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Zwölftes Kapitel.

Holidays Witwe. Neue Schriftstücke. Der tätowierte Anker

Als die Gräfin und Simpson sich folgenden Tages auf den Weg zu der alten Holiday begaben, bedurfte es trotz der von ihnen beobachteten Vorsicht mehrfachen Fragens, bevor sie die elende Baracke wieder vor sich liegen sahen. Eintretend, fanden sie zu ihrer Befriedigung den Mann nicht zu Hause. Die alte Frau, die sie zur nächtlichen Stunde in ihrem Bett beobachteten, saß auf einem baufälligen Armstuhl neben dem Fenster, vor sich einen Tisch und auf diesem mehrere des Ausbesserns bedürftige Strümpfe. Eine Stumpfheit war auf dem hageren, runzeligen Gesicht ausgeprägt. Ebenso offenbarte sich in ihrem Äußeren, daß sie es längst aufgegeben hatte, wie vielleicht in früheren Tagen, dem ursprünglichen Ordnungssinn ein wenig Mühe und Zeit zu opfern. Mitten in dem dumpfigen Gemach auf einer ausgebreiteten Decke saßen die beiden Geschwister, mit seltsam blödem Ausdruck beim Verrenken und Verschränken der Glieder zu immer noch widernatürlicheren Figuren sich gegenseitig unterstützend. So war es ihnen vom Vater anbefohlen worden, als er sich nach dem Mittagessen verabschiedete und für den Abend neue Vorstellungen in anderen Kneipen in Aussicht stellte.

Beim Erscheinen der beiden Fremden, die sie sofort wieder erkannten, entwirrten sie ihre Glieder, und sich erhebend, schlichen sie beschämt in einen Winkel. Namentlich verriet Susanna tiefe Bestürzung, in einer Beschäftigung überrascht worden zu sein, bei der sie, zumal in der schlotterigen Bekleidung, ein häßliches Bild geboten hatte. Das jäh in ihr Antlitz gestiegene Blut zeugte wenigstens für ein, wenn auch nicht ganz verstandenes, jungfräuliches Sittlichkeitsgefühl. Des Errötens sich bewußt, ahnte sie doch nicht, daß gerade dadurch das in ihrer ganzen Erscheinung ungünstig Wirkende wieder ausgeglichen wurde.

Bild: Max Vogel

Die Gräfin war zu der alten Frau herangetreten, und in die trüben Augen blickend, sprach sie in ihrer ruhigen Weise: »Sie wundern sich, uns bei sich zu sehen. Sind Sie indessen Frau Holiday, die Witwe des vor vielen Jahren verschollenen Schiffskochs, so wird es Sie noch mehr überraschen, zu hören, daß wir gekommen sind, Ihnen und Ihren Kindern dessen letzte Grüße und Segenswünsche zu überbringen. Er starb in der Ferne; hören Sie erst heute von ihm, so wurde es durch den Umstand verschuldet, daß man Ihren Aufenthaltsort nicht kannte.«

»Schiffskoch war er,« antwortete die Frau mürrisch, indem sie nach ihrer Bettstelle hinüberwies, oberhalb deren ein alter, zerfetzter, mit einer dicken Staublage bedeckter Ölanzug und der dazu gehörende Südwester hingen, »ja, Schiffskoch, und was die Herrschaften da sehen, ist alles, was mir von ihm blieb.« In ihren Augen leuchtete es auf wie erwachendes Verständnis, und etwas lebhafter fuhr sie fort: »Er war eine rechtschaffene Natur und sorgte für die Seinigen redlich; wurde er uns aber entrissen, als er gerade am unentbehrlichsten war, so lag's nicht an ihm. In seinem nassen Grabe würde er sich umkehren, wüßte er, was aus uns geworden ist. Doch für den Gruß dank' ich aus meiner ganzen Seele, mögen seine Segenswünsche immerhin auf schlechten Boden gefallen sein.«

»Nicht alle, gute Frau,« nahm die Gräfin wieder das Wort, »und am wenigsten die letzte Bitte an die Menschen, Milde und Barmherzigkeit an Ihnen zu üben.«

»Zu spät,« erwiderte die Alte unsäglich bitter, »meine Zeit ist bald um, da brauch' ich keine große Barmherzigkeit mehr; und seine Kinder – Gott sei's geklagt – die sind nicht mehr da, daß guter Leute Mitleid sie findet.«

