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Einunddreißigstes Kapitel.

New York. In der Hütte der Witwe Larsen. Ein waches Herz

Die Pandora ankerte wieder im Hafen von New York, aber abwärts auf einer anderen Stelle, als hätte die Gräfin dadurch Mahnungen an häßliche Erlebnisse ausweichen wollen. Ihr erster Weg führte zu der Witwe Holiday. Diese wohnte zwar noch auf der alten Heimstätte, dagegen hatte ihre Umgebung eine vollständige Wandlung erfahren. Ihr Sohn, den jemals wiederzusehen sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, war heimgekehrt, und zwar nicht nur als gereifter, überlegender Mann und im besten Wohlbefinden, sondern auch mit einer Tasche voll blanker Dollars, die er sich während seiner beinah vierjährigen Abwesenheit mühsam ersparte. Wie verjüngend wirkte dessen Anblick auf sie ein, zumal er ihr versprach, schon allein um des gefürchteten Galbretts willen, bei ihren Lebzeiten nicht mehr von ihr zu weichen. Sein erstes Werk bestand darin, die ärmliche Wohnung gänzlich umzugestalten. Mit allen nur denkbaren Handgriffen vertraut, schaffte er als Tischler, Schlosser, Anstreicher, sogar als Koch zum größten Ergötzen der überglücklichen alten Frau. Wenn aber die Hände ruhten, dann gab's ein Erzählen, daß bald auf dieser, bald auf jener Seite des Erstaunens kein Ende war. Auf solche Weise erfuhr der junge John Holiday zum ersten Male Näheres über seine verstorbene Schwester und deren vermeintliche Kinder. Doch auch von der Gräfin hatte die alte Frau ausführlich erzählt, so daß er, als jene in Simpsons Begleitung bei ihnen eintrat, über alles unterrichtet war. Wenn aber der kräftige junge Mann mit dem offenen ehrlichen Blick auf die überraschte Gräfin einen Vertrauen erweckenden Eindruck ausübte, so erfreute sie nicht minder die Sorgfalt, mit der er der alternden Mutter das Leben nach jeder Richtung hin zu erleichtern trachtete. Die Kunde, daß die beiden Schlangenkinder nicht ihre Enkel gewesen, erfüllte sie mit sichtbarer Befriedigung. Über den Gedanken an deren Beziehungen zu dem sündhaften Spielergewerbe hätte sie sich nie hinwegsetzen können. In um so höherem Grade beglückte sie die Nachricht über die Hinterlassenschaft ihres verstorbenen Mannes, die im Laufe der Jahre zu einer beträchtlichen Höhe angewachsen sein sollte.

»Ein getreuer, opferwilliger Sohn kann nur ein gewissenhafter Wirtschafter sein,« erklärte die Gräfin dem ihr als zuverlässig empfohlenen Geschäftsmanns, als sie ihm die Verwaltung der auf den jungen John Holiday entfallenden elftausend Pfund Sterling übertrug.

»Lassen Sie ihn mit einem Kohlenschiff oder Holzhof beginnen,« fügte sie des weiteren hinzu, »erweist er sich als umsichtiger Haushalter, so liegt es in Ihrer Hand, sein Geschäft allmählich zu vergrößern. Ich will, daß das Vermögen ihm und seinen Nachkommen erhalten bleibe.«

Die Höhe der ihnen verschriebenen Summe wie die von der Gräfin getroffenen Bestimmungen erfuhren Mutter Holiday und ihr Sohn erst, nachdem die Pandora den Hafen längst verlassen hatte. Sie fanden also keine Gelegenheit, der großmütigen Wohltäterin ihren Dank darzubringen.

*

In Buknfjord herrschte abendliche Stille. Es war in den Tagen, in denen hoch oben im Norden die Mitternachtssonne den einsam hausenden Lappen für die Zeiten der lange dauernden, nur von Nordlichtern erhellten Dunkelheit entschädigt. Deren Wirkung machte sich in der wunderbar farbigen Dämmerung bemerkbar, über die hinaus die nächtliche Beleuchtung sich nicht verdichtete. In dem Örtchen Utstejn brannte überall hinter den sommerlich geöffneten Fenstern noch Licht; so auch in der Hütte der alten Witwe Larsen. Hinter dem Spinnrad saß sie nach gewohnter Weise, abwechselnd den zwischen ihren regsamen Fingern sich hervorwindenden Faden, und dann wieder ihre Tochter Christine Knudson oder die anwesende Karen Sture aufmerksam betrachtend. Gelegentlich griff sie auch mit irgend einer abgebrochenen Bemerkung in das Gespräch ein, das jene führten.

