Karl Philipp Moritz
Götterlehre
Karl Philipp Moritz

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Die neue Bildung des Menschengeschlechts

Nachdem das Menschengeschlecht nun einmal da war, so schien es unvertilgbar zu sein. Jupiter schickte vergeblich seine Sündflut, – es wuchs aus Kieselsteinen und keimte aus Drachenzähnen wieder auf. Dem Schlamm der feuchten Erde entsproßten Menschen, und Menschen entstammten den Eichen des Waldes, der ihnen Nahrung gab.

Allein das Goldne Zeitalter war entflohen, und noch waren die Künste nicht erfunden, die das harte Leben der Menschen sanft und erträglich machen. Des Feuers beraubt, war dies Geschlecht nun das unseligste unter allen und mußte durch manche Not sein unverschuldetes Dasein büßen.

Bis selbst, durch diese Not gedrungen, der langverborgene Götterfunken sich endlich in den Tiefgesunkenen wieder regte und sie aus eigener Kraft nun wurden, wozu kein Gott sie bilden konnte, indem sie jedes Gut mit unverdrossenem Fleiß sich selbst verschafften, dessen Besitz sie nun der Wohltat keines Gottes mehr verdankten.

Als Hasser des Prometheus und der Titanen Feind suchte Jupiter durch die Beraubung des Feuers die Menschen zu verderben. Aber als die über ihren eigenen Zorn erhabene, ruhige, mit dem Schicksal einverstandene Macht sahe er aus der Unterdrückung, die sein eigenes Werk war, ein neues Geschlecht hervorgehen, das durch Ausharren, Kraft und Duldung den Göttern ähnlich ward. – So stellt ein Dichter aus dem Altertum in folgenden Zeilen den Jupiter nicht als den Hasser, sondern als den Wohltäter und Vater der Menschen dar.

Selbst der Vater beschied dem Feldbau Müh und bestellt' ihn
Erst durch Kunst, mit Sorgen den Geist der Sterblichen schärfend,
Daß nicht starrte sein Reich in des Schlummers dumpfer Betäubung.
Nie vor Jupiter bauten das Fruchtfeld ackernde Pflüger,
Weder Mal noch Teilung durchschnitt die gemeinsamen Fluren:
Alle suchten für alle; ja selbst die Erde, da niemand
Forderte, trug unsklavisch und gern. Doch Jupiters Ratschluß
Gab ihr tötendes Gift der schwarz aufschwellenden Natter,
Sandte die hungrigen Wölfe zum Raub' und regte das Meer auf,
Schüttelt' ihr Honig den Bäumen herab und entrückte das Feuer,
Hieß auch stocken den Wein, der in schlängelnden Bächen umherfloß,
Daß der Gebrauch allmählich die mancherlei Künste mit regen
Sinnen erzwäng' und den nährenden Halm in Furchen erzeugte,
Auch das verborgene Feuer entschlüg' aus den Adern des Kiesels.
Jetzo führte zuerst der Strom die gehöhleten Erlen;
Jetzo gab dem Gestirne der Steuerer Zahlen und Namen,
Merkend Plejad' und die leuchtende Bärin Lykaons.
Jetzo laurte die Schling' im Gesträuch und die Rute voll zähes
Vogelleims; es drohten die Hund' um den mächtigen Bergwald.
Dort nun fuhr in die Tiefe des breiten Stromes das Wurfnetz
Rauschend hinab, dort schwebt' in dem Meer das triefende Zuggarn.
Jetzo starrte das Eisen, es klang die knarrende Säge;
Denn sonst pflegte der Keil den klüftigen Samen zu zerspalten;
Jetzo kamen die Künst und Erfindungen. Alles besieget
Unverdrossener Fleiß und die Not des dringenden Mangels.
Virgil. Von Voß übersetzt

Da nun Prometheus in Schatten zurückgewichen ist und eine neue Menschenerzeugung anhebt, so sind, außer dem Deukalion, die Stammväter oder neuen Schöpfer des Menschengeschlechts, mit denen es gleichsam aus der Vergessenheit wieder emporragt: Ogyges, Cekrops und Inachus.

Ogyges

In die Zeiten des Ogyges fällt eine Überschwemmung, die noch älter als die Deukalionische ist. Der Gesichtskreis schließt sich mit dieser Ogygischen Flut, über welche selbst die fabelhafte Geschichte nicht weiter hinausgeht.

Ogyges, welcher die Gegend beherrschte, die in der Folge der Zeit Attika und Böotien hieß, erzeugte mit der Thebe, einer Tochter des Jupiter, den Eleusinus, der damals schon die Stadt Eleusis erbauete, in welcher nachher die Eleusinischen Geheimnisse gestiftet wurden.

Inachus

Auf den Inachus, einen Sohn des Oceans, wird ein großer Teil der ältesten Geschichte zurückgeführt. Dieser Inachus war ein Strom, der die Fluren von Argolis im Peloponnes bewässerte. Die Dichtung gab ihm Persönlichkeit und machte ihn selber zum Stammvater des Menschengeschlechts, das an seinen Ufern sich ausgebreitet hatte.

