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Sechzehntes Kapitel.

Helfershelfer. Auf dem Gipfel des Elends. Der abgedankte Clown. .

Eine Stunde brauchte Jannock, um sich eines Auftrages zu entledigen, zu dem mit aller nur erdenklichen List der Boden geebnet worden war. Schweigend verfolgte er nach seiner Trennung von der Direktorin mit den beiden Geschwistern seinen Weg durch die sich allmählich leerenden Straßen. Wer ihm begegnete, mußte ihn für einen ehrsamen Bürger und Gewerbetreibenden halten, der mit seinen Kindern vielleicht den Abend auswärts verbrachte und sich nunmehr auf dem Heimwege befand. Und als wären sie seine eigenen Kinder gewesen, ließen die Geschwister sich von ihm an der Hand führen, so still und folgsam.

Beinahe eine halbe Stunde waren sie an seiner Seite dahin geschritten, und sie meinten, bereits in der Nachbarschaft des Hafens eingetroffen zu sein, als jener plötzlich in eine enge, finstere Nebengasse einbog. Eine mäßige Strecke legten sie in dieser noch zurück, dann blieb Jannock mit einer kurzen Wendung vor einem Hause stehen, aus dessen Innerem der wüste Lärm singender und hadernder Männer zu ihnen herausdrang. Nach den kleinen Fenstern zu schließen, deren Umfang durch die Lichtstreifen der schlecht gefugten oder schadhaften Läden bezeichnet wurde, konnte es nur ein elender, altersmorscher Bau sein, der vor ihnen lag, augenscheinlich aber durch den nächtlichen Verkehr seinen Mann ernährte. Jannock befand sich auf vertrautem Boden, denn er öffnete die knarrende Haustür mit sicherem Griff, worauf er die Geschwister vor sich her in einen schmalen Flurgang hineinschob. Ein wenig Licht erhielt dieser von dem entgegengesetzten Ende her durch eine offene Tür, hinter der eine Tranlampe melancholisch um ihr Leben kämpfte.

Bild: Max Vogel

In den vor Unsauberkeit starrenden Raum, eine Art Küche, eintretend, neigte Jannock sich über den mit benutzten Gefäßen bedeckten Feuerherd hin, mit der Faust dreimal auf die rußige Rückwand schlagend. Mehrere Minuten verstrichen in einer Stille, zu der der häßliche Lärm in den anstoßenden Gemächern unheimlich kontrastierte. Endlich gingen ein paar Türen, und von dem Hinterhause her gesellte sich eine vierschrötige Frauengestalt den Ankömmlingen zu. Während die Geschwister in banger Erwartung zu dem schlumpigen Weibe emporsahen, auf dessen schwammigem Gesicht mindestens fünfzig Jahre eines zügellosen Lebens ihre unvertilgbaren Merkmale zurückgelassen hatten, warf dieses ihnen einen flüchtigen, kalt forschenden Blick zu; dann wurde seine Aufmerksamkeit durch Jannock gefesselt.

»Ich soll hier bei der Frau Rowdy anfragen,« hob er in schnarrendem Geschäftstone an, »ob die Herrschaften, zu denen die Kinder zu führen ich beauftragt wurde, irgend welche Nachricht geschickt hätten.«

»Freilich geschah das,« antwortete das Weib mit einem abermaligen Blick in die großen, traurigen Augen der Geschwister, »und zwar kurz bevor Sie selber sich anmeldeten. Da ist nämlich der Vater, der hat ihr Verschwinden gleich bemerkt und bietet jetzt alles aus, ihrer wieder habhaft zu werden, um sie anderweitig zu verhandeln. Der Bote meinte, einige Tage später, wenn die Herrschaften erst zur Abreise gerüstet seien und keine Verfolgung mehr zu befürchten brauchten, wollten sie selber kommen und die armen Dinger abholen. Ich ließ mich daher willig finden, sie so lange zu beherbergen. Es hieß noch, daß man gerade hier zuletzt nach ihnen suchen würde.«

