nach der Fremde bei uns das Übel. Wer einmal in Wien oder Berlin studiert hat, mag nichts mehr wissen von der Heimat. Unsere einfache Lebensweise gefällt den jungen Herren nicht mehr, die Großstadt hat sie verdorben.«

Frau Rosa sah von ihrer Handarbeit auf und schüttelte den Kopf. »Nein, wie du mir heut' vorkommst …«

»Habe ich denn nicht recht? Ist es nicht wahr? Ist nicht der junge Brenner in Karlsruhe, der Kettenbach in Berlin, der Stump in Wien, der Prandel in Hannover hängen geblieben? Sind unsere Leute nicht in Serbien und Bosnien, in Böhmen und Mähren, im Elsaß und in Amerika? Hört man nicht aus allen Dörfern und Komitaten, wo Deutsche wohnen, dasselbe? Warum geht unsere Intelligenz seit Jahrzehnten größtenteils verloren für die Heimat? Draußen sind sie Ärzte, Schriftsteller, Advokaten, Ingenieure, Beamte und Abgeordnete, und hier fehlen sie uns an allen Ecken und Enden. Brauchen wir diesen Gergely hier? Unser deutsches Dorf hat schon sechs Ingenieure hervorgebracht. Soll der Franz in Zürich bleiben, wenn er durchaus will, aber ein anderer Schwabensohn soll her, der ein Herz hat für sein Heimatsdorf. Die Bauern haben ganz recht, wenn sie den Menschen hinausdrängen.«

»Du tust ja gerade so, Alter, als ob ich anderer Meinung wär'. Und was du zusammenredest, wenn du im Eifer bist, nein, hörst du …« Frau Rosa lachte.

»Wieso? Wieso?«

»Was sollen denn die studierten Söhne der Deutschen hier machen? Sollen sie wieder Bauern werden? Wenn all ihre Wissenschaft nichts gilt, weil sie ihre Prüfungen nicht auch madjarisch ablegen können, dann tun sie doch recht, dort zu bleiben, wo sie sind. Es ist doch besser, sie dienen dem großen deutschen Volk auswärts, als sie verkommen hier,« sprach Frau Rosa, und ihre Wangen glühten vor Erregung. »Die Söhne, die uns nach außen verloren gehen, die sind gerettet, die können uns vielleicht noch nützlich sein; die aber, die uns hier im Land zu Tausenden genommen werden, die sind unser Unglück und unsere Schande! Denke an deinen Cyuri …«

Bei den letzten Worten verschlug es ihr die Stimme, so als ob eine Tränenflut, die sie bis jetzt gewaltsam zurückhielt, sich ergießen wollte …

»Na, na! Na, na! Was ist denn auf einmal in dich gefahren?« sprach Heckmüller voll Erstaunen. »Immer der Gyuri! Ein Mittelschullehrer in Ungarn muß mit den Wölfen heulen. Sein Herz ist deutsch.«

»Es ist nicht wahr!« rief Frau Rosa. »Wäre er doch auch lieber in die Fremde gezogen …« Und sie beugte sich wieder über ihre Arbeit und schwieg. Man hörte drüben den Perpendikel der Kirchenuhr, so still war es.

Schweigend ging der Oberlehrer auf und nieder. Er wußte seiner Frau nichts zu entgegnen. Sie hatte ihn wieder einmal beschämt durch ihre Tapferkeit. Und er ahnte auch, was der eigentliche Grund ihrer Gereiztheit sein mochte. Die noch unaufgeklärte Ursache der Erkrankung der Frau Haffner beschäftigte sie unausgesetzt. Und der Renegat Halmos, sein Unterlehrer, der in der Schule ihm entgegenarbeitete … und so manches andere im Dorfe … Man sprach sich ja so selten aus über diese selbstverständlichen Dinge, aber sie gingen tief. Wie viele deutsche Lehrer gab es überhaupt noch in Ungarn, die nicht schon ihrem Volkstum verloren waren? Um die Wette krochen sie vor den »Patrioten«. Und auch sonst … Nur der Bauer weiß noch, daß er ein Deutscher ist; die aus ihm hervorgegangene Intelligenz ist angefault; die volksfremde Kirche, die ungarische Schule hat sie verdorben. Ja, ja, seine Frau sprach wahr. Nicht die sind die Verlorenen, die die Heimat verlassen haben. Aber mit dem Gyuri hatte sie unrecht. Er ließ nichts kommen auf seinen Jüngsten.

