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Achtzehntes Kapitel.

Die Wirtschaft der Rowdy. Ein gefährlicher Weg. Winkende Freiheit.

Die am folgenden Morgen aufgehende Sonne beleuchtete in der Tat den Eremit, der sich herausfordernd so hingelegt hatte, daß die aus dem Hafen scheidende Pandora notgedrungen bei ihm vorüber mußte. Für die Gräfin schien er indessen nicht vorhanden zu sein. Wie über jedes andere fremde Schiff sah sie auch über ihn achtlos hinweg. Maud trieb es noch weiter. Nachdem sie ihn erkannt hatte, vermied sie ängstlich, in die Richtung zu schauen, in der ihr Blick ihm begegnete. Sie trug das dumpfe Bewußtsein in sich, wenn immer sie das Deck betrat, von dorther mittelst des Fernrohrs in ihren Bewegungen aufmerksam beobachtet zu werden. Ein Gefühl des Zwanges machte sich infolgedessen in ihrem Wesen geltend, so daß sie vorzog, ihre Zeit fast ausschließlich in den unteren Räumen zu verbringen. Im übrigen deutete nichts darauf hin, daß man auf dem Eremit der Pandora viel Teilnahme schenkte. Und so glichen die beiden Jachten zwei miteinander bis zur tödlichen Feindschaft zerfallenen Geschwistern, die eine gewisse Befriedigung darin suchen, einer den anderen der Beachtung nicht zu würdigen und dennoch förmlich eifersüchtig nach einer Gelegenheit auslugen, sich in verletzender Weise bemerklich zu machen. Zu derselben Zeit betrieb die Gräfin mit unermüdlichem Eifer die Nachforschungen nach den Schlangenkindern. Ghastly und Niels waren fast beständig unterwegs, und doch erzielten sie keinen besseren Erfolg, als Galbrett, den die genauere Kenntnis des gewaltigen Straßengewirres und der verborgensten Schlupfwinkel in seinem Kundschaften begünstigte. In der Stadt aber konnten die Kinder nach der allgemeinen Überzeugung nur verborgen gehalten werden, so lange man keinen Beweis dafür erlangte, daß die Gauklergesellschaft sie nach sich gezogen hatte oder zu einer heimlichen Entführung Vorbereitungen traf. –

Die Geschwister schmachteten unterdessen noch immer als Gefangene in der trostlosen Einsamkeit der unheimlichen Baracke. Ihre Aussicht beschränkte sich auf einen schmalen Streifen des Himmels, ihre Unterhaltung einzig darauf, daß der irrsinnige Clown, so oft er glaubte, es unentdeckt ausführen zu können, zu ihnen hereinschlüpfte und in seiner barocken Weise ihnen die Zeit verkürzte. Die Hoffnung auf die Verwirklichung der ihnen vorgespiegelten freundlichen Bilder hatten sie aufgegeben. Als eine willkommene Unterbrechung ihrer traurigen Vereinsamung erschien ihnen daher die Ankündigung der alten Rowdy, daß sie folgenden Tages zum erstenmal wieder unter Menschen geführt werden sollten, um vor denen ihre Kunstfertigkeit zu üben.

So war wiederum der Abend hereingebrochen, und ihr wunderlicher Nachbar, der ihnen bei Todesstrafe verbot, ihn durch ihre Leistungen in den Schatten zu stellen, hatte sich vor kurzem erst entfernt, als die Hauswirtin erschien, um sie in die unteren Räume hinab zu geleiten. Dort trafen sie den Irren bereits in voller Tätigkeit, durch die tollsten Gauklerstückchen den Beifall einer aus der niedrigsten Volkshefe zusammengewürfelten Gesellschaft zu erringen.