»So habe ich meinen Auftrag erfüllt und hier nichts mehr zu schaffen,« erwiderte Jannock, einen Blick des Einverständnisses mit dem Weibe wechselnd, »es sei denn, Sie reichten mir zum Abschied noch 'nen Trunk zum Schutz gegen die kühle Nachtluft.«

Das Weib lachte häßlich vor sich hin, verschwand aber, um nach kurzer Zeit mit einem Glase Branntwein zurückzukehren. In einem Zugs leerte es Jannock, und ohne die Geschwister weiter zu beachten, entfernte er sich mit einer Hast, als ob die in dem düsteren Räume schwebende dicke Luft selbst ihm den Atem geraubt hätte. Das Weib lauschte ihm nach, bis die Haustür hinter ihm zugefallen war; dann ergriff es die Lampe, und die nun sich ängstlich aneinander schmiegenden Geschwister auffordernd, zu folgen, begab es sich auf den Flurgang hinaus, wo es alsbald eine schmale, steile Treppe zu ersteigen begann.

»Nehmt euch in acht,« rief es über die Schulter zurück, »seht zu, wohin ihr die Füße stellt; denn tut ihr einen Fehltritt, so brecht ihr das Genick, und wäret ihr aus Kautschuk gegossen.«

Susanna seufzte tief auf und packte des Bruders Hand fester. Auf ihre Füße sollten sie sehen, und doch nahm die vorausschreitende Person fast die ganze Breite der Treppe ein, so daß hinter ihr völlige Dunkelheit herrschte. Ohne Unfall erreichten sie indessen das erste und darnach das zweite Stockwerk, und was die Geschwister auf diesem Wege undeutlich sahen, war am wenigsten geeignet, das in ihnen aufsteigende Entsetzen zu mildern. Offene Türen erkannten sie und hinter diesen finstere Räume; dann wieder nackte Bretterwände und andere, mit zerrissenen Tapeten bedeckte; dazwischen die Gänge, die mit ihrem schwarzen Hintergrunde bis ins Unendliche sich zu verlängern schienen. Dabei machte es den Eindruck, als ob alles lebe, sich rege und winde, indem die unstete Beleuchtung der von dem Weibe getragenen Lampe bald hier, bald dort ein seltsames Schattenspiel schuf.

Im zweiten Stockwerk folgte die keuchende Wirtin dem vor ihr liegenden Flurgange bis zur ersten Türe nach. Diese öffnend, trat sie in ein moderig duftendes Gemach von geringem Umfange und mit beängstigend niedriger Decke. Es hatte offenbar zeitweise als Schlafraum für feiernde Seeleute und andere, wenig wählerische Menschen gedient; denn an Möbeln waren nur zwei Schemel sichtbar, man hätte denn vier alte Strohmatratzen mit darüber hingeworfenen, vielgebrauchten wollenen Decken als solche mit hinzugerechnet.

»Hier macht's euch bequem,« wendete die Wirtin sich nunmehr gänzlich teilnamlos an die bis ins Herz hinein erbebenden Geschwister; »da sind vier Betten – hat mancher ehrliche Bursche seinen Rausch drinnen ausgeschlafen – und zu allen vieren seid ihr willkommen. Kalkulier', zu viel wird man euch heut' abend noch nicht vorgesetzt haben. Mit 'nem hungrigen Magen schläft sich's aber schlecht; außerdem möcht's mir nicht gut angerechnet werden, da ich doch für euer leiblich Wohl sorgen soll,« und gleich darauf befanden die Geschwister sich im Finstern. Sie hörten noch eine Weile das Schlurfen niedergetretener Schuhe und das Knarren der morschen Treppenstufen, wie das dumpfe Schlagen von Türen, dann herrschte tiefe Stille ringsum. Nur das Geräusch zur ebenen Erde unterschieden sie noch, aber unheimlich klang es und gedämpft, wie aus dem Innern der Erde entsendet.

