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Fünfzehntes Kapitel.

Neue Fährten. Die letzte Kunstvorstellung. Hyänen der Nacht. .

Tage entschwanden und nach wie vor unternahmen Maud und Sunbeam die gewohnten Ausflüge, jedoch stets in einer Richtung, in der sie nicht Gefahr liefen, Peldram zu begegnen Die Gräfin dagegen verbrachte ihre Zeit abwechselnd auf der Pandora und in der Stadt. Die Kunde von der Nähe des Eremit und das Bewußtsein, in ihren Bewegungen fortgesetzt überwacht zu werden, schienen gar keinen Eindruck auf sie ausgeübt zu haben; weder das eine noch das andere berührte sie jemals in ihren Gesprächen. Ihr ganzes Sinnen und Trachten galt allein der Aufgabe, die beiden Schlangenkinder an sich zu bringen. Sich persönlich an den Nachforschungen zu beteiligen, vermied sie vorsichtig. Sie mußte befürchten, erkannt zu werden, was gleichbedeutend mit dem gänzlichen Scheitern ihrer Pläne gewesen wäre. Das vorläufige Kundschaften übertrug sie daher Ghastly und Niels Knudson, von deren gutem Willen sowie Gewissenhaftigkeit sie sich überzeugt halten durfte. Gemeinschaftlich oder vereinzelt durchstreiften sie die Stadt nach allen Richtungen.

So waren vier Tage verstrichen, und der Gräfin Hoffnung auf ein günstigeres Ergebnis begann schon zu wanken, als Niels einen abermaligen Versuch unternahm, durch den Vater der Kinder selbst auf deren Spuren geführt zu werden. Bald nach Einbruch der Dunkelheit hatte er sich in die Nachbarschaft des Heims der Witwe Holiday begeben. Dort auf dem Wege, den Galbrett, wenn er überhaupt ausging, allein einschlagen konnte, erging er sich nach Müßiggänger Art langsam und wenig auffällig. Den zwischen den Stallgebäuden sich verlierenden Pfad fortgesetzt im Auge, entdeckte er nach Ablauf einer halben Stunde in dessen Mündung eine Gestalt, die sich der Stadt zuwendete. Hastig kehrte er sich um, und seine Schritte beschleunigend, eilte er so weit zurück, daß er unterhalb einer Laterne mit der fraglichen Gestalt zusammentreffen mußte. Einen sicheren Blick wollte er auf sie werfen, um sich zu vergewissern, daß er in der Person nicht irrte. Denn das Bild, das er einst zur nächtlichen Stunde von Galbrett gewonnen hatte, war zu verschwommen, als daß es ohne der Gräfin nachträgliche Schilderung bis zum Wiedererkennen in seinem Gedächtnis hätte haften bleiben können.

Sein Plan glückte. In dem Augenblick, in dem die Flamme der Laterne sein Antlitz beleuchtete, sah er in das gleichfalls von dem Lichtschein voll getroffene Gesicht Galbretts. Nicht länger in Zweifel, wollte er achtlos vorüberschreiten, als jener vor ihm stehen blieb und mit einem seltsamen Gepräge des Unglaubens ihn anstarrte. Sein Verdacht, selbst erkannt worden zu sein, verstärkte sich zur Überzeugung, als Galbrett, dessen Physiognomie einen leichenhaften Ausdruck angenommen hatte, mit einem grimmigen Fluch zurückprallte und schnell den Schatten der gegenüberliegenden Seite der Straße suchte. Nur wenige Schritte legte Niels noch zurück, dann aber heftete er sich vorsichtig an Galbretts Fersen, wodurch er binnen verhältnismäßig kurzer Zeit an den Strom gelangte. Dort bestieg Galbrett sein Boot; er war indessen noch nicht weit auf den Fluß hinausgerudert, als Niels jemand gefunden hatte, der ihn gegen Entgelt ebenfalls übersetzte. Er landete früh genug, um Galbrett, der mit dem Festketten seines Bootes Zeit verlor, in sicherer Entfernung in die abendlich belebte Stadt hinein folgen zu können.

Um die gleiche Zeit war es, vielleicht etwas später, als die beiden Schlangenkinder, nachdem sie ihre Vorstellung beendigt hatten, in dem Direktorwagen sich umkleideten. Bald darauf verließen sie in Begleitung der Direktorin den ihnen angewiesenen Wohnungsraum. Von dieser an den Händen geführt, schlichen sie um das geräuschvoll belebte Zelt herum, wo sie nach wenigen Schritten von der laternenlosen Dunkelheit ausgenommen wurden.