»Sie können unmöglich alle gestorben sein,« versetzte die Gräfin teilnahmvoll, »erfuhr ich doch, daß der gute Holiday von drei Kindern gesprochen habe.«

»Ja, drei Kinder waren uns beschert,« hieß es traurig zurück, »zwei Mädchen und ein Junge, und gut geartet. Als aber die Zeit herankam, in der der Gottesfurcht auch die vor dem Vater sich beigesellen sollte, da ward mein Mann abberufen. Und so ist's kein Wunder, wenn sie ihre eigenen Wege wandelten, wie so manches vaterlose Seemannskind, und die führten gerade ins Verderben hinein. Wie's mit dem Jungen geworden ist, mag Gott wissen. Der ging nämlich trotz meines Abratens frühzeitig zur See. Er besuchte mich wohl noch ein halb dutzendmal und gab mir seine ersparte, schwer verdiente Heuer; aber seit länger als drei Jahren vernahm ich nichts mehr von ihm. Da wird er seinen störrischen Sinn wohl mit dem Leben bezahlt haben. Die jüngste wollte ebenfalls nicht auf mich hören. Die liebte Putz und schöne Kleider und den Tanz vom Abend bis zum Morgen, da war's kein Wunder, daß sie sich den Tod holte. Blieb also nur die älteste, ein schönes, kräftig ausgewachsenes Mädchen und meine Augenweide, und die wär' heut' ihre sechsunddreißig Jahre alt. Von ihr rede ich ungern; aber weil Sie mit Grüßen von meinem toten Holiday kommen, mag ich schon ein Wort mehr darüber verlieren. Denn auf sie hatte ich meine ganze Hoffnung gebaut, und die ist elendiglich betrogen worden. An einen Spieler hing sie sich, und da ich mit meinem Fluch drohte, wenn sie nicht von ihm lasse, lief sie heimlich davon. Auch von ihr sollte ich nicht wieder hören bis vor zehn, zwölf Monaten, und was ich da erfuhr, war genug, mir's Herz zu treffen. Der Spieler traf eines Tages ein und erzählte, seine Frau wäre gestorben: ja, gestorben, ich konnt's nicht glauben, ohne sich zuvor ein gutes Wort bei mir geholt zu haben. Und war sie auch die Frau eines sündlichen Spielers, der nicht Treu noch Glauben kannte, so blieb sie doch mein Kind, für das ich noch 'nen guten Segen übrig gehabt hätte, und dessen war sie in ihrer Scham und Reue nicht eingedenk gewesen.«

»Aber zwei Kinder führte er Ihnen zu, Ihre eigenen Enkel, als Ersatz für Verlorenes,« bemerkte die Gräfin, als die Alte in ihren Mitteilungen eine Pause machte.

»Meine Enkel?« fuhr diese heftig auf, »ja, meine Enkel sind's, Gott sei's geklagt, aber auch Spielerkinder und selbst Spieler, die auf sündhafte Art ihr Brot erwerben und ein jämmerlich Hungerbrot obenein. Und Zeuge muß ich sein täglich, daß sie ihren Herrgott versuchen und zur Augenweide für müßig Volk ihre Körper und Glieder verunstalten, daß ich nur mit Verachtung auf sie hinsehen kann. Sie selber tragen freilich keine Schuld, und schwer genug wird's ihnen sichtbarlich, in den schrecklichen Zwang sich zu schicken; aber ihr Vater kennt kein Erbarmen, ist ärger als ein Wolfsvater. Was nur an Qualen erdacht werden kann, verhängt er über sie, um Menschen aus ihnen zu machen, denen das Gold nur so in den Schoß regnet, so behauptet er. Alles Lug und Trug! Bevor die weit genug sind, um sich 'nen eigenen Weg auszuwählen, sind sie dem Grabe verfallen. Arme Brut; ich gönn's ihr von Herzen, daß sie die ewige Ruhe findet, bevor noch Ärgeres aus ihr geworden ist oder beide als hilflose Krüppel in ein Spital oder Armenhaus getan werden. Wären sie nur damals schon gestorben, als ihr Vater sie zum erstenmal in den Bock spannte, um sie geschmeidig zu machen, und ich selber noch nichts von ihnen wußte. Und was sie des Abends mit ihren Künsten verdienen, das trägt der Galbrett, so heißt der Vater, in die Whiskyschenken und wer weiß wohin, daß uns kaum so viel bleibt, um der ärgsten Not zu wehren.«

