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Fünftes Kapitel.

Der Lotse. An Bord der Pandora. Vergebliches Werben.

Nachdem der Kutter unter die volle Botmäßigkeit der Segel und des Steuers gelangt war, verfolgte er seinen Kurs zwischen Klippen und Schäreninseln hindurch in nordwestlicher Richtung. An dem Steuerrad stand Sture selber. Vier andere Männer hatten sich über das Fahrzeug verteilt, um beim Wenden und Bedienen der Segel sogleich zugreifen zu können. Niels stand vorn im Bug, das offene Fernrohr in den Händen und, wo nur immer an den Eilanden vorbei ihm Gelegenheit dazu geboten wurde, einen Blick auf das des Lotsen bedürftige Schiff zu erhaschen.

So erreichte der Kutter, vor den gepreßten Segeln in dem verhältnismäßig ruhigen Wasser mit rasender Schnelligkeit einherschießend, die eigentliche Einfahrt des Fjords, wo der wachgerüttelte Ozean in beträchtlicher Breite ihm seine schweren Dünungen ungehemmt entgegenwälzte. Dort, wo die Kühlte mit ungebrochener Gewalt wehte, wurden die Segel verkürzt und das Steuer herumgeworfen, so daß der Bug westlich wies, und ohne vorhergegangenes Wenden gelangte der Kutter in die offene See hinaus. Doch wie in dem geschützten Wasser, arbeitete das kleine Fahrzeug auch hier inmitten der brandenden Wogen mit bewundernswerter Sicherheit.

Als der Kutter aus dem Bereich des Fjords herausgetreten war, hatte die Pandora eben gewendet und verfolgte mit dicht gerefftem Klüver, Groß- und Gaffelsegel einen Kurs, der sie nördlich der gefährlichen Küste allmählich etwas näher brachte. Es geschah, um es dem Kutter zu erleichtern, baldigst seinen Mann an Bord zu senden. Der Kutter hielt dagegen eine Richtung, die ihn weit über das Fahrwasser der Pandora hinausführte. Dort wendete er dann ebenfalls, und so genau hatte der alte Sture die Entfernungen berechnet und mit der Schnelligkeit der beiden Fahrzeuge verglichen, daß er nach Ablauf von kaum einer Viertelstunde das Kielwasser der Pandora dicht hinter deren Spiegel kreuzte. Erst an ihr vorbei, warf er den willig gehorchenden Kutter herum, und die Segel der Kühlte voller darbietend, gelangte er binnen kurzer Frist auf der Leeseite der Pandora in sicherer Entfernung seitlängs von ihr.

Simpson, vertraut mit der Verwegenheit der norwegischen Lotsen, befand sich auf dem Quarterdeck und fragte, sobald der Kutter in Rufweite gesteuert war, durchs Sprachrohr, auf welche Art der Lotse an Bord zu kommen vorziehe.

Niels stand auf der Luvbordschanze, mit der linken Hand sich an den Wanten haltend.

»Sendet ein Tau nach der Raanocke hinauf!« rief er zurück. »Zieht's durch den Block! Schlagt eine Schleife ins Ende und laßt sie mit 'ner Leine zum Anholen über Bord hängen!«

Eine kurze Strecke legten die beiden Schiffe noch in gleicher Höhe miteinander zurück. Erst nachdem das Tau in vorgeschriebener Weise befestigt worden war, fiel der Kutter von seinem Kurs ab, infolgedessen er gegen hundert Ellen hinter der Pandora zurückblieb. Diese war zur gleichen Zeit so weit aus dem Winde gedreht worden, daß ihre Segel zu flattern begannen, sie also die Schnelligkeit ihrer Fahrt mäßigte, und von der Luvseite her Sturzsee auf Sturzsee über ihr Deck polterte. Nunmehr aber schoß der Kutter, als hätte er frischen Atem geschöpft gehabt, mit beschleunigter Eile so dicht an der Pandora vorbei, daß Niels das schwingende Tau zu ergreifen vermochte. Mit Gedankenschnelligkeit hatte er mit der freien Hand die Schleife geöffnet und unterhalb der Arme um seinen Körper gelegt, und die andere noch immer an den Wanten festgeklammert, rief er nach oben: »Holt an!«