»Ich ertrag's nicht länger,« redete das Weib ihnen mütterlich zu, »zu beobachten, wie ihr ums tägliche Brot eure Glieder elendiglich verrenkt; denn auch ich habe ein Herz für die Mitmenschen. Brächte ich euch zu eurem Vater zurück, so wär' euch wenig geholfen; dort harrten eurer nur Mißhandlungen, und dazu biete ich nicht die Hand. Da hieß ich es willkommen, als zwei unbekannte Freunde sich bei mir nach euch erkundigten. Ein Herr war's im Seemannsanzuge und eine vornehme Dame; die versprachen, euch mit übers Meer zu nehmen und wie ihre eigenen leiblichen Kinder zu behandeln. Wir befinden uns jetzt auf dem Wege zu ihnen. Geschieht's heimlich, so kann's euch nicht wundern. Seid ihr erst in Sicherheit, so werden eure Freunde den Vater darüber unterrichten. Da ich selbst aber, um keinen Argwohn zu erregen, im Zelt mich zeigen muß, so habe ich Jannock beauftragt, euch den guten Menschen zuzuführen. In einer halben Stunde seid ihr bei ihnen, da werdet ihr aufatmen nach so manchem bitteren Leid. Denn ob die Kunst mein Broterwerb, mein Stolz und meine Freude, so gestehe ich's doch ehrlich, daß ihr nicht dazu geschaffen seid, mit halsbrecherischen Vorstellungen den Leuten die Zeit zu vertreiben.«

Wie im Traume vernahmen die Geschwister die tröstlichen Worte. Wohl schwebte ihnen vor, ihr trauriges Dasein mit einem Leben in lichteren Kreisen zu vertauschen, statt der ewigen Schmähungen und Verwünschungen Äußerungen der Güte und der Liebe zu hören; allein um sich ein Bild von der ihnen vorgespiegelten Zukunft zu entwerfen, waren sie im Laufe der Zeit zu sehr eingeschüchtert worden. Wie im Bösen, so kannten sie auch jetzt im Guten nur stummes Unterwerfen unter das, was über sie verfügt wurde. Schweigend lauschten sie daher den Mitteilungen der Direktorin. Wohin sie zunächst geführt wurden, sie wagten nicht, darnach zu fragen. Sie gewahrten nur, daß sie, auf einem Umwege die dunkle Umgebung verlassend, einer mit wenigen Laternen besetzten Straße sich näherten, in die sie von der Direktorin nach flüchtigem Umherspähen hineingezogen wurden. Dort, im Schatten der ersten Häuser, blieben sie stehen. Vereinzelte Menschen kamen und gingen. Von dem ihnen noch sichtbaren transparenten Zelt tönten Paukenschläge, das Rasseln von Becken und Triangel, wie das Jammern einer im Schnelltakt gedrehten Orgel herüber.

»Wie es dort munter hergeht!« meinte die Direktorin, indem sie sich wieder langsam in Bewegung setzte, »immerhin ein lustiges Leben, das ihr aufgebt; aber ich gönn' euch den Wechsel von Herzen.«

Sie sprach noch, als ein Mann sich ihnen näherte. Er pfiff die Melodie, die eben in dem Zelt gespielt wurde.

Die Direktorin hustete. Gleich darauf trat der Fußgänger zu ihnen heran. Trotz der Dunkelheit und obwohl ein langer Rock seine Gestalt fast bis zu den Füßen hinunter verhüllte, erkannten die Geschwister an seinen Bewegungen Jannock.

Nachdem er der Direktorin eine kurze Bemerkung zugeraunt hatte, die diese mit einem unwirschen: »Das fehlte noch,« beantwortete, eilte sie, die Hände der Geschwister fester packend, auf dem Wege zurück, den sie gekommen waren. Doch nur eine kurze Strecke, dann zog sie ihre Schutzbefohlenen mit sich in einen finsteren Winkel hinein, der von zwei nicht ganz zusammenstoßenden Häusern gebildet wurde. Der Sicherheit halber stellte Jannock sich vor ihnen auf, so daß sogar ein zufällig hinein verirrter Lichtstrahl sie nicht gefunden hätte. In der nächsten Minute schritt Galbrett vorüber. Die Direktorin erkannte ihn trotz der mangelnden Beleuchtung an dem Gange und den Umrissen seiner Gestalt. Argwöhnisch beobachteten die beiden Verbündeten von ihrem Versteck aus, wie er die Richtung auf das Zelt zu verfolgte, als abermals Schritte sich näherten. Zwei Männer waren es, die halblaut zueinander sprachen.