»Gewiß, Karen,« erklärte Christine Knudson eifrig, und sie blickte von ihrer groben Wollarbeit auf und in die seltsam ernsten Augen des jungen Mädchens, »gewiß, ich kann's nicht länger dulden, daß du allabendlich uns frische Milch zuträgst. Wenn ich sie noch bezahlte, und wir haben's ja, dank der großmütigen Gräfin, daß wir keine Unterstützung brauchen.«

»Ich bring' sie gern,« versetzte Karen ruhig. »Die Mutter schickt mich selber. Sie meint, gerade weil ihr um Almosen nicht benötigt wäret, läge größere Freundlichkeit drinnen.«

»Aber dein Vater, Karen, der berechnet jeden Pfennig, und auf die vielen Monate beträgt's ein ordentlich Stück Geld. Ich sagte dir mehrfach, wenn ich weiß, daß mir eine Sache nicht gegönnt ist, bereitet sie mir keine Freude.«

Karen runzelte die Brauen, und finster blickten die großen blauen Augen.

»Der Vater?« fragte sie achselzuckend. »Nur in der ersten Zeit war's ihm nicht recht, daß ich täglich zu euch ging. Nachdem ich aber den städtischen Herrn abgewiesen hatte, dem so viel an seinen Kronen gelegen war, daß er mich mit in den Kauf nehmen wollte, und dann den reichen Schiffer, der eigens von oben heruntergekommen war, um mich von hier fort zu heiraten, ließ er mich gewähren. Wurde er mir deshalb gram, was kümmert's mich! Und es wurmt ihn mächtig, daß ich meine Füße nicht mehr zum Tanz ansetze. Lieber bleibe ich ledig, als daß ich jemand heirate, der mir zuwider ist. Denn ohne Liebe zu freien, bringt Unglück, ich merk's an der Mutter, und redete die nie ein Wort darüber, so seh' ich ihr doch an, wie's an ihrem Herzen frißt. Auch scheint's, als ob's dem Vater nahe ging, daß sie noch schweigsamer geworden und trübseliger dareinschaut, überhaupt das Lachen in unserem Hause fremd geworden ist. Ich mein' oft, es fährt ihm manches durch den Kopf, was nicht mehr zu ändern ist, denn ich könnte euch unsere ganze Milch zutragen, ohne daß er's wehrte.«

So lange Karen mit niedergeschlagenen Augen sprach, ließ Christine Knudson ihre Arbeit ruhen. Teilnahmvoll, jedoch nicht ganz frei von einem Gefühl heimlicher Schadenfreude, sah sie in das schöne Antlitz mit den trotzig emporgeworfenen Lippen und der von heftiger Erregung zeugenden Glut auf den Wangen. Bis ins Herz hinein sah sie dem Mädchen, bis in das wunderliche Herz, das sich einst darin gefiel, ihren Sohn Niels mit schönen Worten und blanken Augen nach sich zu ziehen und in dem gleichen Atem zu verspotten, jetzt aber, da der Spielball der eigenwilligen Laune fern war, für keinen Menschen mehr ein freundliches Wort hatte.

»Wenn du so redest, da muß ich freilich die Gefälligkeiten über mich ergehen lassen,« erwiderte sie nach einer kurzen Pause des Sinnens, »ob's aber dem Niels recht wäre, wüßte er's, möcht' ich nicht behaupten. Der ist stolz und duldet nicht, daß wie von dem Mitleid anderer Vorteil ziehen.«

Hastig richtete Karen sich auf. Die Glut ihrer Wangen hatte sich bis unter das üppige blonde Haar hinauf ausgedehnt.