»Holt an?« hieß es bei dem Tosen und Brausen der schäumenden Seen kaum vernehmbar von einem Dutzend Stimmen zurück: fast gleichzeitig spannten Tau und Leine sich an. Niels ließ seinen Halt fahren und packte das Tau mit beiden Händen, und ebenso schnell, wie der von einer Dünung entführte Kutter unter ihm fortglitt, fühlte er sich von dem Tau emporgehoben. Auf dasselbe Kommando wurde er mittels der an der Schleife befestigten Leine nach der Schanzverkleidung der Pandora hinübergerissen, wodurch er bei dem heftigen Schlingern des Schiffes vor verderblichem Aufschlagen bewahrt blieb. Gleich darauf sprang er wohlgemut von der Regeling auf Deck. Sorglos schüttelte er das Wasser von seinen Kleidern und grüßte die dort anwesenden Matrosen; ebenso gleichmütig schritt er, um seinen Dienst anzutreten, nach dem Quarterdeck hinüber. Im Begriff, auf der schmalen Treppe nach oben zu steigen, säumte er, um den eben am Steuerrad abgelösten Deckhänden Raum zu geben. Ihrer zwei waren es ausnahmsweise des schweren Seeganges wegen. Achtlos ging der vordere an ihm vorüber. Der zweite befand sich aber noch auf der untersten Stufe, als er plötzlich stehen blieb und, wie von Schwäche übermannt, mit beiden Fäusten nach der als Geländer dienenden Messingstange griff. Befremdet sah Niels zu ihm auf, und Schrecken bemächtigte sich seiner selber, als er in ein geisterhaft fahles Antlitz schaute, aus dem zwei unheimlich tief liegende Augen ihn mit einem unzweideutigen Ausdruck des Entsetzens anstarrten. Doch nur wenige Sekunden währte diese lähmende Bestürzung; dann hatte Ghastly seine Fassung zurückgewonnen. Durch einen flüchtigen Blick sich überzeugend, daß weder oben noch unten jemand auf seine Bewegung aufmerksam geworden war, kehrte er sich Niels wieder zu.

»Der Henker über die Jahre,« redete er ihn an, sein Leichenantlitz durch erzwungenes Grinsen noch mehr entstellend, »bist du erst ergraut, Maat, wie ich, mag's auch dir zuweilen ins Gallion schießen, daß ein wackliger Schiffsboden dirs Gleichgewicht stört, wie 'nem leichtfertigen Topgast, der 'ne Pinte Branntwein über den Durst trank.«

Nachdem er diese Worte, über deren Zahl alle an Bord in gerechtes Staunen geraten wären, förmlich hervorgestoßen hatte, nickte er Niels abermals grinsend zu, und festen Schrittes folgte er dem Kameraden nach dem Vorderschiff hinüber.

Bild: Max Vogel

Niels dagegen war noch immer so verstört, daß er ihm eine Antwort schuldig blieb. Durch eine über Deck klatschende Sturzsee an seine Pflicht gemahnt, schwang er sich indessen nach dem Quarterdeck hinauf, und ohne sich um die dort Anwesenden zu kümmern, unterrichte er sich zunächst durch einen Blick über die Lage der Pandora, die wieder ihren alten Kurs verfolgte. Ein zweiter Blick galt dem Kutter, der wie eine Schwalbe über die schäumenden Wogen hin der Einfahrt zuschoß, und dann erst kehrte er sich mit einem kurzen Kommando den beiden Matrosen am Steuerrad zu. Eine Weile überwachte er das von der Drehung des Schiffes abhängige Schwanken der Magnetnadel, und neben Simpson hintretend, der nicht ganz frei von Zweifeln die jugendliche Gestalt betrachtete, in deren Hände er das Wohl und Wehe der Pandora niederlegen sollte, begrüßte er ihn höflich in fließendem Englisch. Er hatte ihn eben über den inne zu haltenden Kurs unterrichtet, der ein kurzes Segelmanöver notwendig machte, als die Gräfin, die so lange einige Schritte abseits gestanden hatte, zu ihm herantrat.

»Sie sind der englischen Sprache überraschend mächtig,« redete sie ihn in der ihr eigentümlichen, vornehm ruhigen Weise an, »oder stört es Sie, wenn Sie einige Worte mit mir wechseln?«

Niels grüßte ehrerbietig, kehrte sich aber alsbald dem langsam herumschwingenden Vorderschiff wieder zu, indem er zugleich erklärte: »Durchaus nicht. Ich bin zu vertraut mit dem Fahrwasser hier herum. So lange die Männer am Steuerrad auf meine Zeichen achten, werde ich durchs Reden nicht behindert. Brauch' nur die Küste, Schären und Brecher im Auge zu behalten, um das Schiff ohne Havarie in den Fjord zu schaffen. Befinden wir uns erst unter dem Schutz der Inseln, so erreichen wir Stavanger bald genug.«