»Paß auf, Maat,« unterschieden sie Ghastlys Stimme, der verabredetermaßen, gleich nachdem Niels gelandet war, auf dessen unauffälliges Signal sich ihm beigesellt hatte: »ich sage dir, paß auf, er geht in das Zelt, da werden die Kinder nicht weit sein.«

Die ebenfalls gedämpfte Erwiderung verhallte.

Die Direktorin, sonst keine zaghafte Natur, fühlte bei dieser unzweideutigen Kundgebung, deren Ursprung sie leicht erriet, dennoch das Blut schneller durch ihre Adern kreisen. Es schwebte ihr vor, daß sie ihr Versteck nur eine Minute früher zu verlassen brauchte, um Galbretts Verfolgern die Geschwister gerade in die Arme zu führen. Doch ihre Fassung war nicht leicht zu erschüttern; denn noch befanden die beiden Maats sich in ihrem Gesichtskreise, als sie den Geschwistern sich wieder zuneigte.

»Dankt eurem Schöpfer,« sprach sie, »das war nämlich euer Vater. Entdeckte er euch, so war's mit eurer goldenen Zeit bei den guten Menschen nichts. Ich gehe jetzt zurück, um ihm ein Märlein über euren Verbleib aufzutischen. Herr Jannock wird euch unterdessen dahin begleiten, wo eure Freunde euch erwarten. Seid nur recht folgsam und erschwert ihm nicht die menschenfreundliche Aufgabe.« Sie küßte die Kinder, und mit den Worten: »Gott behüte euch. Es geschieht alles zu eurem Besten,« trat sie ins Freie hinaus. Etwas später folgte Jannock ihrem Beispiel. Die Geschwister ebenfalls an den Händen führend, verlor er sich alsbald in das öder werdende Straßengewirre der verrufensten Stadtteile. –

Wenn je die Direktorin sich schnell umkleidete, so geschah es an dem heutigen Abend, nachdem sie in ihren Wagen zurückgekehrt war. Obwohl noch atemlos von der schnellen Wanderung, dauerte es doch keine zehn Minuten, bis sie als Odaliske mit Turban und Reiherbusch den linnenen Kunsttempel betrat. Ihr flitternbesetzter Eheherr, der bereits ängstlich nach ihr ausschaute, war eben im Begriff, auf dem gespannten Seil die gewagtesten Sprünge auszuführen. Sobald er aber seine schlauere Hälfte entdeckte und in deren zustimmend blinzelnden Augen las, daß das Unternehmen geglückt sei, schien seine Kunstfertigkeit noch zu wachsen. Hinaus und hinunter schnellte das federnde Tau unter seiner beweglichen Last, und die schwere Balancierstange handhabte er mit so viel Anmut und Würde, als wäre es nur ein Pfeifenstiel gewesen. Seine Unruhe war nämlich vorher dadurch auf den Gipfel getrieben worden, daß er im Hintergrunde des Zuschauerraumes plötzlich Galbretts ansichtig wurde. Und doch schaute dieser so befriedigt darein, wie nur möglich, wenn jemand sich frei weiß von jeder peinlichen Befürchtung. Und es konnte nicht anders sein, nachdem ihm in der vorhergehenden kurzen Pause zu Ohren gekommen war, daß die beiden Schlangenkinder an dem heutigen Abend Unglaubliches geleistet hätten. Ähnliches vernahmen Ghastly und Niels draußen, wo noch einige Neugierige den Eingang umstanden und sich lebhaft über die Wunderkinder unterhielten. Weiter, als bis dahin, wagten die beiden Kundschafter sich indessen nicht. Außerdem betrachteten sie ihre Aufgabe als erfüllt und beeilten sich, der Gräfin eine Nachricht zu überbringen, wie sie nach den vielen Mißerfolgen kaum noch erwartet wurde.

Bild: Max Vogel

Das flitternbesetzte Ehepaar hatte den gemeinsamen Tanz auf dem Seil beendigt und war, von geräuschvollem Beifall verfolgt, hinter einem Vorhang verschwunden.

»Der Satan über den Schurken,« grollte der Direktor, und ein rotgeblümtes Tuch hinter der nächsten Zeltleine hervorziehend, trocknete er seine glühende Stirn, »daß ihn der Henker gerade heute abend hierherführen muß.«

»Zu keiner günstigeren Zeit hätte er kommen können,« erwiderte die Odaliske, mit dem Turban sich lebhaft Kühlung zufächelnd. »Laß mich nur machen,« fuhr sie fort; fast gleichzeitig öffnete sich der Vorhang, und vor ihr stand Galbrett. »Ah, da sind Sie selbst,« redete sie ihn sofort freundschaftlich an, »wären Sie doch früher eingetroffen: Ihr väterliches Herz hätte gejubelt beim Anblick der Kinder. Sie übertrafen sich selbst, und ich stehe nicht an, zu behaupten. daß sie binnen nicht zu langer Frist als Sterne erster Größe am Kunsthimmel erglänzen werden.«