Es klopfte an der Wohnungstür, und gleich darauf trat der Straubmichl ein. Er kam, den Herrn Oberlehrer abzuholen zu einem letzten Rundgang bei den Seidenzüchtern. Von überall höre man, daß die Raupen nicht mehr fressen, daß sie reif seien und sich einspinnen wollen. Und der Michl meinte nicht mit Unrecht, daß das die »haaklichste« Zeit wäre. Heckmüller drückte seiner Frau einen Kuß auf den Scheitel und machte sich auf den Weg. Er kannte kein lieberes Geschäft als seine Raupenzucht, die ihn zum Wohltäter machte für so manches Haus im Dorfe. Auf den heurigen Ertrag für die Gemeinde war er ganz besonders gespannt, denn die Beteiligung hatte sich fast verdoppelt gegen früher.

Wohin er kam, wurde er freundlich aufgenommen. Und kranke Raupen fand er nur wenige. Schon war man überall am Werke, kleine Spinnhütten zu bereiten aus Stroh und Reisig, um die reifen Raupen, die goldgelb und durchsichtig waren, darein zu betten. Heckmüller zeigte den Unerfahrenen die Merkmale der völligen Reife. Erst wenn die Raupe sich mit Abscheu von ihrem Futter wendet, den Kopf suchend hebt und das Ende ihres Seidenfadens an der Spinnwarze zum Vorschein kommt, soll sie in die Spinnhüte gelassen werden. Wenn die richtige Stunde verabsäumt wird, kriecht die Raupe fort und verliert viel Seide; wenn sie zu früh in die Spinnhütte getan wird, hungert sie vielleicht und bringt dann nur ein dürftiges, minderwertiges Gespinst zustande. Jetzt hieß es, vorsichtig und aufmerksam sein; die Erntezeit für die Seidenzüchter war gekommen. Und nur ja den Tag genau merken, an dem das Einspinnen der Raupen begonnen hat, damit die Ablieferung der Kokons geschieht, ehe die Schmetterlinge sich durchbeißen und das edle Gespinst vernichten.

Ganz aufgeregt war Nikolaus Heckmüller über all die Möglichkeiten einer Gefährdung des Erträgnisses, und er trabte mit dem Straubmichl durch das ganze Dorf und besuchte jeden Züchter, um nur ja kein Versäumnis zu begehen.

Indessen hatte Frau Rosa sich in die große Hinterstube begeben zu der eigenen Seidenzucht. Während der Herr Oberlehrer seine guten Ratschläge im ganzen Ort herumtrug, liefen ihm vielleicht die eigenen Raupen an den Wänden empor und suchten nach einem Fleckchen, wo sie sich in Frieden ihrer goldigen Last entledigen konnten. Da mußte sie selbst eingreifen. Denn es war eine Ehrensache, daß ihr Haus keine minderwertigen Kokons nach Neusatz liefern dürfe.