»Der Niels ist nicht da, daß er's sähe und seinen Ärger daraus zöge,« sprach sie leidenschaftlich, »und kommt er, für Mutter und Großmutter selber zu sorgen, so hab' ich nichts mehr zu schaffen hier. Hört er's nachträglich, soll's mich nicht kümmern. Unehrlich ist keiner dadurch geworden, wenn ich der Mutter und Schwester des Erich Larsen um meiner eigenen Mutter willen gefällig bin.«

»Wie lange mag er schon fort sein?« fragte die Greisin über den wirbelnden Faden hin, sobald sie den Namen ihres verlorenen Lieblings nennen hörte.

Christine Knudson und Karen kehrten sich ihr zu. Auf dem Antlitz der ersteren webte Mitleid; ängstliche Spannung offenbarte sich in den Zügen Karens. Aus vielfacher Erfahrung wußte sie, welche Wendung das Gespräch nunmehr nehmen würde, wenn nicht eben der Zufall es störte.

»Ich kann's nicht berechnen,« antwortete Christine Knudson nach alter Weise, »sind doch Jahre verstrichen, seitdem er in die Welt ging.«

»Viele Jahre, Christine. Unser Niels stolperte damals noch nicht lange in seinen ersten Schuhen herum. Laß mich sehen – drei-, vierundzwanzig Jahre mag's her sein. Hätte er nur ein einzig Mal geschrieben. Aber er kommt, ich kann drauf schwören, er kommt, und wär's auch nur, um sich den Segen seiner alten Mutter zu holen und ihr die Augen zuzudrücken. Der arme Erich, ginge ihm das Schreiben so von Händen, wie dem Niels, möchten wir öfter von ihm gehört haben. Wie lange ist's her, seitdem der letzte Brief von ihm eintraf?«

»Beinah vier Wochen,« hieß es bereitwillig zurück, »er befand sich in New York und noch immer an Bord der Pandora.«

»Pandora,« wiederholte die Greisin nachdenklich, »ein heidnischer, wohl gar ein sündhafter Name. Schrieb er nicht, wann er heimkehren würde?«

»Er wußte es selber noch nicht.«

»Laß mich den Brief noch einmal hören. Ist mir's doch, als spräche er selber zu mir.«

Christine erhob sich, um, wie fast allabendlich, ihren Wunsch zu erfüllen. Indem sie das Schreiben aus der Truhe hervorholte, warf sie einen verstohlenen Blick auf Karen. Herzliche Teilnahme lugte aus ihren guten Augen, als sie gewahrte, daß diese ihre Bewegungen fast eifersüchtig überwachte.

Auf ihren Platz zurückkehrend, reichte sie dem Mädchen den Brief mit den Worten: »Meine Augen fühlen's Alter schon ein wenig, und das Lampenlicht macht die Buchstaben ineinander fließen. Da bist du besser daran. Ist dir's nicht zu viel, so lese du ihn der Mutter vor.«

Obwohl längst mit dem Inhalt vertraut, entfaltete Karen den Brief hastig. Ihre Blicke senkten sich auf die Zeilen, dann las sie:

»Geliebte Mutter und Großmutter!

Heute von New York aus die letzten Worte. Wir richten uns darauf ein, Anker zu heben, da gibt es viel zu tun. Wohin wir unseren Kurs nehmen, weiß ich nicht, auch nicht, wann ich heimkehre. Unsere gute Gräfin redet nie über ihre Pläne. Ich meine oft, ihre richtigen Pläne werden erst auf hoher See klar. Hab' schon einen hübschen Beutel Dollars erspart, und die sollen euch zugute kommen. Bin ich erst bei euch, dann suchen wir eine andere Heimstätte. Denn im Buknfjord bleibe ich nicht; der letzte Tanzabend steckt mir heut noch in den Gliedern. Ein Lotse, der sein Gewerbe versteht, findet überall sein Brot. Ihr mögt euch immerhin nach einer anderen Gelegenheit umtun. Die Hütte kauft der alte Sture gewiß gern: dann bin ich ihm aus den Augen. Lege ich meine Ersparnisse zu dem Erlös, so wird's nicht schwer, auf einer Stelle uns niederzulassen, wo der Mann nicht nach seinem Gelde abgeschätzt wird. Bis dahin mag's ein halbes Jahr dauern. Mir ergeht es sehr gut. Hoffentlich findet dieser Brief euch in bester Gesundheit: Von der Gräfin soll ich Grüße bestellen, und ihr möchtet ein paar Kronen nicht ansehen, wenn's gilt, euch ordentlich zu pflegen. Sie würde zu seiner Zeit alles gerade machen um alter Erinnerungen willen. Was sie damit meint, weiß ich nicht, hab aber meine Ahnung. Ich muß jetzt Lebewohl sagen. Zu grüßen braucht ihr keinen, denn ich wüßte keinen außer euch auf Utstejn, der sich noch um mich kümmerte. Noch einmal Lebewohl zu euch, liebe Mutter und Großmutter, und auf ein fröhliches Wiedersehen.