»Ich hörte bereits ihr Lob singen,« versetzte Galbrett sichtbar befriedigt, »und wünsche vorläufig weiter nichts, als daß die bekannte Lustjacht draußen im Hafen bei allen Teufeln wäre. Denn, ich gestehe es offen, seitdem mir zu Ohren gekommen ist, daß man hier und da nach den Kindern forschte, traue ich der Gesellschaft das Ärgste zu. Und was könnte diese Ausländer noch länger hier halten. Wenn nicht der Plan des Kinderraubes?«

»Ihrer – leibeigenen Kinder?« fragte die Direktorin anscheinend arglos; »ich dächte, das wäre mehr, als ein gesetzwidriges Unternehmen. Erwägen Sie: Ihr eigen Fleisch und Blut.«

»Ränke spielen überall,« versetzte Galbrett, sichtbar unruhig den Blick der Direktorin meidend, »und was wollten Sie beginnen, wenn mein eigen Fleisch und Blut eines Tages heimlich von hier entführt würde und eine Stunde später die Jacht mit ihm aufs hohe Meer hinaussegelte?«

»Mit dem Entführen eilt's nicht,« erklärte der Direktor, und auf seinem Lederantlitz offenbarte sich eine gewisse Geringschätzung, »mein Wagen ist meine Burg, die ich gegen hinterlistige Angriffe nachdrücklich zu verteidigen verstehe.«

»Gut gesagt,« warf die Odaliske ein, die in der Hast den Turban verkehrt auf ihr Haupt gedrückt hatte, »hier sprechen aber andere Dinge mit, nämlich – ich wiederhole es ausdrücklich – die Rechte des Vaters;« und gewährend, daß Galbrett abermals, wie von einer unsichtbaren Waffe getroffen, zur Seite sah, fügte sie berechnend hinzu: »Rechte, die sich des Schutzes der Behörden erfreuen. Die armen Dinger, sie ahnen nicht, daß aus allen Seiten Verrat lauert. Nach den ungewöhnlichen Anstrengungen des heutigen Abends brachte ich sie sofort zu Bett. Ich verließ sie vorhin erst. Sie schlafen bereits und bieten ein herziges Bild. Sie sollten sie wirklich einmal betrachten. Ihr väterliches Herz würde vor Wonne zittern.«

»Heute nicht mehr,« antwortete Galbrett kühl ablehnend, »ungern möchte ich sie ermuntern. Wenn sie indessen durch ihre Leistungen die Einnahmen vergrößern halfen, so wäre eine weitere Abschlagszahlung nicht mehr als recht und billig.«

»Wir heißen Buonaventura,« versetzte die Direktorin erhaben, »jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und ich wünsche aufrichtig, noch recht oft Gelegenheit zu finden, mich erkenntlich zu zeigen.«

Bild: Max Vogel

Sie zählte ihm aus der Abendkasse eine Anzahl Silbermünzen in die Hand, wiederholte nochmals die Aufforderung, seinen Kindern wenigstens einen Blick zu schenken, und wiederum weigerte sich Galbrett, sie nach dem Wagen zu begleiten. Nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß die Geschwister vor einer Stunde erst den Beifall der Zuschauer errangen, und das Geld in seine Tasche geglitten war, hielt ihn nichts mehr. Ein kräftiger Händedruck, den er mit den beiden würdigen Gatten wechselte, legte Zeugnis von seinem Vertrauen ab; ein aufrichtig klingendes: »Auf baldiges Wiedersehen!« offenbarte ernstes Wohlwollen hier wie da, und bald darauf eilte er ebenso schnell durch die dunklen Gassen und Straßen, wie er gekommen war. – Die Vorstellung war beendigt, die Zuschauer hatten sich zerstreut. Tiefe Stille herrschte. In dem Zelt brannte nur ein einsames Licht. Wie von Geistern getragen, huschten aber Laternen hierhin und dahin, indem man alles, was zu dem fliegenden Kunsttempel gehörte, sorgsam zusammenschnürte und in die verschiedenen Wagen schob. Das Zelt fiel zuletzt. Fast gleichzeitig trafen acht aufgeschirrte Pferde ein, um vor die Wagen gespannt zu werden. Ein letzter Trunk wurde gewechselt, die Laternen an den Wagen befestigt, und wie Gespenster flink und schweigsam schlüpften die Mitglieder der berühmten Künstlergesellschaft auf ihre Plätze. Die Pferde zogen an, und einige Minuten später, da lag der bisher so lustig belebte Platz still wie ein Friedhof.


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