Obwohl den widerwärtigsten Kneiphöhlen nicht fremd, raubte die entgegenströmende, mit Tabaksqualm und dem Duft von Branntwein gefüllte Atmosphäre ihnen fast den Atem. Es beängstigten sie die in die häßlichsten Formen gekleideten Willkommgrüße, vor allem aber ein hinter dem Schenktisch stehender, hünenhaft gebauter Mann mit verschwollenem Trinkergesicht, den die Wirtin zu dem einzigen Zweck in ihre Dienste genommen hatte, bei ausbrechendem Hader durch tätliches Eingreifen eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. Er war es auch, der nach ihrem Eintreten durch rücksichtsloses Schwingen eines Stuhls Raum für sie schuf und die zur Ausübung ihrer Kunst erforderlichen einfachen Geräte aufstellte; dann aber arbeiteten sie in einer Weise, daß rohe Beifallsbezeugungen den heißen, dunstigen Raum erfüllten und sie zu immer neuen Anstrengungen zwangen.

Der abgedankte Clown hatte sich in den entferntesten Winkel zurückgezogen. Sein Versuch, mit in die Vorstellung einzugreifen und durch tolle Sprünge und Kapriolen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war mit Hohn und Spott, sogar mit Drohungen gelohnt worden, wenn er das Spiel der Geschwister abermals störe. Jetzt saß er da, in seiner roten, schlotterigen Bekleidung einem Gnomen ähnlich, der auf Unheil sinnt. Die kleinen, boshaft funkelnden Augen hielt er unbeweglich auf die Geschwister gerichtet, von denen er sich plötzlich in den Hintergrund gedrängt und in der Gunst der Gäste herabgesetzt sah. Ihn selbst beachtete niemand mehr; es fiel daher keinem auf, wie sein wunderlich gefärbtes Gesicht immer mehr den Ausdruck eines bösen Feindes annahm, der nach einer Gelegenheit zur Ausübung seiner Tücke späht. Nur wenn das Beifallsgetöse sich zu ohrenbetäubendem Lärm steigerte, wand er sich auf seinem Stuhl wie jemand, der von körperlichen Schmerzen heimgesucht wird. Sein höhnisches Lachen aber schallte mißtönend zwischen den Gästen hindurch, als die Geschwister, für die man keine Schonung kannte, endlich erschöpft zusammenbrachen und mit Tränen in den Augen erklärten, nicht mehr zu können. Selbst die Rohesten der zum Teil berauschten Gesellschaft blieben durch solch' Flehen nicht ungerührt, und tiefer griff mancher in die Tasche, als die Wirtin mit dem Teller herumging, um zum Besten der Wunderkinder, wie sie behauptete, eine Sammlung zu veranstalten.

Sie war noch mit dieser Arbeit beschäftigt, als abermals das gellende Lachen des Clowns erschallte.

»Keine Kraft, kein Saft!« kreischte er von Eifersucht gestachelt, »Puppen sind's, die nur so lange tanzen, wie man an den Schnürchen zieht! Puppen mit 'ner Kleinigkeit Leben drinnen, und das geht zum Henker, wenn sie 'ne Minute über die Zeit arbeiten! Hurra, Gentlemen!« gellte er mit einer Grimasse, die ihm einen Teil der verlorenen Gunst wieder zurückgewann, »der wahre Künstler ist unermüdlich! Platz da in der Mitte! Ich will euch zeigen, was ein rechter Mann bedeutet!« und bald nach vorne, bald rückwärts überschlug er sich in der Luft zum allgemeinen Jubel, bis er endlich in der Richtung nach der Tür hinüber ein Rad nach dem andern schlug und so auf den Flurgang hinaus gelangte. Dort erst richtete er sich wieder auf, und den Kopf in die Tür steckend, zeterte er hohnlachend: »Ihr möchtet gern mehr haben von der Sorte? Was? Könnt lange drauf warten! Habt da die beiden Puppen, die laßt tanzen, bis ihnen der Atem vergeht und die Schnüre reißen! Es gibt nur einen Mann mit 'ner Apfelsine im Kopf! Hahaha! Verdammt sollt ihr alle sein, bevor ich auch nur noch ein Glied für euch rühre!« Mit ohrenzerreißendem Krähen stürmte er davon und die Treppe hinauf.