Sein Sohn Phoroneus lehrte die Menschen den Gebrauch des Feuers wieder und beredete sie, sich gemeinschaftliche Wohnplätze zu erbauen, da sie vorher zerstreut in Wäldern lebten. Er war einer der ältesten Wohltäter des gleichsam wiedergebornen Menschengeschlechts.

Io, eine Tochter des Inachus, wurde vom Jupiter geliebt und von der Juno verfolgt, in die Gestalt einer Kuh verwandelt, in rasender Wut auf dem ganzen Erdkreise umhergetrieben, bis sie endlich in Ägypten einen Ruheplatz fand, wo sie göttlich verehrt wurde und Jupiter den Epaphus mit ihr erzeugte. – Von diesem Epaphus stammte ein königlich Geschlecht, das lange nachher in Griechenland wieder herrschte und dessen Recht zur Oberherrschaft auf seinen Ursprung vom alten Inachus sich stützte.

Mit der Libya, einer Tochter des ägyptischen Königs Epaphus, erzeugte Neptun den Belus und Agenor.

Agenor herrschte zu Tyrus; Kadmus, welcher Theben erbaute und die erste Schrift nach Griechenland brachte, war sein Sohn und die vom Jupiter entführte Europa seine Tochter. – Die Tochter des Kadmus war Semele, die den Bacchus gebar.

Belus, der andre Enkel des Epaphus, erzeugte den Danaus und Ägyptus. Danaus kam nach Griechenland und herrschte über Argos; von ihm stammte Akrisius ab, mit dessen Tochter, der Danae, Jupiter in einem goldenen Regen sich vermählte und den Perseus mit ihr erzeugte.

Alcäus war ein Sohn des Perseus, und eine Enkelin des Alcäus war Alkmene, die Mutter des Herkules. – Dies sind die vornehmsten Erzeugungen aus dem vom Inachus abgeleiteten Heldenstamme.

Weil man nun nicht weiter als bis auf den Inachus den Stamm der ältesten Könige und Helden zurückzuführen vermochte, so heißt es nachher in der Dichtersprache: Du magst vom alten Inachus dein Geschlecht herleiten, so bleibst du doch ein Opfer des unerbittlichen Orkus!

Cekrops

Mit ihm bildete sich in der Gegend von Attika ein Geschlecht von Menschen, die er lehrte, in Hütten zusammenzuwohnen, und unter denen er zuerst den Ehestand einführte, weswegen man ihn mit doppeltem Antlitz, einem männlichen und weiblichen, gebildet hat. – Aus dem nachmaligen Stamme der atheniensischen Könige, welche vom Erechtheus die Erechthiden hießen, war Theseus der berühmteste Held.

Athen wurde nachher die gebildetste unter den Städten Griechenlands, und bis in die älteste fabelhafte Geschichte derselben ist die Idee von bildender Kunst die herrschende.

Neptun und Minerva, die auch Pallas Athene heißt, wetteiferten, nach wessen Namen die neu sich bildende Stadt benannt werden sollte; Minerva trug den Sieg davon, und nach ihrem Namen wurde die Stadt Athen genannt.

Deukalion

Obgleich Deukalion als der eigentliche Wiederhersteller des vertilgten Menschengeschlechts betrachtet wurde, so sehen wir doch, wie ältere Sagen sich an diese Dichtung anschließen und die neue Menschenschöpfung oder Menschenbildung des Deukalion nur auf einen Teil von Griechenland beschränken.

Amphyktion, ein Sohn des Deukalion, stiftete zuerst eine heilige Verbindung unter mehrern Völkern, die durch gemeinschaftliche Beratschlagungen gleichsam zu einem Volke sich vereinigten. Diese heilige Stiftung wurde lange nachher nach seinem Namen die Versammlung der Amphyktionen genannt.

Hellen, der zweite Sohn des Deukalion, herrschte in Thessalien und erzeugte den Äolus, den Stammvater vieler Helden. Die berühmtesten aus dem Äolischen Heldenstamme sind Meleager, Iason und Bellerophon. Meleager überwand den Kalydonischen Eber, Bellerophon besiegte die Chimära, und Iason erbeutete das Goldne Vlies.

Die alten Einwohner von Arkadien

Unter diesen dachte man sich die ältesten Menschen, die schon vor irgendeiner Zeitrechnung da waren, welches man in die Dichtung einkleidete, sie wären eher als der Mond gewesen. Auch bei diesem Geschlechte der Menschen artete die ursprüngliche Einfalt und Unschuld der Sitten dergestalt in Laster und Bosheit aus, daß Jupiter einst so lange seine Blitze auf Arkadien fallen ließ, bis endlich selbst die Erde ihre Arme ausstreckte und ihn um Erbarmung flehte.

Der Dodonische Wald

In Chaonien, einer Gegend von Epirus, war der Dodonische Eichenwald, worin sich ein Orakel des Jupiter befand und in welchen man auch den Aufenthalt von dem uralten Geschlecht der Menschen versetzte, die noch keine andere Nahrung als Eicheln kannten.


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