»Fassen Sie Mut, gute Frau,« versetzte die Gräfin wieder beschwichtigend; »so lange Ihre Enkel noch leben, ist nicht ausgeschlossen, daß ihr trauriges Los eine Wandlung zum Guten erfährt. Ich bin sogar selbst erbötig, sie mit mir fortzunehmen und für eine bessere Zukunft zu sorgen, auch für Sie selber, schon allein um der Erinnerung an den toten Holiday willen.«

»Das ist ein tröstliches Wort, das Sie zu mir reden,« erwiderte die Frau klagend, »und gern hätte ich die Kinder aus den Augen, wüßte ich sie in rechtschaffener Leute Zucht, aber der Galbrett gibt sie nicht heraus; nein, er tut's nicht. Ob er auch ein verworfener Rabenvater ist, und das Leben meiner Tochter sein Gewissen beschwert: von seinen Kindern trennt er sich nicht, das beschwor er wohl hundertmal, wenn ich ihn drum anging. Das geschieht aber nicht aus Anhänglichkeit und Sorge, sondern weil er ein Schwelger und Faulenzer von der gewissenlosesten Sorte ist, der an nichts anderes denkt, als sich von seinen eigenen Kindern ernähren zu lassen, anstatt sie in die Schule zu schicken.«

Die Gräfin wechselte einen Blick mit Simpson, und dieser nahm darauf das Gespräch mit der Alten auf.

»Sie werden begreifen,« begann er, »daß wir Sie nicht aufsuchten, um uns an Ihrem Elend zu weiden, sondern in der Absicht, Ihnen wirkliche Vorteile zuzuwenden. Mag es immerhin über zwanzig Jahre her sein, seitdem Ihr Mann tot ist, so liegt es doch im Bereich der Möglichkeit, daß ihm noch Gerechtsame zustehen, die nicht verjähren können. Den Namen des Schiffes, auf dem er fuhr, kennen wir, ebenso wissen wir, wo und wie es zugrunde ging. Es handelt sich nur noch darum, ob Sie Ihres verunglückten Mannes rückständige Heuer oder sonstige Entschädigungen ausgezahlt erhielten. Wie ist es damit?«

Die Alte sann eine Weile nach. Die Frage kam ihr augenscheinlich unerwartet, um sogleich darauf eingehen zu können. Sie mußte die auf eine ferne Vergangenheit entfallenden Ereignisse erst in ihrem Kopf zurechtlegen, bevor sie antwortete: »Wenn ich mich recht erinnere, waren anderthalb Jahre verstrichen, seitdem ich nichts mehr von meinem Manne hörte, da riet mir jemand, an den Eigner der ›Emilia‹ drüben in England schreiben zu lassen. Denn mit dem Kosthause, das ich damals auf der anderen Seite des Stromes führte, ging es rückwärts, daß ich meine Not hatte, mit den Kindern durchzukommen. Eine Antwort erhielt ich bald genug; aber darin hieß es, der erste Steuermann, Mac Lear, hätte alles berechnet, und ich möchte mich an ihn drum wenden. Er stände nicht mehr im Dienst der Reederei, seitdem er in Rio seinen Abschied genommen; aber er wäre eine rechtschaffene Natur, die 'ne arme Seemannswitwe nicht um einen Cent bringen würde. Da seine Adresse genau beigefügt war, ließ ich mir sogleich ein gehöriges Schriftstück an ihn aufsetzen und trug's selber auf die Post. Diesmal ließ der Bescheid länger auf sich warten, und als er eintraf, war ich nicht klüger. Da schrieb nämlich jemand an mich, Mac Lear wäre längst von Rio verzogen und in irgend 'nem unbekannten Winkel in Not und Krankheit umgekommen. Mit der rückständigen Heuer und 'ner Entschädigung war's also nichts, und da mußte ich mir helfen, so gut oder schlecht es gehen wollte.«

»Sind die Briefe noch in Ihrem Besitz?« fragte Simpson gespannt.