Euer treuer Sohn und Enkel

Niels

»Auf fröhliches Wiedersehen!« wiederholte Karen vor sich hin. Während sie die letzten Zeilen las, war die Glut aus ihren Wangen zurückgetreten. In ihren Zügen prägte sich Erbitterung aus. Christine Knudson gewahrte es, und während die Großmutter sich noch in Lobeserhebungen über den wunderbar schönen Brief erging, bot sie dem Mädchen an, ihn mitzunehmen und auch der eigenen Mutter vorzulesen.

»Ja, nimm ihn mit,« fiel die alte Larsen förmlich begeistert ein, »Wort für Wort laß ihn deine Mutter hören, auf daß sie sich daran erfreue. Ihr wird's sein, als ob mein Erich zu ihr redete, denn ist der Niels seinem Mutterbruder rein aus den Augen geschnitten, so hat er auch seine Art des Denkens und Sprechens.«

Erzwungen gleichmütig hatte Karen den Brief in Empfang genommen; wohl aber entdeckte Christine, daß ihre Hand zitterte, als sie ihn hinter ihr Busentuch schob. Dabei blickten ihre Augen, als hätten sie sich mit Tränen füllen wollen.

»Gewiß wird der Brief die Mutter erfreuen,« sprach sie herbe, indem sie sich zum Gehen anschickte, »vielleicht sagt sie ebenfalls, daß es ein gescheiter Gedanke von dem Niels sei, sich anderweitig niederzulassen – doch wie es spät geworden ist mit dem Reden – zu Hause lugt man sicher schon nach mir aus.«

Die letzten Worte sprach sie mit eigentümlicher Hast. Einen kurzen, jedoch herzlichen Scheidegruß richtete sie an die beiden Frauen, und eiligst, als hätte es gegolten, ein Versäumnis einzuholen, schlüpfte sie aus der Tür.

»Man sollt's nicht glauben, daß es noch dieselbe Karen wäre, die früher klingend in unsere Tür herein lachte,« bemerkte die alte Larsen träumerisch zu dem Schnurren ihres Spinnrades.

»Sie trägt Herzeleid,« meinte Christine, über den entstehenden wollenen Strumpf hingeneigt, »ich gönn's ihr wahrhaftig nicht, aber verdient hat sie's um des armen Niels willen.«

»Vielleicht einigen sie sich noch, wenn er erst zur Stelle ist.«

»Nein, nein. Karen besitzt ihren alten störrischen Sinn im Bösen wie im Guten. Die stirbt lieber, bevor sie nachgibt; und dem Niels verarg ich's nicht, wenn das Gedächtnis an den Fächer nicht aus seinem Kopf will. Ein Schlag ins Gesicht hätte ihn nicht härter getroffen, als die Art, wie sie ihn mit seinem Geschenk abfertigte. Die Leute reden heute noch darüber.«

»Aber auch darüber,« versetzte die Großmutter, »daß der alte Sture heut anders denkt. In seinem Hause schwebt's wie Leichenduft: das soll ihn mürbe gemacht haben.«

»Denkt der Sture jetzt anders, ist unser Niels gegen früher ebenfalls anderen Sinnes geworden. So oft er schrieb: kein einzig Mal nannte er in seinen Briefen Karens Namen.«

Und weiter spann die Witwe Larsen an dem Garn zu den Hemden für ihren sehnsüchtig erwarteten Sohn, weiter strickte die Witwe Knudson an den Strümpfen für ihren Niels. –