»Dem ist's in die Krone geschossen, daß andere mehr verstehen, als er, und Kinder obenein!« entschuldigte die Rowdy das tolle Gebühren des Clowns, dessen Verwünschungen jetzt mehr Lust bereiteten, als zuvor seine Sprünge. »Soll er morgen abend auf den Händen gehen und Nüsse mit dem offenen Maule auffangen, müßt ihr ihm zuvor große Komplimente machen. Denn er ist eigensinnig wie 'n kolleriger Gaul, den man mit glühendem Eisen kitzelte.«

Während Beifallsgejohle nunmehr der Rowdy von allen Seiten gespendet wurde, fiel ihr Blick auf die Geschwister. Schwer atmend saßen sie da. Der Schweiß perlte ihnen von den Stirnen. Flehend hatten sie die großen traurigen Augen zu dem Weibe erhoben. Ihre Glieder zitterten nach der ihre Kräfte übersteigenden Anstrengung.

»Für heute genug,« sprach sie zu ihnen, aber Mitleid war es am wenigsten, was ihr diesen Ausspruch entlockte. »Habt gerade so viel geleistet, wie zu 'nem geruhigen Schlaf dienlich ist. Geht daher hinauf in euer Zimmer; ein handfestes Abendbrot soll euch nicht vorenthalten werden.« Und gefolgt von den beiden Jammergestalten in den verblichenen und geflickten Tressenkleidern, begab sie sich zunächst nach der Küche. Von dort aus, wo sie nach gewohnter Weise den Handkorb füllte, führte sie die Kinder in ihren höhlenartigen Raum hinauf, und vor der Matratze niederkauernd, ordnete sie die wenig einladenden Speisen wieder auf dem Fußboden.

»Jetzt laßt's euch schmecken,« sprach sie, indem sie das in dem Flaschenhals steckende Licht anzündete, »denn heut könnt ihr mit gutem Gewissen behaupten, daß ihr euer Brot verdientet. Morgen gibt's neue Arbeit, da gehört sich's, daß ihr ordentlich Kräfte sammelt. Eure vornehmen Freunde scheinen's überhaupt mit dem Abholen nicht eilig zu haben. So – wie die Kerze fein brennt. Will nur noch hin und euern Nachbarn einschließen; denn der Henker traue dem, wenn er einmal tückisch geworden, und das ist er jetzt über die Maßen. Ihr habt ihn mit euren Künsten ausgestochen, und das vergißt er euch nie. Bliebe seine Tür offen, so wäre er imstande, euch den Hals umzudrehen in seiner Wut, zumal an eurer Tür kein brauchbares Schloß mehr ist. Ängstigt euch indessen nicht,« fuhr sie fort, als sie gewahrte, daß die Geschwister entsetzt zu ihr aufsahen, »das Schloß an seiner Tür ist um so sicherer, und sollte er toben, so kümmert euch nicht darum. Verrückte wissen nicht, was sie tun, und recht bei Sinnen ist er nicht, das werdet ihr wohl ausgemacht haben.«

Sie schlurfte hinaus. Gleich darauf unterschieden die Geschwister, daß sie mit dem Clown in heftigen Wortwechsel geraten war, der mit dem Zuschlagen und Verriegeln der Tür endigte. Im Vorbeigehen warf das Weib noch einen Blick zu ihnen herein.

»Der soll euch nicht viel hindern,« rief sie hämisch lachend aus, »aber einen Grimm hat er auf euch, als wäret ihr einzig und allein zu seinem Ärger in die Welt gesetzt worden.« Vor sich hin kichernd entfernte sie sich.

Lange hatten die Geschwister dagesessen, ohne einen Laut von sich zu geben. Erst als unten die Türen wieder schlugen, wagte der Knabe seine Stimme zu erheben.