»Das ist gräßlich,« flüsterte der Knabe seiner Schwester zu, und obwohl jeder Kinderfurcht fremd, bemächtigte sich seiner doch Grauen in dem labyrinthischen Bau, wo er sich von Abgründen bedroht wähnte, die in seiner Phantasie nach allen Richtungen hin brunnenartig gähnten. »Ich kann's nicht glauben, was die Menschen auf uns einredeten,« fuhr er fort, »sie lügen alle. Wären wir doch bei der Großmutter geblieben.«

»Wir sind nicht aus freiem Willen gegangen,« tröstete Susanna, die eigene Angst verheimlichend, »der Vater war es, der uns von Hause fortbrachte. Wüßte die gütige Dame um uns, so ließe sie uns heute noch abholen; sie selber hätte uns nimmer hierher geschickt. Der Direktor und seine Frau sind falsch; auch der Jannock. Ich glaube ebenfalls nichts von allem, was sie sagten. Aber ich errate ihre Absicht. Sie wollen uns für sich behalten – doch beruhige dich; dem Vater durften wir nicht entlaufen. Anders ist's mit fremden Leuten. Sobald die erste Gelegenheit sich bietet, gehen wir davon; verfolgt man uns, so schreien wir um Hilfe.« Sie hatte ihren Arm um des Knaben Schultern gelegt und sein Haupt an sich gezogen. So tastete sie sich mit ihm nach der nächsten Matratze hinüber, auf die sie sich niederließen. Dort saßen sie eng aneinander geschmiegt. Um sich des Grauens zu erwehren, sprachen sie fortgesetzt leise zueinander.

Endlich ertönte wieder das Knarren der Treppen. Durch die offene Tür drang ein matter rötlicher Schein, und vor ihnen stand das schreckliche Weib.

»Recht so,« redete es sie mit einem Gemisch von Spott und erheuchelter Teilnahme an, »habt's euch komfortabel gemacht; werdet's überhaupt nicht besser gewöhnt sein. Hörte davon, ihr wäret richtige Schlangenkinder; das paßt mir nämlich in meinen Kram, auch in den eurigen. Denn gesunde Bewegung müßt ihr haben, oder ihr werdet krank und steif, wie 'n abgenutzter Reisbesen. Da findet sich nämlich allabendlich 'ne feine Gesellschaft unten bei mir zusammen, der sollt ihr eure Männchen vormachen, dieweil ich mit 'nem Teller umgehe und die Bezahlung dafür einfordere;« und den gierigen Blick, den die scheußliche Megäre auf die beiden schmächtigen Gestalten warf, begleitete sie mit einem so lauten, mißtönenden Lachen der Schadenfreude, daß es ringsum in den öden Räumen widerhallte, als ob andere Weiber ihres Schlages in allen Richtungen mit in das wiehernde Gelächter eingestimmt hätten. Noch immer gegen die beängstigende Heiterkeit einer Harpye ankämpfend, kauerte sie vor den bebenden Geschwistern nieder, und auf der einen Seite die Lampe neben sich hinstellend, auf der anderen einen Handkorb, begann sie diesen seines Inhaltes zu entledigen. Er bestand aus mehreren Brotschnitten und einem Tiegel mit erhärtetem Fett, vielleicht die Überreste eines Matrosenmahls. Ferner aus einer Kanne mit aufgewärmten, zusammengegossenen Kaffeeresten und endlich einer leeren Flasche, in deren Hals der fingerlange Rest einer Talgkerze steckte.