Aufmerksam hatte die Gräfin den Mitteilungen des jungen Lotsen gelauscht. Mit seinem heiter zuversichtlichen Wesen übte er offenbar einen günstigen Eindruck auf sie aus. Eine Weile betrachtete sie ihn wohlgefällig, wie er, als wäre er mit den Deckplanken verwachsen, dem heftigen Schwanken des Schiffes begegnete und, die Blicke nach vorn gerichtet, durch Heben der rechten oder linken Hand die Leute am Steuerrad unterwies, dann bemerkte sie: »Stavanger will ich überhaupt nicht anlaufen, wenn nicht besondere Umstände es erheischen. Ich hörte von einer Insel, Utstejn geheißen, die im Buknfjord liegen soll.«

Niels warf einen Blick des Befremdens auf die Gräfin, und die Bewegungen der schwer stampfenden Pandora wieder überwachend, erwiderte er bereitwillig: »Das Eiland sollte ich kennen, da ich selbst dort zu Hause bin; ein weiter Weg ist's bis dahin ebenfalls nicht. Haben wir erst das weiße Wasser überwunden, schafft's ein Segler, wie dieser Schoner, in kurzer Zeit. Möchte aber eine Frage tun, wenn's erlaubt ist. Es geschieht nicht oft, daß eine vornehme Lady auf Utstejn vorspricht, während eine schöne, große Stadt so nahe liegt. Es gehören ernste Gründe dazu, um solch' unwirtlichem Felseneiland so viel Ehre zu erweisen.«

»Also Utstejn nennen Sie Ihre Heimat?« fragte die Gräfin nachdenklich, als hätte sie Niels' letzte Bemerkung überhört; »so können Sie mir vielleicht sagen, ob dort eine Familie Larsen wohnt?«

Abermals warf Niels der Gräfin einen Blick des Erstaunens zu und antwortete nach kurzem Sinnen: »Eine ganze Familie Larsen nicht, aber eine alte Witwe Larsen, und die ist meine Großmutter. Meine Mutter, namens Knudson, ebenfalls Witwe, wohnt bei ihr, und ich sorge für beide.«

»Besitzt oder besaß die Witwe Larsen einen Sohn?«

»Wohl hatte sie den, aber der starb in jungen Jahren. Er ging zur See und kehrte nicht zurück. Ich selber war damals ein kleines Bürschchen, entsinne mich aber des Jammers, als Jahr auf Jahr verging, und keine Nachricht von ihm einlief.«

»So weiß man nicht, auf welchem Schiff er zuletzt fuhr?«

»Ich glaube, meine Mutter kennt den Namen,« antwortete Niels, »aber sie redet nicht gern darüber, da vergeht einem die Lust, sie drum zu befragen.« Er hob die linke Hand, für die Steurer ein Befehl, kräftiger in die Speichen zu greifen. Fast gleichzeitig kommandierte Simpson alle Hände zum Brassen.

Die Gräfin trat zurück. Sie begriff, daß die Pandora nunmehr bis dahin gelangt war, wo deren Führung des jungen Lotsen ungeteilte Aufmerksamkeit erheischte. Bald darauf erschienen Maud und Sunbeam auf Deck, um, gleich ihr, in das Anschauen der wilden Szenerie sich zu vertiefen.

Mit gespannter Teilnahme beobachtete Simpson, wie das flinke Schiff unter der Leitung des jungen Lotsen bald mehr, bald weniger von seinem Kurs abfiel und eine Bahn verfolgte, die es oftmals mitten in das dumpf brüllende weiße Wasser hineinführte. Erst nachdem es so tief in den sich seeartig öffnenden Fjord eingedrungen war, daß Inseln und Riffe ihm Schutz gegen den unmittelbaren Wogendrang gewährten, wurde seine Fahrt eine stetigere. Dann noch eine kurze Streck südöstlich – und die Pandora bog um die Insel Hansken herum, hinter der sich allmählich ein zweites, kleineres Eiland hervorschob.

»Hier vor uns Utstejn und auf der Seite mein Heimatsort,« wendete Niels sich nunmehr an die Gräfin, und wie geblendet betrachtete er die ihr zur Seite stehenden lieblichen Mädchengestalten.

»Ist geeigneter Ankergrund in der Nähe?« fragte die Gräfin.