»Hab' sie aufbewahrt zum Angedenken an Holiday,« antwortete die Alte herbe; »hatten sie mir keinen Trost oder Hilfe eingebracht, so widerstand's mir doch, sie von mir zu tun.«

»Wären Sie vielleicht geneigt, sie uns anzuvertrauen?«

»Liegt Ihnen an den alten Schriften, so überlasse ich sie Ihnen gern um der guten Worte willen, die Sie zu mir in meinem Elend redeten. Aber ich sag's im voraus: was vor zwanzig Jahren vergeblich gewesen, wird heut' nicht besser sein. – Susanna!« rief die Alte in den finsteren Nebenraum hinein, und gleich darauf stand das junge Mädchen vor ihr und fragte, mit seltsamer Scheu den Blicken der beiden Fremden ausweichend, nach ihrem Begehr.

»Geh' an die Kiste,« forderte , die Großmutter sie auf und gab ihr einen Schlüssel, »links in der Beilade liegt ein zusammengewundenes seidenes Halstuch, das hat dein Großvater einst des Sonntags getragen. Da drin befinden sich alte Schriften, die bringe mir.«

Schweigend entledigte das Mädchen sich seines Auftrages. Nachdem es Schlüssel und Paket vor die Großmutter auf den Tisch gelegt hatte, begab es sich wieder in den Nebenraum.

Von der Alten nicht gehindert, öffnete Simpson die Verschlingungen des Tuches, und diesem eine kleine Anzahl zerknitterter und vergilbter Papiere entnehmend, prüfte er sie gemeinschaftlich mit der Gräfin. Taufscheine und Familienpapiere waren es zumeist, und unter diesen fanden sie leicht die beiden Briefe heraus, auf die die Witwe sich bezogen hatte. Was sie enthielten, war ihnen nicht mehr fremd; dagegen fesselte die Handschrift des zuletzt erwähnten Schreibens ihre Aufmerksamkeit in hohem Grade. Obwohl den Poststempel von Rio Janeiro tragend und später geschrieben, als der, den die Witwe Larsen einst von New Orleans aus erhielt, machte es doch den Eindruck, als ob beide unter derselben Hand hervorgegangen wären. Mit einem eigentümlich feindseligen Lächeln begleitete die Gräfin diese Entdeckung, wogegen Simpson, wie in Zweifel, halblaut bemerkte: »Es wäre doch wunderbar. Ich wage indessen nicht daran zu glauben, bevor ich die beiden Schriftstücke miteinander verglichen habe.«

»Bei mir bedarf es dessen nicht,« versetzte die Gräfin rauh: »der Argwohn, der schon in Norwegen greifbare Form gewann, findet in diesem Briefe seine Bestätigung.« Und zu der alten Frau gewendet: »Diese beiden Papiere werden Sie mir also bis auf spätere Zeiten anvertrauen. Um Ihnen dagegen zu beweisen, wie zuversichtlich ich auf den Erfolg meiner Mühe rechne, leiste ich Ihnen schon jetzt eine kleine Abschlagszahlung.«

Mit den letzten Worten zählte sie mehrere Goldstücke auf den Tisch. Einen scheuen Blick durchs Fenster auf die Straße hinaussendend, steckte die Alte das Gold zu sich. Die übrigen Papiere wickelte sie wieder in das Tuch, und abermals rief sie das Mädchen.

Diesmal erschien Susanna in Begleitung des Bruders, den sie an der Hand führte. Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, die beiden Fremden, die trotz des in ihrem Wesen vorherrschenden Ernstes einen Vertrauen erweckenden Einfluß auf ihn ausgeübt hatten, ebenfalls einmal in der Nähe zu betrachten. Auf der Großmutter Geheiß verschlossen die Geschwister das Paketchen. Den Schlüssel auf den Tisch legend, wollten sie sich eben wieder entfernen, als die Gräfin sie aufforderte, zu bleiben. Mit undurchdringlicher Ruhe sah sie in zwei Paar große Augen, die, wie ein entscheidendes Urteil über Leben und Tod von ihr erwartend, ängstlich an ihren Lippen hingen.

»Kinder,« sagte sie nach einer Pause tiefer Stille feierlich, »möchtet ihr mit mir ziehen? Vergessen die brotlosen Künste, zu denen ihr erzogen wurdet, dagegen lernen, mit der Feder umzugehen und aus unterhaltenden Büchern zu lesen?«

Über das plötzlich erglühende Antlitz des Knaben eilte wildes Entzücken. Seine Augen leuchteten förmlich. Doch gleich darauf erlosch das Feuer wieder. Blöde neigte er das Haupt, und leise drang es zu der Gräfin Ohren: »Der Vater erlaubt es nicht.«

Bild: Max Vogel

Liebkosend strich die Gräfin mit der Hand über die von der Schwester sorgfältig geordneten schwarzen Locken.