»Wenn er nur kommen wollte und uns beiden den Hals umdrehen,« sprach er mit ergreifender, durch Verzweiflung erzeugter Todesverachtung. »Was sollen wir noch unter den Menschen? Wo sie uns sehen, peinigen sie uns. Ich möchte allen aus dem Wege sein.«

Susanna zog sein Haupt an sich.

»Er kommt nicht,« beruhigte sie zaghaft, »du hörtest, wie sie ihn einschloß –«

»Er kommt nicht, denn er ist schon da,« ertönte eine vor Erregung röchelnde Stimme in der Tür, und hinüberschauend erkannten sie den Irren, wie er, noch in seinen roten Lumpen, ihnen boshaft zugrinste. »Ja, er ist schon da, und bringe ich euch nicht um, so geschieht's, weil ich keine Lust hege, wie ein Bündel Flicken am Galgen aufgehangen zu werden. Aber verdient hättet ihr den Tod, weil ihr euer Bestes leistetet, daß ich nicht gegen euch aufkommen konnte; aber freilich –« er sann einige Sekunden nach, und den Finger an die blau gefärbte Nase legend, raunte er ihnen geheimnisvoll zu: »Nein, ihr konntet nicht anders, sonst hätte der Kerl hinter dem Schenktisch euch geschunden. Zum zweitenmal sollt ihr mich mit meiner berühmten Kunst indessen nicht in den Schatten stellen, denn noch in dieser Nacht müßt ihr fort von hier, oder es gibt ein Unglück. Fort – fort,« und mit jedem »fort« emporschnellend und sich in der Luft überschlagend, gelangte er vor die zitternden Geschwister hin. Dort kauerte er mit untergeschlagenen Beinen nieder, und die Ellenbogen auf die Knie stützend und das Haupt in beide Hände gelegt, betrachtete er sie verschmitzt.

Bild: Max Vogel

»Also fort von hier noch in dieser Nacht,« beteuerte er abermals; »da aber zu einer gefährlichen Flucht Kräfte gehören, so rat ich euch, vor allen Dingen zu essen. Ich bringe unterdessen die verdammte Apfelsine in meinem Kopf zur Ruhe, damit sie mir später das Gleichgewicht nicht stört,« und flink herumkugelnd, kam er auf die Hände zu stehen, auf denen er mit der plumpen Grazie eines Bären einherschwankte, ohne dadurch in seinem Gespräch behindert zu werden. »Ich sage euch, eßt,« wiederholte er streng, »mögen die Speisen immerhin schlecht sein, so füllen sie doch den Magen, und hungrig seid ihr, das sieht man euch aus fünfzig Schritte an; also vorwärts.«

Schüchtern griffen die Geschwister nun zu. Sie glichen Automaten, deren Bewegungen von dem Willen des Irren abhängig waren. Dieser aber gewahrte kaum, daß sie in der Tat aßen, als er mit einem kühnen Luftsprunge sich wieder vor ihnen niederließ und sogar die Bissen für sie zurechtlegte. Etwas Krampfhartes lag in seinem Tun. Es

offenbarte sich darin das sein ganzes wirres Denken erfüllende Trachten, die Ursache der erfahrenen Kränkungen so bald wie möglich aus seinem Wege zu schaffen. Rätselhaft erschien dabei, woher er die Kraft zu der nimmer rastenden Beweglichkeit nahm; denn wie der letzte kleine Verstandesfunke dem Einfluß unablässiger, heftiger Erregungen, so mußte auch der dürre, schmächtige Körper den an ihn gestellten, sinnlosen Anforderungen schließlich unterliegen. Aber er schien nach beiden Richtungen hin unempfindlich zu sein, und mit fieberhafter Redseligkeit erzählte er: »Ungern möchte ich euch ein Leid zufügen; und dennoch, gelingt es mir nicht, euch in dieser Nacht über die Berge zu schaffen, so seid ihr verloren, Grund genug für euch, auf meine Befehle zu achten und meine Ratschläge pünktlich auszuführen. Ich gehe jetzt in meine Wohnung zurück, um mich gentlemanartig zu kleiden; denn ein vernünftiger Mensch kann unmöglich von mir verlangen, in solchem Aufzuge mich auf der Straße zu zeigen. Man würde mich für verrückt halten. Ihr dagegen streift eure Lumpen über die bunten Fetzen, da mag der Henker raten, was drunter verborgen ist. Eine Stunde oder so herum mag es dauern, bis die letzten Gäste zum Teufel sind, dann noch eine halbe Stunde, bevor ich mich von der Sicherheit im Hause überzeugte, und sind wir erst auf der Straße, so mögen alle uns nachpfeifen. Bevor der Tag graut, schlafe ich wieder in meiner verschlossenen Kammer, und findet das Weib euch nicht mehr vor, so kann's nur glauben, der Böse sei mit euch zum Schornstein hinausgefahren.«