Und auch die Liszka saß bei ihren Schützlingen. Wie herrlich sich die Tiere entwickelt hatten. Klein und armselig, nur infolge ihrer Schwärze dem freien Auge sichtbar, waren sie vor fünf Wochen von dem weißen Papier, auf dem die Eier klebten, nach dem ersten Maulbeerblatt gewandert, und jetzt strotzten sie in Kraft und Schönheit. Zuerst rabenschwarz, dann schneeig weiß, zuletzt goldgelb, in schimmernder Verklärung …

Liszka ließ es sich nicht nehmen, jedesmal dabei zu sein, wenn die erste sich einzuspinnen begann. So oft sie das Schauspiel auch gesehen, es dünkte ihr immer neu, immer schön und sinnvoll. Sie hatte ihre Lieblinge. Ganz besonders schön und groß geratenen Raupen gab sie eigene Namen, und sie war immer gespannt darauf, welche von ihnen zuerst reif sein würde, die Lise, die Grete, die Dicke oder die Lange. Diesmal war es die mollige Dicke. Sie verschmähte das Futter schon am Morgen, und als sie mittags umgebettet wurde, verunreinigte sie auch das neue Blatt sogleich. Ihr Inneres stieß alles Unreine ab, sie wurde immer heller, goldiger, durchsichtiger. Und nachmittags hob sie plötzlich den Kopf, begann zu suchen, und in ihrer Spinnwarze, mitten im Gesicht, glänzte ein Seidenendchen. Liszka reichte ihr einen grünen Baumzweig hin, und sie kroch schwer und träg empor. Nie würde sie auf diesen Zweig kriechen, wenn sie noch ein irdisches Verlangen hätte. Das war vorbei. Und sie ließ sich in einer kleinen Spinnhütte aus Reisig nieder und begann ihr Werk. Behutsam zog sie ihren Faden von einem Zweiglein zum anderen und bereitete rings um sich ein wolliges Netz. Fast aufrecht stehend arbeitete sie still und lautlos, und auf einmal saß sie im Mittelpunkt dieses nach allen Seiten gezogenen Gespinstes und schwebte frei in der Luft. Jetzt aber begann eine andere Arbeit. Was sie bis nun aufgerichtet hatte, das war nur das spinnwebenfeine Gerüst des Baues; nun kam das Haus. Der Kreis, den sie mit ihrem Goldfaden zog, wurde enger, er nahm die Eiform an, und sie saß mitten drin in dem durchsichtigen Gehäuse. Unentwegt zog sie ihr Gespinst um sich und wurde immer schlanker, immer dünner. Nach einer Stunde war sie nur noch als ein rosiger Schatten sichtbar, das Gewebe wurde dichter und dichter, und endlich entschwand sie ganz und gar den Blicken. Nur ein sehr geschärftes Ohr konnte ein ganz leises, fernes Gekraue und Gekrabbel vernehmen. Und dann verstummte auch dieses. Aber das äußere, wollige Netz zitterte noch lange, und man konnte ganz gut wahrnehmen, daß im Innern des Kokons weiter gearbeitet wurde, daß der Faden der Dicken noch nicht zu Ende war.

So wundersam und sinnvoll war der Liszka dieses Schauspiel noch niemals vorgekommen. Die Raupe zog sich schamhaft zurück in selbstgewebte Seidenschleier, wo das Wunder ihrer Wandlung zum Schmetterling sich als ein Geheimnis vollzog. Und schon in zwölf Tagen kam die Auferstehung … Aber wie wenige von ihnen werden in Wahrheit auferstehen. Man wird ihr Gespinst in heißes Wasser werfen und sie heimlich töten, um ihre seidenen Gehäuse zu retten. Sie werden sterben, ehe ihnen die Flügel wachsen für ein zweites, höheres Leben. Ganz unschuldig werden sie sterben, ohne es zu wissen, ohne es zu fühlen, und niemand wird sich ein Gewissen daraus machen, ihnen den Eintritt in das Leben verwehrt zu haben …

Lange saß Liszka sinnend vor der Spinnhütte der Seidenraupe, die sich als erste ihren Blicken entzog. Das Geheimnis dieses Prozesses beschäftigte mächtig ihre Phantasie, und sie vergoß plötzlich Tränen, ohne zu wissen, warum …


 << zurück weiter >>