»Vor der Südspitze,« antwortete Niels, »unser Örtchen ist von dort aus sichtbar. Zwanzig Minuten guten Ruderns bringen ein Boot dahin.«

»Gut,« versetzte die Gräfin, »so führen Sie das Schiff auf eine Stelle, wo es ungestört einige Tage liegen mag.« Sie säumte, bis Niels die nötigen Ratschläge an Simpson erteilt hatte, und aufs neue eröffnete sie eine Unterhaltung mit ihm.

»Von dem Bruder Ihrer Mutter hörte man nie wieder etwas?« hob sie an.

»Nicht ein einzig Wort,« hieß es zurück.

»Vergessen und verschollen,« sprach die Gräfin wie im Traume vor sich hin.

Niels suchte ihre Augen. Unbegreiflich erschien ihm, daß eine Fremde so viel Teilnahme für die Geschichte einer Fischerfamilie hegen könne.

»Verschollen – ja, aber nicht vergessen,« bemerkte er zögernd, wie über die Tragweite seiner Worte mit sich zu Rate gehend; »daß er nicht vergessen wird, dafür sorge ich selber. Leute, die ihn gekannt haben, behaupten nämlich, ich wäre sein Ebenbild. Dann ist da die Großmutter. Der Erich war nämlich ihr alles; so vergeht auch kein Tag, an dem sie nicht von ihm redet.«

»Das gefällt mir an ihr,« warf die Gräfin ein, und doch umdüsterte sich ihr Antlitz, »Mutter bleibt Mutter; die Sorge um ihr Kind erlischt erst mit dem letzten Atemzuge.« Sie gab den beiden Mädchen ein Zeichen, zurückzubleiben, und mit Niels nach dem Spiegel des Schiffes hinüberschreitend, wo ihr Gespräch keine anderen Ohren erreichte, hob sie wieder an: »Ist nicht sonst noch jemand da, der des Verschollenen freundlich gedenkt? Ich meine eine Braut?«

Zweifelnd sah Niels zu der Gräfin auf. Immer mehr befremdete ihn deren Eindringen in Verhältnisse, die er als ihr doch fern liegend betrachten mußte. Aber geneigt, ihre letzte Bemerkung dem Zufall zuzuschreiben, erwiderte er freimütig: »Offen, wie Sie fragen, will ich auch antworten. Ja, der Erich Larsen besaß eine Braut, sie heiratete später einen anderen.«

Herbe lachte die Gräfin vor sich hin.

»Das nennt man Liebe,« versetzte sie spöttisch. »Sie heiratete einen anderen und wurde glücklich mit ihm?«

»Eher das Gegenteil,« erwiderte Niels, und mit scharfem Blick entdeckte die Gräfin, daß es in dem frischen Antlitz feindselig aufflackerte; »kehrte meiner Mutter Bruder heim, kam alles anders und besser. Da wäre manche Träne ungeweint geblieben.«

»So ist jener andere ein hartherziger Mann?«

»Der hat überhaupt kein Herz, höchstens für die Kronen, die er zusammenscharrt.«

»Dann findet sie Ersatz in ihren Kindern?«

»Nur eine Tochter besitzt sie, ein rechtschaffenes Mädchen; ob die ihr viel Freude einträgt, ist aber auch eine andere Frage.«

Mit erwachendem Verständnis sah die Gräfin in des jungen Mannes Augen. Dieser kehrte sein Antlitz ab, wie um sich über die Entfernung bis zum Ankergrunde hin zu vergewissern, in der Tat aber um zu verheimlichen, daß das wilde Blut ihm bis in die Schläfen hinaufgestiegen war. Um die Lippen der Gräfin zuckte es spöttisch. Einige Sekunden weidete sie sich an Niels' Verlegenheit, worauf sie nachlässig begann: »Keine Freude an dem Mädchen? Das spricht nicht sonderlich für Rechtschaffenheit!«

Hastig fuhr Niels herum. Eine trotzige Erwiderung schwebte ihm auf den Lippen, allein der Anblick der in ihrer vornehmen Ruhe verharrenden Gräfin entwaffnete ihn sogleich wieder.