»Wohin sollen wir denn gehen?« fragte Susanna zaghaft, obwohl sie die Furcht vor einem unmittelbaren Angriff des Irren mehr und mehr schwinden fühlte.

»Wohin?« fragte der Clown gedehnt zurück, und abermals legte er den Finger an die blaue Nase. »Wohin? Bei Gott, Mädchen, du fragst gescheiter, als mancher, der ein halb dutzendmal so alt ist wie du – verdammt! Die Apfelsine ist wieder lose. Weiß der Henker, ich brauch' nur scharf zu denken, und sie rollt in meinem Schädel, wie auf 'ner Kegelbahn.« Mit dem letzten Wort stand er wieder auf den Händen, seinen Kopf so wunderlich drehend, wendend und schüttelnd, daß der Knabe sich des Lachens nicht zu enthalten vermochte, Susanna sogar sich zu einem matten Lächeln bequemte. »Ja, das Wohin, das ist die Frage. Doch jetzt hab' ich's –« die Apfelsine war offenbar zum Stillstand gelangt, denn blitzschnell nahm er seine kauernde Stellung wieder ein, und munter fuhr er fort: »Ja, ich hab's: du selber sollst mir's sagen.«

»Ich weiß es nicht,« hieß es kleinlaut zurück, »zum Vater möchten wir nicht; der würde uns keinen guten Empfang bereiten.«

»Richtig, Kind, nicht zum Vater, denn der brächte euch auf der Stelle wieder hierher. Besinne dich also; kennst du keinen anderen, bei dem ihr 'nen guten Unterschlupf fändet?«

»Ich wüßte wohl jemand, allein da wir nicht abgeholt wurden, scheue ich mich, ihm zur Last zu fallen.«

»Unsinn, ihr fallt keinem zur Last, nur mir allein. Daher müßt ihr fort, und wäre ich gezwungen, euch zum – ja, zu wem? Was sind's für Leute, von denen du redest?«

»Eine vornehme Dame und ein Herr. Sie sagten einmal, sie wollten für uns sorgen.«

»Da wären wir ja aus aller Not. Wie heißen sie?«

»Das weiß ich nicht.«

»Auch nicht, wo sie wohnen?«

»Ich glaube, auf einem Schiff im Hafen,« antwortete Susanna mit wachsender Hoffnung.

»Im Hafen?« wiederholte der Clown nachdenklich. »Im Hafen? Mehr zu wissen lohnt sich nicht; wir brauchen nur auf jedem Schiff anzufragen, und bevor der Tag graut, seid ihr bei euren Freunden. Doch jetzt schlaft noch 'ne Kleinigkeit, damit ihr frisch seid, wenn ich komme.« Hastig kehrte er sich um, und kein Schatten hätte leichter einherschleichen können, als er auf dem Wege nach seinem Gefängnis.

»Was meinst du dazu?« fragte der Knabe, dessen Mut nach dem Verschwinden des Irren wieder gesunken war.