Unter den überschwenglichsten Lobpreisungen, die der widerwärtigen Speise und mehr noch der eigenen Freigebigkeit galten, redete sie den Geschwistern zu, es sich schmecken zu lassen. Dann zündete sie das Licht an, ihre Tätigkeit mit der Erklärung begleitend: »Damit ihr die Mäuler findet, aber auch die Speckwürfel und Zwiebelringeln. So lange ihr eßt, hält das Licht schon aus. Richtet euch also ein, daß ihr komfortabel beieinander liegt und schlaft, bevor die Flamme erlischt. Kommt nur nicht auf den Gedanken, das Zimmer zu verlassen; denn wer hier nicht Bescheid weiß, läuft Gefahr, mit 'ner wurmstichigen Planke durchzubrechen und bis in den Keller hinunterzufallen.«

Mit den letzten Worten erhob sie sich. In der einen Hand die Lampe, in der anderen den Korb, weidete sie sich eine Minute an dem Anblick ihrer Schutzbefohlenen, die sich nicht zu rühren und noch weniger zu den geröteten tückischen Augen aufzuschauen wagten, und mit einem widerwärtigen Kichern schlurfte sie davon. Erst als unten das Schlagen von Türen verriet, daß sie in dieser Nacht keine Störung mehr zu befürchten hatten, gaben die Geschwister der Wirkung des Hungers furchtsam nach. Traurig beobachteten sie während des Essens das Niederbrennen der dünnen Kerze, traurig und die Zeit berechnend, nach deren Ablauf schwarze Finsternis sie umringen würde. Ängstlich schweiften ihre Blicke dann wieder im Kreise. Wohin sie sich wenden mochten, überall starrten ihnen die Merkmale des Verfalls und häßlicher Verwesung entgegen. Das einzige kleine Fenster mit vier gesprungenen Scheiben lag nach dem Dache des Nebenhauses hinaus. Wer sagte ihnen, was sie nach Anbruch des Tages von dort aus sehen würden? Nur im Flüsterton tauschten sie ihre Mutmaßungen miteinander aus. Sie schienen den Ton der eigenen Stimme zu fürchten. Klagend sprach der Knabe, tröstlich das sich in Angst verzehrende Mädchen. Niedriger brannte das Licht. Nur noch kurze Zeit, und der Docht mußte durch den erwärmten Hals in die Flasche hinabgleiten. Die letzte Helligkeit benutzte Susanna dazu, alle Decken zusammen zu tragen und über den einen Strohsack auszubreiten. Nachdem sie den Bruder sorgsam gebettet hatte, streckte sie sich neben ihn hin, und ihm ratend, sich fest an sie anzuschmiegen, zog sie die oberste Decke bis zu ihren Häuptern hinauf.

Bild: Max Vogel

»Jetzt schließe die Augen und öffne sie nicht mehr,« sprach sie leise, und wie um den Bruder zu beschützen, nahm sie seinen Kopf in ihren Arm; »du merkst dann nicht, wenn das Licht erlischt, glaubst bis zum Einschlafen, es sei hell ringsumher.«

Schluchzend befolgte der Knabe den Rat. Doch nur kurze Zeit dauerte es, bis Erschöpfung ihn übermannte. Länger wachte Susanna. Die Blicke auf die kleine Flamme gerichtet, lauschte sie furchtsam den in der schrecklichen Baracke hin und wieder laut werdenden Tönen. Bald knackte es in dieser, bald in jener Richtung, bald unterhalb, bald oberhalb des ihnen als Obdach dienenden Raumes. Dann kribbelte es wieder, wie wenn Ratten leichtfüßig von Ort zu Ort eilten, oder Mäuse mit scharfem Zahn wurmstichige Planken benagten. Dazu der summende Lärm in dem untersten Stockwerk, von wo aus er den altersmorschen Bau geisterhaft durchzitterte. Höher flackerte das Flämmchen noch einmal auf, und heller wurde es ringsum, als die in dem Flaschenhals geschmolzene Masse dem Docht reichlichere Nahrung bot. Susannas Atem stockte. Unwillkürlich begann sie zu zählen, wie so oft im Hause der Großmutter angesichts der verglimmenden Lampe. Sie zählte bis hundert, dann noch bis dreißig. Erschreckt fuhr sie zusammen, als die Flamme knisterte. Noch ein Atemzug, und schwarze Finsternis umfing sie. Jetzt schloß auch sie die Augen; aber eine Weile dauerte es noch, bevor auch bei ihr wohltätige Bewußtlosigkeit das bekümmerte Gemüt umwebte.