»Vielleicht ändert sich dies,« sprach sie nachdenklich, dann kehrte sie sich Susanna zu. Während sie sich mit dem Knaben beschäftigte, hatte diese sich nicht gerührt. Wie durch eine wunderbare Kunde berauscht, blickten ihre Augen in namenlosem Erstaunen. Was die Gräfin nach den ersten Worten noch zu dem Knaben sprach, ging ihr verloren. Die Frage, ob sie mit ihr ziehen wollten, und der Ton, in dem sie gestellt wurde, erschienen ihr so unerhört, alles in ihren Begriffen Liegende so weit übersteigend, daß sie ihren Sinnen nicht traute. Indem die Gräfin aber ihre ruhigen blauen Augen voll auf sie richtete, liefen in den ihrigen Tränen zusammen, die zu bewältigen sie ihre äußerste Kraft aufbot.

»Antworte doch, Susanna,« redete die Gräfin sie an, »was meinst du, wenn du es aufgäbest, vor häßlichem Gesindel deine Gauklerkünste zu zeigen, dagegen mit Dingen dich beschäftigtest, die eines erwachsenen Mädchens mehr würdig sind?«

Susanna erbleichte und errötete in jähem Wechsel. Sie öffnete die Lippen, vermochte aber keinen Laut hervorzubringen Ihre Brust arbeitete wie bei einer Erstickenden.

»So sprich doch, armes Kind,« fuhr die Gräfin noch gütiger fort; »was dir jetzt unfaßlich erscheint, vielleicht ist es doch erreichbar. Denke, es hätten Tote für dich gebeten. Tote so treu und redlich, daß es ein Verbrechen wäre, ihr rührendes Flehen unberücksichtigt zu lassen.«

Da belebte sich die schlanke Gestalt der jungen Gauklerin. Die Arme warf sie empor. Einem verhaltenen Angstruf ähnlich entwand ein Seufzer sich ihrer Brust; dann bedeckte sie, um die ihren Augen entstürzenden Tränen zu verheimlichen, mit beiden Händen ihr Antlitz. Krampfhaft schluchzte sie, als hätte sie verzweiflungsvoll um das ihrem schmächtigen Körper entfliehende Leben gekämpft.

Erschüttert sah Simpson auf sie hin; erschüttert beobachtete die Gräfin, wie der in beständiger Sklaverei gehaltene Geist vergeblich trachtete, sich über die ihm bisher gesteckten Grenzen hinauszuschwingen, wie er, gleichsam geblendet, zurückbebte vor dem milden Hauch, der die an sie gerichtete Frage umfloß. Endlich aber faßte sie sich.

»Mein Bruder sprach die Wahrheit.« tönte es ergreifend und kaum verständlich von ihren bebenden Lippen, »der Vater gibt uns nicht frei – er hat es geschworen. Vielleicht will er unser Bestes, aber das Leben ist so schrecklich – so schrecklich –« und aufs neue in heftiges Weinen ausbrechend, flüchtete sie in ihre düstere Kammer, wohin der Knabe ihr schleunigst nachfolgte, als hätten beide sich ein todeswürdiges Verbrechen zuschulden kommen lassen.,

Sinnend blickte die Gräfin ihnen nach. Kaum aus ihrem Gesichtskreise getreten, kehrte sie sich Simpson mit den Worten zu: »Was gehört dazu, zwei solch' unschuldige Wesen um die heilige Zeit der Kindheit zu betrügen. Wir müssen sie retten, vor einem schrecklichen Untergange bewahren, mag es kosten, was es wolle.«

»Viel kosten sie freilich nicht,« bemerkte mit stumpfem Ausdruck die Alte, die von den gedämpft gesprochenen Worten nur die letzten verstanden hatte. »Galbrett meint, wenn sie erst mehr verdienten, würden sie auch mehr gebrauchen, mehr noch, als eine Lordstochter. Sie sind eben Spielerkinder – Gott sei's geklagt – und selber Spieler. Das dumme Ding, was weint es denn, wenn jemand ein gutes Wort zu ihm redet? Das kommt nicht oft vor, so daß ich mein', es müßte eine verstockte Natur drinnen sitzen.«

Über das Antlitz der Gräfin eilte eine Wolke des Mißmutes, als sie die Alte so herzlos über ihre eigenen Enkel urteilen hörte. Sie begriff indessen, daß in deren Augen Gaukler zu den Unehrlichen zählten, und das Bewußtsein, die Kinder ihrer verstorbenen Tochter diesen beirechnen zu müssen, diese ihr gänzlich entfremdet hatte.