»Es bleibt uns keine Wahl, wir müssen ihm folgen,« antwortete Susanna ernst. »Schlechter als hier kann es uns nirgends ergehen. Lieber auf der Straße um ein paar Cent arbeiten, als in diesem Hause vor den schrecklichen Menschen. Ich hasse sie. Sie betrachten mich so seltsam und reden geheimnisvolle Dinge, um uns hinterher zu verlachen. Aber jetzt lege den Kopf auf meinen Schoß und versuche zu schlafen. Ich bewache dich unterdessen. Wer weiß, ob er überhaupt noch kommt.«

Bild: Max Vogel

Der Knabe befolgte ihren Rat, und als hätte er sich unter dem Schutze der Schwester gegen alle Fährnisse der Welt sicher gefühlt, entschlief er, von Mattigkeit überwältigt, alsbald.

Die Zeit verrann, mechanisch lauschte das Mädchen dem schwindenden Lärm in den unteren Räumen. Dann noch ein letzter schwerer Schlag, und Stille herrschte in dem unheimlichen Bau. Da fiel ein matter Lichtschein in den dumpfigen Raum. Susanna sah auf, und in der Türe stand, vor sich eine brennende Kerze tragend, der alte Clown. Sie erschrak;

denn erst nach schärferem Hinüberspähen erkannte sie ihn wieder. Statt in der lächerlichen roten Lumpenhülle, in der sie ihn bisher nur sah, prangte in einem schäbigen, schwarzen Anzuge, der ihn äußerlich zu einem halbverhungerten Gelehrten stempelte. Das gesäuberte Gesicht hatte er in würdige Falten gelegt und einen uralten Zylinderhut auf sein kleines Haupt gedrückt. Nur seine Augen verrieten noch den gewaltsam bekämpften Irrsinn. In ihrem unsteten Funkeln offenbarten sich Tücke und Schadenfreude, geeint mit jenem ungewöhnlichen Scharfsinn, wie er gerade geistig Gestörten vielfach eigentümlich ist.

»Es ist Zeit,« sprach er ruhig und mit einer Überlegung, durch die Susannas Vertrauen zu ihm befestigt wurde. »Bis zur Zeit, daß ihr fertig seid und wir hinuntergestiegen sind, schläft die alte Hexe so fest, daß die Trompeten – oder waren's Posaunen – Jerichos sie nicht zu ermuntern vermöchten. Ich kenne das an ihr, denn öfter schon besuchte ich sie zu solcher Stunde, wenn die Apfelsine mir keine Ruhe gönnte. Ich hätte sie erwürgen können, ohne daß sie es gewahr geworden wäre; doch ich gebrauchte sie, und deshalb blieb sie verschont. Jetzt vorwärts. Der Branntweinrausch, mit dem die Hexe jedesmal ihr erbärmliches Tagewerk abschließt, möchte sonst verfliegen, bevor frische Luft uns um die Nase weht.«

Susanna weckte den Bruder. Ihrem zärtlichen Zuspruch gelang es leicht, seine letzte Verschlafenheit zu verscheuchen und ihn für die vor ihnen liegende Aufgabe vorzubereiten. Nach einigen Minuten traten sie Hand in Hand vor den alten Gaukler hin, der sie so lange nachdenklich betrachtet hatte.

Er kehrte sich um, und gefolgt von den bebenden Geschwistern schlich er der Treppe zu. Nachdem er sie angewiesen hatte, nur diejenigen Stufen zu betreten, die ihn selbst zuvor getragen hatten, von denen er also wußte, daß sie kein zu lautes Knarren erzeugten, begann er, sich langsam abwärts zu bewegen. Seiner Ratschläge eingedenk, schlossen die Geschwister sich ihm vorsichtig an. Geräuschlos von Stufe zu Stufe gleitend, bald diese, bald jene überschlagend und gestreift von der Beleuchtung des rötlich brennenden Lichtstumpfens, hätte man die drei Gestalten mit der Unterwelt entstiegenen Geistern vergleichen mögen, die auf Fledermausflügeln niederwärts schwebten.