Wie lange Susanna geschlafen hatte, wußte sie nicht, aber sie meinte, sich eben erst niedergelegt zu haben, als ein heller Schein ihre geschlossenen Lider durchdrang und sie, die Augen öffnend, den unheimlichen Raum wieder matt erleuchtet sah. Sie mußte sich förmlich besinnen, wo sie sich befand; dann erst hob sie den Kopf ein wenig empor, um die Ursache der Helligkeit kennen zu lernen. Kaum aber hatte sie den ersten Blick um sich geworfen, als sie mit einer Bewegung des Entsetzens zurücksank und dadurch auch den Bruder ermunterte. Erschrocken richtete dieser sich in eine sitzende Stellung auf. Ein Angstruf schwebte auf seinen Lippen; doch von jeher gewohnt, durch laute Offenbarungen der Furcht oder körperlichen Schmerzes die ihm zugedachten Qualen zu vergrößern, beherrschte er sich auch jetzt schaudernd. Nur der Schwester Hand ergriff er, wie Hilfe bei ihr suchend, infolgedessen Susanna ihre Fassung zurückgewann, sich ebenfalls aufrichtete und nach dem rätselhaften Licht hinübersah. Eine verbogene Blechlampe war es, deren ruhig brennende Flamme rötliche Beleuchtung verbreitete. Diese traf zunächst die zusammengekrümmte Gestalt eines anscheinend alten Männchens, das ihnen, sobald es in ihre geöffneten Augen sah, aufmunternd zunickte. Obwohl selbst mit allen unnatürlichen Verschränkungen der Glieder vertraut, bedurfte es sogar für sie schärferen Hinüberspähens, um die des seltsamen Menschengebildes zu entwirren.

Anscheinend auf den Händen stehend, hatte es die Beine nach vorn gehoben, und zwar derartig, daß die Unterschenkel über die Schultern hinweg auf den Nacken zu liegen gekommen waren. Dabei schaute es mit den kleinen blinzelnden Augen so munter drein, als ob die widernatürliche Stellung es nicht nur nicht ermüde, sondern ihm sogar großes Behagen bereite. Die Bekleidung bestand aus Pluderhosen von verblichenem rotem Kattun und einem faltigen, um die Hüften zusammengeschnürten Hemde von dem gleichen Stoff, dessen schadhafte Stellen, wie von Kinderhänden, mittelst weißer Fäden notdürftig ausgebessert waren. Sein spärlich behaartes Haupt bedeckte dagegen eine hohe, spitze Filzmütze, wie solche zur Vervollständigung eines Harlekinkostüms dienen. Wenn aber auf der einen Seite namenlose Furcht die Geschwister bei diesem Anblick befiel, so beruhigte sie andererseits wieder, in dem unheimlichen Fremden jemand zu erkennen, der gleich ihnen abgerichtet worden und dessen Vergangenheit augenscheinlich in Gauklerbuden lag. Ihr erstes Zagen milderte sich noch, als er seine verschlungenen Glieder entwirrte, sich vor sie hinkauerte und mit geheimnisvollem Wesen, jedoch freundlicher Stimme krächzte: »Schlaft ihr aber fest! Von unten herauf kommend, habe ich wohl eine Viertelstunde hier gearbeitet. Meine schwierigsten Künste führte ich aus, und doch merktet ihr nichts davon. Jetzt seid ihr munter, da wollen wir ordentlich eins zusammen reden. Ich hörte von euch. Das böse Weib versprach nämlich unten, morgen oder übermorgen abend solltet ihr eine Vorstellung geben, gegen die die meinige nicht mehr wert sei als ein Mundvoll Tabaksrauch. Ihr wäret richtige Schlangenkinder, deren Glieder ein halbes Dutzend Scharniere mehr zählten, als die jedes anderen vernünftigen Menschen. Sie möchten daher alle kommen und guten Durst mitbringen, auch klein Geld und andere lustige Burschen. Dergleichen kann ich aber nicht dulden. Ich allein muß der Beste sein. Deshalb wollt' ich euch raten, nicht anzutreten; denn die Gäste sind lauter schreckliche Menschen; denen ist's 'ne Lust, mit Nadeln zu stechen, 's Haar auf dem Kopf anzusengen, um andere dadurch zum Lachen zu reizen.«

»Wo sind wir denn?« nahm Susanna sich nunmehr ein Herz, zu fragen.