Gewandt wie eine Fischotter war Karen die Stufen vor der Hütte hinuntergeschlüpft. Eine kurze Strecke verfolgte sie noch eiligen Schrittes ihren Weg; dann aber mäßigte sie die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, und so langsam schlich sie einher, als hätte sie an einer schweren Bürde zu tragen gehabt. Sie erreichte den Felsblock, von dem herunter sie einst ihr boshaftes Spiel mit dem jungen Lotsen trieb. Ein Weilchen betrachtete sie ihn finster, und seine unregelmäßigen Auswüchse als Stufen benutzend, stieg sie flink nach oben. Dort setzte sie sich nieder, das Antlitz westlich gekehrt. Die wunderbar gelichtete, farbenreiche nächtliche Atmosphäre gestattete ihr eine verschleierte Aussicht weit über die vereinzelten niedrigen Schäreninseln hinweg aufs Meer hinaus. Ihre Aufmerksamkeit wurde durch die unbestimmten Formen eines in volle Segel gekleideten Schiffes gefesselt, das vor der Südwestbrise seinen Kurs in nordöstlicher Richtung verfolgte. Mit den Gewohnheiten der vor dem Fjord kreuzenden Fahrzeuge vertraut, erkannte sie, daß das Schiff der Einfahrt zustrebte. Doch was galten ihr jetzt alle Schiffe der Welt? Und dennoch änderte sie die Richtung ihrer Blicke nicht, bevor das beobachtete Schiff hinter einem höher hinausragenden Schärenfelsen verschwand. Sich selbst zürnend über die Betrachtungen, denen sie unwillkürlich Raum gegeben hatte, schnellte sie plötzlich auf die Füße empor und unwillig verließ sie ihre Warte.

Doch nicht im Sprunge, wie in früheren Tagen, gelangte sie zur Erde, sondern abermals die Unebenheilen des Felsblockes als Sprossen benutzend, und langsam wanderte sie weiter.

Bild: Max Vogel

Zu Hause in das Wohnzimmer eintretend, fand sie den Vater noch munter. Einsam saß er an dem schwer gezimmerten Tische, vor sich eine Kanne Bier, zwischen den Zähnen eine brennende, langstielige Tonpfeife. Karens eintönigen Gruß beantwortete er freundlich. In seinen Zügen verriet sich eine gewisse Scheu. Es mißfiel ihm, daß sie achtlos vorüberschreiten wollte, und doch gewann er es nicht über sich, ein Gespräch mit ihr zu eröffnen. Es war, als hätte er gefürchtet, ihre Augen vorwurfsvoll auf sich gerichtet zu sehen.

»Sind noch Lotsen draußen?« fragte Karen, bevor sie in das Nebenzimmer trat, halb über die Schulter zurück.

»Die letzten liefen bei Sonnenuntergang ein,« hieß es zurück, »warum meinst du?«

»Weil eine Kraft den Kurs auf die Einfahrt hält.«

»Das müßte ein fixer Segler sein, der vor Sonnenuntergang, da noch nichts von ihm auszumachen gewesen, bis jetzt vor den Buknfjord gelangte.«

»Ich sah ihn mit meinen eigenen Augen.«

»So laß ihn kreuzen, bis die Sonne ihm wieder leuchtet.

Der Henker mag ihn zur Nachtzeit zwischen den Klippen hindurchlotsen, es sei denn, er entschlösse sich zu 'nem Umwege, und auch dadurch wäre nicht viel gewonnen.«

»Ich kannte jemand, der fragte nicht, ob's Tag oder Nacht sei, wenn er zum Dienst gerufen wurde,« antwortete Karen, und über die Schwelle schreitend, zog sie die Tür mit Heftigkeit hinter sich ins Schloß.

Finster betrachtete Sture die Tür. Die Zornesadern auf seinen Schläfen schwollen. Er mochte des Abends gedenken, an dem er mit schlauer Berechnung die Demütigung einleitete, die für Niels gleichbedeutend war mit dem Verweisen aus seinem Hause. Damals glaubte er nicht, daß er dadurch zugleich eine wachsende Entfremdung zwischen sich und Mutter und Tochter anbahnte. Durch das Verscheuchen des jungen Lotsen hoffte er dessen Ebenbild, das Bild eines längst Verschollenen, aus der eigenen wie aus seiner Frau Erinnerung zu streichen; allein er bewirkte nur das Gegenteil. Seine Pfeife war erloschen, und noch immer stierte er grübelnd auf die geschlossene Tür. Mit seinem ganzen Reichtum hätte er den Frieden seines Hauses nicht zurück zu erkaufen vermocht. Nur eine Möglichkeit gab es, aber wie sollte die verwirklicht werden?