»Des Mädchens Rechtschaffenheit ist unantastbar,« sprach er höflich, »ich meinte nur, daß dessen Eltern um die Zukunft ihres Kindes in Zwietracht leben.«

Abermals senkte die Gräfin ihre Blicke durchdringend in Niels' Augen, bis dieser Gelegenheit suchte, ihr auszuweichen. Seine sichtbare Verwirrung mochte sie dauern, denn sie bemerkte: »Ihre Großmutter möchte ich kennen lernen.«

In des jungen Lotsen Antlitz gelangte ein eigentümlicher Ausdruck des Mißtrauens zum Durchbruch, und ein Weilchen verrann, bevor er zögernd erklärte: »Wir sind arme Fischersleute; was will die vornehme Lady in dem elenden Bau, wo so viel bitteres Leid beklagt wird?«

»Es wandelte mich die Lust an, der alten Frau tröstlich zuzureden, daß sie den Verlust des Sohnes als eine Schickung von oben trägt und sich endlich ergebungsvoll in das Unabänderliche fügt.«

»Gerade das soll vermieden werden,« versetzte Niels mit Entschiedenheit. »Die Großmutter ist nämlich nicht wie andere Menschen. Die Jahre des Grams haben es ihr angetan, daß sie in manchen Dingen wieder ein Kind geworden ist. Sie wartet noch immer zuversichtlich auf die Heimkehr des Sohnes, und der Glaube darf ihr nicht geraubt werden, oder die letzten paar Lebenstage werden ihr zur Last.«

»Außer ihr bezweifelt keiner, daß der damals noch junge Mann auf irgend eine unaufgeklärte Art seinen Tod fand?«

»Keiner, mögen die Leute immerhin der armen Alten zu Munde reden. Ganz unaufgeklärt ist die Sache übrigens nicht. Meine Mutter schrieb drum und erhielt auch Bescheid.«

»Von wem?«

»Ich weiß es nicht, war damals noch zu jung, um mich viel drum zu kümmern. Doch eine andere Frage möcht' ich mir erlauben. Sie reden so viel von dem toten Erich Larsen; vielleicht wissen Sie Näheres über ihn?«

»Näheres, jedoch nichts Zuverlässiges,« versetzte die Gräfin, und Niels erschrak förmlich über den Ausdruck zügelloser Gehässigkeit, der über ihr sonst so ruhiges Antlitz eilte, »nein, nichts Zuverlässiges. Es fuhr mir nur durch den Kopf, daß er durch Mörderhand ums Leben gekommen sein könnte, und was Sie tun würden, träte plötzlich der vor Sie hin, der verursachte, daß seine Braut jemand heiratete, von dem ihr Herz nichts wußte.«

Niels stand, als hätte er geglaubt, falsch gehört zu haben. Ein Gewirre von Bildern, die sein Blut in Wallung versetzten, stürmte auf ihn ein. Seine Wangen glühten, feindseliges Feuer entzündete sich in seinen Augen, und die beiden Fäuste verstohlen ineinander ringend, antwortete er mit gepreßter Stimme:

»Ich errat's, die Lady will mich auf die Probe stellen, denn ein Unding wär's, an solche Möglichkeit auch bloß zu denken. Das soll mich indessen nicht hindern, frei zu bekennen: begegnete ich dem Mörder meines Mutterbruders – unter meinen Händen müßte er sterben, und wären zehn Jahre Kerker mein Lohn dafür.«

In den Zügen der Gräfin webte ein Anflug innerer Befriedigung, indem sie entgegnete: »Ich pflichte Ihnen bei: ein Unding wäre es. Doch der Mensch beschäftigt sich zuweilen mit unberechtigten Mutmaßungen; so erging es auch mir eben. Ihre Anschauungen verdienen übrigens als die eines wahren Mannes Anerkennung. Ich setze voraus, Sie sind dem Dienst auf hoher See nicht fremd?«

Wie beschämt über seine Heftigkeit, erwiderte Niels beinah schüchtern: »Von meinem vierzehnten bis zum zweiundzwanzigsten Jahr fuhr ich auf fremden Schiffen, da sollte ich den Seedienst wohl gelernt haben. Ich möchte auch bei dem alten Gewerbe geblieben sein, wäre mir nicht um Mutter und Großmutter zu tun gewesen.«

»Wie gefällt Ihnen mein Schiff?« fragte die Gräfin, und in ihren Augen ruhte etwas Lauerndes.

»Eine Lustjacht, wie ich nie eine schönere sah,« versetzte Niels aus vollem Herzen.