»Bei der Mutter Rowdy, der schauderhaften Hexe,« antwortete der offenbar geistesgestörte kleine Mann. Er schüttelte das Haupt heftig und fuhr noch geheimnisvoller fort: »Das ist ein schrecklicher Aufenthalt hier; da hatte ich es früher feiner. Da arbeitete ich nach Pauken und Trompeten, aber das erreichte eines Abends sein Ende, als ich auf der Spitze einer Menschenpyramide zwischen meinen eigenen Beinen hindurchkroch. Es warf mir nämlich jemand eine Apfelsine an den Kopf, daß ichs Gleichgewicht verlor. Rücklings fiel ich drei Mann hoch herunter auf den Schädel, daß mir die Besinnung schwand; was dann mit mir wurde, weiß ich nicht. Ich kam zwar nach langer Zeit wieder zu mir, allein die Apfelsine saß drinnen in meinem Kopf, und wenn die ins Rollen kommt, ist's mit meinem Gleichgewicht vorbei – da – da – jetzt setzt sie sich wieder in Bewegung. –« Beim letzten Wort warf er sich jählings hintenüber, und mit einer blitzschnellen Drehung stand er auf den Händen, die Beine wie Windmühlenflügel schwingend und den Körper fortgesetzt in den Hüften drehend.

»Das hilft augenblicklich,« erklärte er zugleich, die ihm mit bangem Erstaunen zuschauenden Geschwister verschmitzt angrinsend, »behaltet es aber für euch. Erfährt ein anderer das Geheimnis, so geht er in die Irrenhäuser und vollbringt da Wunderkuren für Haufen Goldes.« Er schnellte in seine kauernde Stellung zurück, und geschäftsmäßig, als sei nichts vorgefallen, erzählte er weiter: »Wie ich selber hierher kam, ist mir nie recht klar geworden. Aber ich war eines Tages da, und dafür, daß ich Wohnung und Beköstigung erhalte, übe ich des Abends vor dem Gesindel meine Kunst aus. Wolltet ihr ebenfalls hier auftreten, so entzöge man mir das Essen, und ich müßte elendiglich verhungern; das aber darf nicht geschehen. Daher ist's am besten, ich helfe euch von dannen, je eher, um so lieber. Die schauderhafte Hexe schließt mich zwar allabendlich ein, allein ich müßte mein Metier schlecht verstehen, würde ich dadurch festgehalten.«

Den Geschwistern grauste. Susanne raffte indessen ihren ganzen Mut zusammen und bemerkte zaghaft: »Fürchten Sie nicht, daß wir Ihnen schaden. Nur einige Tage bleiben wir, um dann von unseren Freunden abgeholt zu werden.«

»Wer behauptet das?« forschte der Clown, und sein bewegliches Gesicht spitzte sich zu, wie das einer Maus.

»Erst die Direktorin, bei der wir kurze Zeit verbrachten. Dann der Mann, der uns auf ihren Befehl hierher führte, und endlich die Frau, die uns in Empfang nahm.«

Der alte Clown sann einige Sekunden nach, überschlug sich schnell hintereinander rückwärts und vorwärts, und nachdem er seinen alten Platz wieder eingenommen hatte, brach er in ein herzliches, aber geräuschloses Lachen aus.