Schwerfällig erhob er sich, und die Lampe ergreifend, begab er sich in sein Schlafgemach. –

Mitternacht war längst vorüber. Nur ein einziges Licht brannte noch in dem Örtchen. Durch das Fenster eines Hinterzimmers im Hause Stures fiel dessen Schein ins Freie hinaus. Es leuchtete Karen, die sich, vor ihrer schwerbeschlagenen offenen Truhe sitzend, in das Anschauen eines seltsamen Gegenstandes versenkt hatte. Seitwärts auf dem hochgeschichteten Linnen lag der offene Brief Niels'. Wohl zehnmal hatte sie ihn gelesen. Dann zog sie eine Rolle harten Segeltuchs hervor, diese behutsam öffnend und vor sich ausbreitend. Eine Anzahl größerer und kleinerer Elfenbeinsplitter enthielt sie, zerrissenes, zum Teil vergoldetes Seidengewebe und zarte Federbüschel. Doch so viel Stücke es auch sein mochten: jedes einzelne war mittelst seiner starker Fäden so auf die Leinwand festgenäht worden, daß in deren Vereinigung die Form eines Fächers unverkennbar war.

Lange, lange betrachtete sie ihr Werk finsteren Blickes. Hin und wieder ordnete sie zwischen den Elfenbeinsplittern oder strich sie die Seidenlappen glatt und lockerte die zarten Federn. Die blühenden Lippen hatte sie fest aufeinander gelegt, wie einen heimlich bohrenden Schmerz bekämpfend. Sie mochte sich die Hände vergegenwärtigen, unter deren rauhen Griffen das wertvolle Kunstwerk einst zerfiel, dieselbe Hand, die den daneben liegenden Brief schrieb, ohne mit den kurzen Mitteilungen den kleinsten Gruß zu verflechten. Wen hätte Niels auch grüßen sollen, nachdem er durch ihre Schuld zum Gespött aller in dem Örtchen geworden war?

Hadernd mit sich und der ganzen Welt rollte sie das Segeltuch wieder zusammen. Vorsichtig verpackte sie es zwischen das Linnen. Den Brief legte sie obenauf, und nachdem sie die Truhe verschlossen hatte, erhob sie sich. Eine Weile stand sie wie in Zweifel, dann stellte sie die brennende Lampe an einen sicheren Ort, und jedes Geräusch sorgfältig vermeidend, schlich sie durch die Hintertür aus dem Hause. Gleich darauf erstieg sie auf der eigens zu solchem Zweck angelehnten Leiter das als Lotsenwarte dienende Dach. Scharfer Wind traf sie dort oben. Der frische Lufthauch schien ihr wohlzutun, denn hart am Giebelrande ließ sie sich auf ein bankartig befestigtes Brett nieder, von wo aus sie die Blicke weit über die Einfahrt des Fjords hinzusenden vermochte. Allmählich begannen auch die entfernteren Gegenstände sich vor ihren Augen zu entwirren, bis sie endlich ein Schiff erkannte, das vor vollen Segeln in den Fjord hineinsteuerte. Wie ihr Vater behauptete, weilte zurzeit kein Lotse draußen; trotzdem verfolgte das rätselhafte Fahrzeug einen Kurs, wie er nur von einem mit den Fährnissen der Küste sehr Vertrauten vorgeschrieben werden konnte. Bei dieser Wahrnehmung kreiste ihr Blut rascher. Sie gedachte der Pandora und desjenigen, dem allein sie die Fähigkeit zutraute, in der unbestimmten Beleuchtung der nordischen Sommernacht auf dem näheren, aber gefahrvolleren Wege zwischen den Klippen hindurch ein Schiff hereinzubringen.

Doch die Pandora weilte ja in unbekannter Ferne, und keiner ahnte, wann oder wie Niels seine Heimkehr bewirken würde.