»Wollen Sie in meinen Dienst treten?«

In des jungen Mannes Augen loderte helle Begeisterung auf. Flüchtig prüfte er den Kurs der Pandora; langsamer ließ er die Blicke über Deck und Takelage hingleiten, dann erklärte er mit unverhohlener Entsagung:

»Es müßte eine Lust sein, auf solcher Kraft die Weltmeere zu befahren, allein ich kann nicht fort – nein, es geht nicht, ich muß für meine Angehörigen sorgen.«

»Aber wie, wenn ich die Sorge für diese übernähme?« forschte die Gräfin weiter, »wenn ich ihnen so viel vollwichtige Goldstücke auszahlte, daß sie mit Behaglichkeit über die Zeit Ihrer Abwesenheit hinwegkämen? Ich liebe nämlich unverzagte Männer von Ihrem Schlage.«

Die Gräfin überwachte ihn scharf. Sie bezweifelte nicht länger, daß andere Gründe, als die vorgebrachten, ihn bestimmten, ihr Anerbieten abzulehnen, vermied aber vorsichtig, an sein Geheimnis zu rühren. Sie unterdrückte sogar ihren Mißmut, als er sich ihr mit den Worten zuwendete: »Ich kann nicht fort. Meine Mutter hat das Beispiel an der alten Frau. Keine Stunde des Tages oder der Nacht fände sie Ruhe, wüßte sie mich fern an Bord eines Schiffes.«

»Und doch ist sie eines Seemanns Frau gewesen,« warf die Gräfin berechnend ein.

»Gerade deshalb,« versetzte Niels nunmehr entschieden; »sie kennt das Seeleben und, wie ihre Mutter vor ihr, würde sie ebenfalls die Fährnisse übertreiben.« Nach den letzten Worten faßte er die nahe Ankerstätte wieder ins Auge. Die Gräfin erriet, daß er einer Fortsetzung des ihm offenbar peinlichen Gespräches auszuweichen wünschte, und schritt nach der anderen Seite des Decks hinüber. Weder Mißvergnügen noch Befriedigung prägte sich auf ihren Zügen aus; aber immer wieder, während sie mit den beiden Mädchen sprach oder einige Worte an Simpson richtete, schweiften ihre Blicke zu dem jungen Lotsen hinüber.

Bald darauf wurden die Segel eingezogen und der Anker rasselte in die Tiefe hinab. Die Gräfin hatte sich in die obere Kajüte begeben, wo sie den Lohn für das Hereinbringen der Pandora vor sich auf den Tisch zählte und eine doppelt so hohe Summe als Geschenk beifügte. Als Niels eintrat, um sich von der Schiffsherrin zu verabschieden, und mit einem Blick das Geld überflog, sah er erstaunt auf. Eine derartige Freigebigkeit hatte er bisher nicht kennen gelernt. Einige Sekunden schwankte er, dann schob er das Geschenk zurück.

»Ich kann's nicht nehmen,« sprach er entschlossen, »mir erscheint's als Kaufgeld für meinen freien Willen – nein, ich nehm's nicht. Legten Sie zehnmal so viel vor mich hin, wär's mir keine Ursache, an Bord Ihres Schiffes mich zu verheuern.«

Die Gräfin preßte die Lippen aufeinander.

»Um eine zuverlässige Hand wäre zehnmal so viel mir kein zu hoher Preis,« bemerkte sie ruhig. »Ich rechnete eben, daß von dem Lohn fürs Einbringen der Pandora nur der kleinste Teil auf Sie entfällt und das Übrige in des Lotsenmeisters Tasche gleitet. Da Sie mir aber so viel von Mutter und Großmutter erzählten, beabsichtigte ich, denen eine kleine Freude zu bereiten. Stecken Sie das Geld immerhin zu sich. Widerstrebt es Ihnen, mich aufs Weltmeer hinaus zu begleiten, so kann ich Sie nicht dazu zwingen. Vielleicht besinnen Sie sich aber noch. In solchem Falle ist jederzeit, ob Tag oder Nacht, hier an Bord eine Stelle für Sie offen; Sie brauchen sich nur bei dem Kapitän zu melden. Wahrscheinlich würde es Sie nie gereuen, auf mein Anerbieten eingegangen zu sein.«

Zögernd strich Niels das Geld ein.

»Nicht eine kleine Freude bereiten Sie den beiden Frauen, sondern eine sehr große,« sprach er dabei, »und dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Auch Ihr gütiges Anerbieten will ich im Gedächtnis behalten, glaube aber nicht, daß ich meinen Entschluß ändere.«

Bild: Max Vogel

»Reden wir nicht mehr darüber,« versetzte die Gräfin wie beiläufig, »doch um auf Ihre Mutter zurückzukommen: vielleicht gefällt es ihr, mich zu besuchen. Ich möchte über vergangene Zeiten mit ihr sprechen: ausdrücklich hebe ich das hervor.«

»Gewiß kommt sie gern, um sich für das Geschenk zu bedanken,« antwortete Niels; »auch bringt ihr's wohl Freude, über den längst Verstorbenen einmal mit jemand im Vertrauen ein ordentliches Garn zu spinnen. Wen hätte sie sonst dazu?«