»Die? Die?« fragte er halb erstickt vor Ergötzen, »die lügen alle das Blaue vom Himmel herunter. Noch nie kam ein wahres Wort über ihre Zähne, und beeilt ihr euch nicht, von hier fortzukommen, so ergeht's euch wie mir. In Jahr und Tag ist's um euer Gleichgewicht geschehen, und statt meiner einen Apfelsine rollen in euren kleinen Schädeln deren drei herum. Was nennt ihr Freunde? Menschen, die eure Knochen in Fischbein verwandelten, daß ihr sie drehen und wenden könnt, wie 'ne Schnur in der Tasche? Unsinn; Leute unseres Schlages besitzen keine Freunde. Wir sind dazu da, nachdem wir einmal Schaden erlitten haben, gestoßen und mit Füßen getreten zu werden, oder wie ich selber jetzt, vor Lumpengesindel den Hansnarren zu spielen. Für uns gibt's kein Erbarmen, kein Mitleid. Jeder mag uns zum allgemeinen Ergötzen nach Belieben mißhandeln, das merkt euch. Mit euren Freunden ist's also nichts. Wer hier bleiben, um einem armen Teufel den letzten Broterwerb abzuschneiden, wäre auch gegen die Vernunft; gibt's also nur den einen Ausweg, euch wenigstens aus dieser Falle davonzuhelfen, bevor es zu spät geworden.«

»Wenn wir nur wüßten, wohin,« versetzte Susanna in ihrer Not.

»Fort von hier ist das erste und die Hauptsache, nachher sehen wir weiter. Überlegt euch die Sache ordentlich; dazu gebe ich euch drei Tage Zeit. Besitzt ihr wirklich Freunde, so müßt ihr wissen, wie sie heißen und wo sie zu finden sind. Glaubt ihr aber, daß ein anderer als ich euch zu ihnen führen würde, so seid ihr noch viel dümmer, als man euch mit euren offenen Telleraugen halten sollte. Und nun gute Nacht. Morgen um dieselbe Zeit bin ich wieder zur Stelle. Bis dahin müßt ihr eine Entscheidung getroffen haben. Denn seid ihr bei der Hexe da unten erst warm geworden, macht euch kein Teufel mehr los. Stört ihr aber meinen Broterwerb, so zeige ich euch, daß ich ebenso niederträchtig sein kann, wie freundschaftlich.«

Eine boshafte Grimasse schneidend, sprang er empor, und die Lampe ergreifend, schlüpfte er eiligst aus dem Zimmer.

Die Geschwister blickten ihm bestürzt nach. Ängstlich lauschten sie auf das Geräusch, mit dem er die Tür genau in dieselbe Lage zurückbrachte, in der er sie zuerst gefunden hatte, dann erst hüllten sie sich, fröstelnd vor Grauen, wieder in ihre Decken ein. Lange flüsterten sie noch miteinander, der Knabe, indem er die Angst vor dem unheimlichen Alten schilderte, Susanna ihn tröstend und ermutigend. Auch ihr hatte der Unglückliche Furcht eingeflößt; aber instinktartig, fühlte sie heraus, daß sein Irrsinn im Grunde nicht bösartig war. Das Bewußtsein, daß er wiederkommen würde, förderte sogar ein gewisses, sich matt regendes Sicherheitsgefühl. Über die nächsten Stunden hinauszudenken vermochte sie aber nicht. Wohin sie ihre geistigen Blicke richten mochte: überall begegnete sie Schreckgestalten, die ihr Entsetzen einflößten. Unter diesen befand sich der eigene Vater in erster Reihe. Dazwischen tauchte dann wieder die Gräfin auf, die Dame, von der sie Worte vernahm, wie solche nie zuvor zu ihren Ohren drangen; Worte der Güte und warmen Teilnahme, die ihr jetzt noch heiße Tränen in die Augen trieben, ihr armes, geängstigtes Herz mit unsäglichem Weh erfüllten.

Ihr Bruder war längst eingeschlafen, da weinte sie noch in dem traurigen Bewußtsein gänzlicher Vereinsamung und Verlassenheit. Der Morgen meldete sich bereits an, als endlich süße, wohltuende Vergessenheit sich um ihre Sinne legte.


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