Schärfer sah sie hinüber, so scharf, bis ihr die Augen übergingen, allein die Formen des Rumpfes vermochte sie nicht zu unterscheiden. Sie entdeckte nur, wie durch einen Schleier hindurch, eine von Segeln gebildete Pyramide, die keinen Schluß auf die Bauart des Fahrzeugs gestattete. Erbittert, törichten Mutmaßungen Raum gegeben zu haben, verließ sie ihre luftige Warte, und bald darauf verdunkelte sich ihr Fenster. Doch was sie bis zum Einschlafen ernst beschäftigte und seine Fortsetzung in wirren Träumen fand, das trieb sie nach kurzer Zeit wieder von ihrem Lager.

Als sie ins Freie hinaustrat, war die Sonne noch nicht aufgegangen, aber durch den Purpur im Osten erzeugt, hing rosiger Duft in der bereits gelichteten Atmosphäre. Anscheinend planlos begann sie wieder die nach dem Dache hinaufführende Leiter zu ersteigen; und dennoch spähte sie um sich, als hätte sie befürchtet, in ihrem Tun von jemand beobachtet zu werden. So war sie mit ihrem Haupte eben bis zur Höhe des Dachrandes gelangt, als sie jählings, wie um sich vor einem Sturz zu bewahren, die nächste Sprosse mit beiden Händen packte. Über die niedrigeren Häuser und Hütten hinweg waren ihre Blicke auf die Masten eines Schiffes gefallen, das genau da lag, wo sie die Pandora zum letztenmal mit bitterbösen Augen betrachtet hatte. Das Schiff hatte offenbar, vor kurzem erst Anker geworfen, denn noch waren eine Anzahl Topgasten mit dem Befestigen der aufgegeiten Segel beschäftigt; Karen aber hätte kein rechtes Lotsenkind sein müssen, um an den schlanken Spieren und Raaen nicht sofort die Lustjacht zu erkennen, die einst in so hohem Grade die Bewunderung der Einwohner von Utstejn erregte.

Eine Weile verharrte sie, wie mit den Leitersprossen verwachsen. Unentschlossenheit verriet sich in der beweglichen Glut, die auf ihrem Antlitz kam und wich. Ihr Geist arbeitete gewaltig. Zweifelnd sah sie um sich. Erst vereinzelte Schornsteine rauchten in dem Örtchen. Es ließ sich daher voraussetzen, daß sie zurzeit schwerlich jemand auf der Straße begegnen würde. Vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, verließ sie die Leiter. Auf eine Minute verschwand sie im Hause, und als sie abermals durch die Hintertür im Freien erschien, hatte sie ein Tuch um die Schultern geschlungen. So schlüpfte sie vom Hofe auf die Straße hinaus. Scheu lugte sie aufwärts und abwärts. Keine Seele war zu entdecken; und wie wären doch alle aus den Häusern gestürmt, hätte die Kunde von der Anwesenheit der Lustjacht und der schwer reichen Gräfin bereits Verbreitung gefunden gehabt. Noch schwankte sie; aber die Zeit drängte. In jedem Augenblick konnte hier oder da ein Nachbar aus der Haustür treten, ihr einen guten Morgen zurufen und sie fragen, was sie so früh zu einem Ausgange treibe. Die Augen hätte sie sich aus dem Kopfe geschämt, wäre ihr Zweck in Beziehung zu der Pandora gebracht worden. Fester zog sie das Tuch um ihre Schultern und davon eilte sie unentdeckt auf dem Wege dahin, der sie in nächster Richtung nach der Hütte der Witwe Larsen führte.

Vor dem bekannten Felsblock eingetroffen, flog sie nach ihm hinauf. Der Anblick der Masten und Takelage genügte ihr nicht, sie zu überzeugen, daß ein Irrtum ausgeschlossen sei. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht: da ankerte die Pandora, eine Kraft, wie sie ähnlich nie zuvor ihren Kurs in den Buknfjord hinein gewählt hatte. Ihr nächster Blick galt der einsamen Hütte. Eine schmale Rauchsäule entwand sich deren Schornstein. Im übrigen lag das verwitterte kleine Bauwerk da wie ein hinfälliger Greis, der gern bis in den hohen Tag hinein schläft. Von der Pandora ahnte man augenscheinlich noch nichts zwischen den vier Balkenwänden, oder Christine Knudson möchte längst in der Tür gestanden haben, um nach ihrem Sohne auszuschauen.


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