»Gut; sagen Sie ihr, ich ließe bitten, die auf jenes traurige Ereignis bezüglichen Schriften mitzubringen. Fügen Sie hinzu, es läge mir viel daran; man könne nicht wissen, wozu es diene.«

Niels gab seine Bereitwilligkeit zu erkennen. Mit ehrerbietigem Gruß wollte er sich entfernen, als die Gräfin ihn zurückhielt. Die Brauen leicht gerunzelt, wie die Wirkung eines ihr vorschwebenden Verfahrens ermessend, öffnete sie ein Wandschränkchen. Aus diesem zog sie unter anderen wertvollen Gegenständen einen aus Elfenbein geschnitzten, mit Gold und Federn verzierten, kostbaren ostindischen Fächer hervor und überreichte ihn dem jungen Lotsen mit den Worten: »Außer Mutter und Großmutter gönnen Sie wahrscheinlich noch einer anderen Person eine Überraschung. Ist's ein Mädchen, so wird ihm dieses Andenken willkommen sein.«

Niels hielt den Fächer mit beiden Händen und sah starr auf ihn nieder. Er schien die Wirklichkeit nicht zu begreifen. Helles Entzücken spielte auf seinen Zügen. Karen war in seiner Phantasie aufgetaucht, wie sie, beneidet von allen Genossinnen, in einer Tanzpause mit dem prachtvollen Geschenk sich Kühlung zuwehte. Diesmal fragte er nicht, ob die schillernde Gabe als Kaufpreis gelte; seinen Dank stotterte er, als wäre alles Glück des Himmels und der Erde mit dem Fächer vereinigt gewesen, und ihn sorgfältig, wie gestohlen Gut, unter seiner Düffeljacke bergend, verließ er die Kajüte.

Ernst sah die Gräfin ihm nach. Selbst nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, änderte sie nicht die Richtung ihrer Blicke. Plötzlich verfinsterte sich ihr Antlitz. Geringschätzig zuckte sie die Achseln, und langsam begann sie auf und ab zu wandeln.

Ein Matrose erschien, um die Lampen anzuzünden.

»Wo befinden sich die Damen,« fragte sie nachlässig, als der Mann sich wieder entfernen wollte.

»Lustwandeln oben, Euer Gnaden,« hieß es dienstlich zurück.

»Sagen Sie dem Kapitän, ich ließe ihn bitten, sich zu mir zu bemühen.«

»Ahe, aye. Euer Gnaden.«

Gleich darauf trat Simpson ein. Nachdem er mit der Gräfin vor dem Tisch Platz genommen hatte, begann sie ruhig: »Der junge Lotse gefällt mir. Ich bot ihm an, in meine Dienste zu treten. Sollte er sich dazu entschließen und sich bei Ihnen melden, so lassen Sie ihn nicht mehr fort.«

Simpson verbeugte sich zustimmend, fügte aber hinzu: »Ich erlaube mir, daran zu erinnern, daß die Besatzung der Pandora bereits eine doppelte –«

»Sie wünschen, ihn nicht an Bord zu sehen,« fiel die Gräfin ein, »führen indessen eine Ursache an, die in meinen Augen nicht wiegt. Bitte, nennen Sie Ihre wahren Gründe.«

»Sie befehlen, und so bekenne ich offen: es bewegt mich die Sorge, daß der tägliche Anblick eines nahen Verwandten jenes unglücklichen Erich Larsen zu sehr geeignet wäre, immer wieder düstere Bilder bei Ihnen heraufzubeschwören.«

»Mit anderen Worten: die mir von gewissen Seiten angedichtete Verrücktheit zu fördern,« versetzte die Gräfin spöttisch, »aber fürchten Sie nichts. Beschäftige ich mich seit unserem Besuch auf der Aurora-Insel mehr mit den drei Kreuzen, als mit anderen Dingen, so bin ich dazu berechtigt, und darin kann der junge Lotse mich nach keiner Richtung hin beeinflussen. In der Vergangenheit zu forschen, hat für mich seine hohen Reize. Seitdem ich aber den Neffen des armen Erich Larsen kennen lernte, hat die Aufgabe, die nach Entdeckung der einsamen Gräber vor mir erstand, eine festere Gestalt gewonnen. Lebt derjenige überhaupt noch – ich kann mich von diesem Gedanken nicht lossagen –, unter dessen Leitung das schwarze Verbrechen ausgeführt wurde, so will ich einen Beweis von Überlegung und Scharfsinn liefern, daß sogar Sie darüber erstaunen werden –«