So erreichten sie den nächsten Flurgang. Dort blieb der Clown eine Weile lauschend stehen. Atemlos beobachtete Susanna sein Mienenspiel. Sie zitterte bei dem Gedanken, daß sein Irrsinn zum lärmenden Ausbruch gelangen könne oder die in Bewegung geratene Apfelsine ihn zu den gewohnten Gegenmitteln treibe. Er hatte sich aber zu fest an die Lösung der ihm vorschwebenden Ausgabe angeklammert, um von der einmal eingeschlagenen Bahn abzuweichen. Einem Fuchs ähnlich schaute er darein, dessen Augen und Ohren überall waren, um einen Ausweg aus der ihm gestellten Falle zu entdecken.

Wie die erste Treppe, überwanden sie die zweite. Dann aber verdoppelten sie ihre Vorsicht.

Sie befanden sich unten in einem Flurgange, auf den sich zu beiden Seiten Türen öffneten, die zur nächtlichen Stunde verschlossen gehalten wurden. Die Geschwister am Fuße der Treppe zurücklassend, schlich der Clown nach der nächsten hinüber. Bei jedem neuen Schritt die Schultern hoch emporziehend, schien er den Estrich mit den Füßen kaum zu berühren. Als er aber das Ohr argwöhnisch horchend an die Tür legte, ging plötzlich eine eigentümliche Veränderung aus seinem Antlitz vor sich. In hellem Triumph strahlte es. Boshafte Freude leuchtete aus seinen zwinkernden Augen. Tiefes Schnarchen auf der anderen Seite der Tür hatte ihn belehrt, daß die Wirtin in einen todähnlichen Schlaf gesunken war. Den Geschwistern sich wieder zugesellend, führte er sie in den Küchenraum. Dort bedeutete er sie, hinter mehreren leeren Fässern und Kisten sich zu verkriechen. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie von einem oberflächlichen Blick nicht erreicht werden konnten, verlöschte er das Licht. Wohl zehn Minuten verrannen darauf in lautloser Stille. Als wäre der Irre mit den Augen nachtliebender Tiere ausgerüstet gewesen, hatte er die Küche geräuschlos verlassen, um auf einem Umwege durch das Innere des Hauses in das Schlafzimmer der Wirtin zu gelangen. Mit angehaltenem Atem lauschten die Geschwister. Endlich unterschieden sie wieder das Knistern des Sandes unter behutsam einherschleichenden Füßen. Sie atmeten indessen kaum auf, als in geringer Entfernung von ihnen das laute Poltern ertönte, mit dem ein schwerer Gegenstand ins Gleiten geriet und niederschlug. Das alsbald darauf folgende »Ssst« belehrte sie, daß der Clown das verräterische Geräusch unabsichtlich selbst erzeugt hatte und sie warnte, auf der Hut zu sein. Und wiederum herrschte die Stille des Grabes. Doch nur eine Minute verrann, und sie erhielten den Beweis, daß die Wirtin trotz ihres Rausches nicht so fest schlief, wie ihr Führer behauptete. Im Innern des Hauses ging eine Tür, das bekannte Schlurfen unförmlich beschuhter Füße folgte, und geräuschvoll wurde die in die Küche führende Tür aufgestoßen. Matter Lichtschein drang zu den Geschwistern in ihr Versteck, und bei diesem erkannten sie zwischen Kisten und Tonnen hindurch die Rowdy. Im dürftigsten Nachtkleide einer der Hölle entsprungenen Furie ähnlich, trug sie in der einen Hand das Licht, in der anderen ein großes Vorlegemesser. Auf der Schwelle war sie stehen geblieben, um zunächst einen argwöhnischen Blick durch den Küchenraum zu senden. Die Richtung ihrer Augen begleitete sie jedesmal mit dem Schein des Lichtes. Dadurch wurden die von tödlichem Schrecken befallenen Geschwister auch des Clowns ansichtig. Hinter der nicht ganz bis zur Wand zurückgeschlagenen Tür stand er, nur durch diese von dem Weibe geschieden. Seine rechte Faust umklammerte gleichfalls das Heft eines großen Messers, die linke den kurz zuvor entwendeten schweren Schlüssel, der ebenfalls die Stelle einer Waffe vertreten konnte.