»Sie hörten meinen Willen,« erwiderte die Gräfin. »Beide möchte ich zu mir nehmen und dafür sorgen, daß sie zu ehrenwerten Weltbürgern erzogen werden. Sie selbst sollen dadurch nicht Ihres Unterhaltes beraubt werden. Der Vater mag dann hingehen, wohin er will; denn das Anrecht an die Ärmsten verwirkte er längst durch seine Herzlosigkeit. Vielleicht ist er damit einverstanden, wenn er gegen Entgelt der Sorge um sie überhoben wird.«

Bild: Max Vogel

»Er tut's nicht,« antwortete die Alle, das greise Haupt nachdenklich wiegend, »ich kenne ihn, er tut's nicht.«

»Stellen Sie es ihm nur vor,« ermutigte die Gräfin, »findet er dabei seine Rechnung, so gibt er sicher nach. Morgen oder übermorgen besuche ich Sie wieder: bis dahin wird er sich besonnen haben; dann einigen wir uns schnell.«

Die Alte wiegte ihr Haupt abermals zweifelnd. Die Gräfin erhob sich. Gern hätte sie die Geschwister noch einmal gesehen und gesprochen. Simpson riet indessen von längerem Verweilen ab, und so schied sie mit kurzem Gruß und dem Versprechen des baldigen Wiedersehens. Sie war eben auf den Flur hinausgetreten, und Simpson hatte die Tür hinter sich zugezogen, als sie plötzlich Susanne auf den Knien liegen sah. Woher sie gekommen, begriff sie nicht. Sie schien aus dem staubigen Estrich aufgetaucht zu sein. Tränen rannen über ihre Wangen, und die gefalteten Hände zu der Gräfin erhoben, flehte sie ergreifend: »Liebe, gute Dame, so gern ging ich mit Ihnen, auch mein Bruder Artur – wir sind so unglücklich – der Vater ist so grausam – «

Erbleichend brach sie ab. Eine Sekunde lauschte sie aus den vorbeiführenden Weg hinaus. Dann sprang sie auf, und so schnell verschwand sie im Hintergrunde des Flurs zwischen losen Brettern, daß weder Simpson noch die Gräfin ihre Bewegungen mit den Blicken zu verfolgen vermochten. Noch aber kämpften sie mit der ersten Überraschung, als draußen schwere Schritte vernehmlich wurden, die Haustür sich verdunkelte und Galbrett vor ihnen stand. Beim Anblick der Fremden, die ihren Weg bis zu seinem abgelegenen Heim hinausgefunden hatten, blieb er sichtbar betroffen stehen. Wie jemand, der sich stets unter der nie schlummernden Anklage des eigenen Gewissens befindet, starrte er argwöhnisch auf sie hin. Er erkannte indessen kaum die beiden Gäste, die er abends zuvor in der Trinkspelunke der Frau Drunmoore durch das Fenster beobachtete, als auf seinem Gesicht roher Trotz zum Durchbruch gelangte. Er mochte sich sagen, daß er von Leuten, die an dem verrufenen Ort auch nur eine Stunde weilten, nichts zu fürchten habe. Dann aber wähnend, die Häupter einer Gauklerbande vor sich zu sehen, die, dem Beispiel des langen Gauklerchefs folgend, sich die Aufgabe gestellt hatten, die vielverheißenden Schlangenkinder auf irgend eine Art in ihre Gewalt zu bringen, hob er in spöttisch vertraulichem Tone an: »Die Arbeit der beiden Dinger hat Ihnen gefallen? Glaub's gern. Zwei Abende der Woche sind sie noch frei; aber ein gutes Angebot gehört dazu, sie für ein halb Dutzend Vorstellungen zu mieten –«

Er brach ab. Verstand Simpson, seinen Widerwillen zu beherrschen, so entdeckte Galbrett dafür auf dem Antlitz der Gräfin einen so sprechenden Ausdruck tiefer Verachtung, daß er sofort begriff, von seinen Mutmaßungen irre geleitet worden zu sein. Bestätigung fand sein Argwohn, sobald sie erwiderte: »Ja, die Kinder erweckten meine Teilnahme aus doppelten Gründen, und ich leugne nicht, daß ich zu erheblichen Opfern bereit wäre, gelänge es mir, die Enkel des verschollenen Holiday für einen anderen Lebensberuf vorzubereiten, ihnen eine Zukunft zu begründen, die auch Ihnen, dem Vater, eine freundliche Beruhigung gewährte.«