»Gräfin,« unterbrach Simpson sie dringlich in der Absicht, dem Gespräch eine nach seiner Überzeugung weniger gefährliche Wendung zu geben, als jene mit einem matten Lächeln die Hand abwehrend erhob und fortfuhr:

»Also nichts mehr davon. Um den jungen Lotsen für meine Dienste zu gewinnen, gehen wir aber Hand in Hand?«

»In allem, seien es Befehle oder Wünsche,« erklärte Simpson. – – –

Niels Knudson hatte unterdessen seinen Heimatsort erreicht. Als er an den ersten Gehöften vorüberschritt, sah er plötzlich Karen vor sich. Sie befand sich auf dem Wege zu einer nachbarlich wohnenden Altersgenossin, bog aber, sobald sie seiner ansichtig wurde, auf ihn zu. Nachdem sie einen scheuen Blick um sich geworfen hatte, bot sie ihm die Hand. Herziges Lächeln thronte auf ihren Zügen, und in seine Augen sah sie, daß es ihn bis ins Mark hinein wie ein Freudenrausch durchzitterte. Unter solchem Eindruck war seine erste Regung, ihr den Fächer zu überreichen. Unwillkürlich griff er unter seine Jacke. Indem er ihn aber berührte, schwebte ihm vor, daß keine Zeugen zugegen seien, und sehen mußten die Menschen doch, wie er die Geliebte bevorzugte, sehen und sie beneiden um das fürstliche Geschenk, das sie sonst wohl verschämt in ihrer Truhe verborgen gehalten hätte. Der nächste Sonntag sollte, wie er sich entsann, einen Tanz in Stures Haus bringen, und das war für ihn die Gelegenheit, sie zu ehren und auszuzeichnen vor allen anderen. Nach kurzem Schwanken zog er daher, wenn auch mit Widerstreben, die Hand zurück, und eifrig beantwortete er die Fragen, die Karen über die wunderbar schön gebaute Jacht an ihn richtete.

»Es muß eine Lust gewesen sein, solch feines Schiff zwischen der Brandung hindurch zu steuern,« meinte sie lebhaft, »auf unser Dach war ich gestiegen, um es aus der Ferne zu beobachten. Wie ein Schwan segelte es. Man merkte ordentlich, daß ein sicherer Lotse an Bord war.«

»Auf dem Dache standest du und lugtest nach uns aus?« fragte Niels freudig.

Karen lachte, daß ihr das bewegliche Blut bis in die Schläfen hinaufstieg, und bemerkte sorglos: »Nach dir nicht, aber nach der Jacht.«

Niels erschrak; doch in die fröhlichen Augen schauend, die so arglos blickten, bat er demütig: »Gönne mir den stolzen Gedanken, daß du auch nach dem Lotsen selber auslugtest; und eine Kleinigkeit war's nicht, bei dem schweren Seegange an Bord zu gelangen.«

»Was hättest du davon?« fragte Karen nachlässig zurück, »wie wär's auch möglich gewesen hinter den Segeln, die bis aufs Deck hinunter reichten?«

Abermals schob Niels die Hand unter die Jacke, und wiederum zog er sie, jetzt aber schneller, zurück.

»So will ich mich bescheiden,« erklärte er zaghaft, »möchtest du mir dagegen den Trost gewähren, am Sonntag, da bei euch getanzt wird, nur mit einem einzigen Blick nach mir zu suchen?« und im Übermaß seiner Erregung ergriff er des Mädchens Hand.

»Du verlangst viel,« versetzte Karen mit ihrem mutwilligsten Lachen, »war es doch nie meine Art, auf jemand zu warten. Wer mich zum Tanz führen will, mag zusehen, daß er zur rechten Zeit auf dem Platz ist.« Sie entriß ihm die Hand. »Ich muß fort!« rief sie im Davoneilen, und ihre Schritte beschleunigend, sang sie so fröhlich eine Tanzmelodie, daß Niels es nicht über sich gewann, auf Grund der erfahrenen Zurückweisung ihr zu zürnen.

»Es ist nicht ihr Ernst, kann ihr Ernst nicht sein,« sprach er grübelnd vor sich hin, als sie, ohne ein einzig Mal zurückzuschauen, hinter der nächsten Hütte verschwand; »nein, es kann ihr Ernst nicht sein,« und das Haupt geneigt und mit goldenen Zukunftsträumen sich beschäftigend, verfolgte er seinen Weg heimwärts.


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