In Galbretts Zügen spiegelte sich sein ganzer Verdruß über die Begegnung, seine Verachtung der an ihn gerichteten Vorschläge. Sobald aber der zwischen den Geschwistern und dem toten Schiffskoch schwebenden Beziehungen gedacht wurde, erschrak er, als wäre ein berechneter Schlag nach ihm geführt worden. Doch was ihn bewegen mochte, es erstickte in der auslodernden Wut, die sein bräunliches Gesicht vorübergehend entstellte. Er sann förmlich darauf, seine Zurückweisung in eine Form zu kleiden, die eine Fortsetzung des Gesprächs als wenig ratsam erscheinen ließ, und so antwortete er erst nach einer Pause mit giftigem Hohn: »Ich als Vater sollte doch am besten wissen, was meinen Kindern dient; Sie aber möchten wohl die letzten sein, denen ein Urteil über den Beruf eines Künstlers zusteht. Hatten Sie keinen anderen Grund, ihnen nachzuspionieren, so bemühten Sie sich vergeblich. Über meine Kinder verfüge ich allein, das merken Sie sich für alle Zukunft, oder es möchte mich die Lust anwandeln, von meinem Hausrecht Gebrauch zu machen.«

Bei den letzten Worten gab er seinem zerknitterten Hut einen Stoß, und mit dem kläglichen Versuch einer Achtung gebietenden Haltung, drängte er sich an den ungerufenen Gästen vorbei. Gleich daraus fiel die Stubentür hinter ihm krachend ins Schloß.

Die Gräfin und ihr Begleiter sahen sich gegenseitig in die Augen. Von den gleichen Empfindungen bewegt, hatten sie es nach den ersten Worten des rohen Gesellen aufgegeben, sich in weitere Erörterungen mit ihm einzulassen.

»Das ist also der Vater der beklagenswerten Geschöpfe,« bemerkte die Gräfin düster, indem sie auf die Straße hinaustraten und ungesäumt den Rückweg einschlugen.

»Eine merkwürdige Erscheinung,« meinte Simpson nachdenklich, »Spieler und Gaukler nennt ihn die alte Frau, und gewiß berechtigt. Trotzdem ist er auch dem Seeleben nicht fremd. Ich entdeckte es, als er die Hand nach dem Hute hob und der Ärmel des Rockes von ihr zurückglitt. Ein blauer Anker ist auf deren Außenseite zwischen Daumen und Zeigefinger eintätowiert, wie es nur unter Seeleuten niederen Ranges Sitte ist.«

»Mag er, wer weiß was, gewesen sein,« spann die Gräfin das Gespräch weiter, »seit der Begegnung mit ihm ist meine Teilnahme für die unglückseligen Kinder noch gewachsen. Ich darf nicht dulden, daß sie, wie dem körperlichen Untergange, auch dem sittlichen entgegengeführt werden, soll ich überhaupt noch eine ruhige Stunde erleben. Viel ist es freilich, was ich in Verfolgung meiner Aufgaben über mich ergehen lassen muß, allein ich will – verstehen Sie mich recht – ich will, wie den Neffen des armen Larsen, auch die letzten Nachkommen des ehrlichen Schiffskochs an mich fesseln. Gedenken Sie der Toten auf der Aurora-Insel. Deren letzter Klageruf darf nicht ungehört verhallen. Was nur irgend dazu dienen kann, den ruchlosen Mörder zu überführen, muß ich zur Hand haben, wenn ich ihm gegenüber trete. Und unter den Lebenden weilt er noch. Eine innere Stimme ruft es mir zu.«

»Lägen nur nicht so viele Jahre zwischen jenen Zeiten und dem heutigen Tage,« bemerkte Simpson zweifelnd.

»Ob viele, ob wenige,« erklärte die Gräfin ruhig, »und erreichte ich in der Tat nichts weiter, als meinen Fuß auf das Grab des Verruchten zu stellen und einen Fluch ihm in die Erde nachzusenden, so wollte ich schon zufrieden sein.« –

Bild: Max Vogel

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