Bild: Max Vogel

Zu dürftigster Nachtkleidung, einer der Hölle entstiegenen Furie ähnlich, trug sie in einer Hand das Licht, in der anderen ein großes Vorlegemesser.

Fortgesetzt mißtrauisch um sich spähend, wurde die Wirtin eines Brettes ansichtig, das anscheinend durch die Erschütterung vorüberrollender Wagen gelockert, ins Gleiten geraten und neben der Wand, an der es ursprünglich lehnte, niedergefallen war. Dadurch beruhigt, schritt sie weiter, um auch auf den Flurgang hinaus zu leuchten. Hätte ein Blick von ihr auch nur einen Zipfel der Bekleidung der in Todesangst schwebenden Geschwister gestreift, so wäre die Entdeckung unausbleiblich gewesen. Zu deren Heil gereichte aber, daß das von schwankender Hand getragene Licht einen zu jähen Wechsel der Beleuchtung erzeugte, um irgend einen Gegenstand klarer hervortreten zu lassen. Nach Prüfung des Flurs mit erhöhtem Sicherheitsgefühl durch den Küchenraum schreitend, achtete sie ihrer Umgebung kaum noch. Nachlässig zog sie die Tür, hinter der der Irre sich in den schattigen Winkel schmiegte, hinter sich zu, und gleich daraus verhallten die schlurfenden Schritte. Doch mindestens eine Viertelstunde bangen Harrens verstrich noch, bevor der Clown trotz seiner gefährlichen Bewaffnung sich wieder zu rühren wagte. Leise schleichend, zündete er zunächst sein Licht wieder an.

Die Geschwister nach der Außenwand der Küche hinüberführend, wies er aus ein Fenster von etwa anderthalb Fuß im Geviert, das gegen fünf Fuß hoch oberhalb des Estrichs lag. Dringlich bedeutete er sie, daß sie durch die Öffnung hindurch müßten, und nachdem er den das Fenster geschlossen haltenden Riegel zurückgedreht hatte, löschte er das Licht wieder aus.

Für Menschen, deren ganzes Dasein auf ihrer Gewandtheit beruhte, war es keine schwere Aufgabe, zumal die Freiheit auf dem Spiele stand, einen derartigen Weg einzuschlagen. Susanna machte den Anfang. Sich an der Fensterfüllung emporziehend und dann zusammenkrümmend, schob sie zunächst die Füße durch die enge Öffnung, und mit der Beweglichkeit eines Marders folgte der übrige Körper alsbald nach. Unhörbar schlug sie mit den Füßen unten auf, und sie kämpfte in der Finsternis noch flüchtig ums Gleichgewicht, als ihr Bruder, von Angst und dem Verlangen, bei ihr zu sein, getrieben, bereits oben erschien und in der nächsten Sekunde neben ihr stand. Schneller noch verließ der Clown, der diesen Weg offenbar nicht zum ersten Male zurücklegte, die Küche. So viel Susanna zu unterscheiden vermochte, befanden sie sich auf einem finsteren Hofe, dessen Ausdünstung verriet, daß der Kehricht eines Vierteljahrhunderts dort als Unterlage für zerbrochene Töpfe, Flaschen und sonstige außer Gebrauch gesetzte Hausgeräte diente.

Doch zur Umschau gönnte der Clown ihr keine Zeit. Wie sie den Bruder hielt, packte jener ihre Hand, und nach wenigen Schritten standen sie vor einer schmalen, festen Tür. Mit geübtem Griff schob der Irre den Riesenschlüssel ins Schloß. Unter seinem behutsamen Druck folgte leises Knirschen und Kreischen und gleich darauf traten alle drei auf die Straße hinaus. Dort säumten sie, bis der Clown die Tür wieder notdürftig befestigt hatte, und sich überzeugend, daß die Gasse vollkommen verödet lag, schlugen sie die Richtung ein, die sie in kürzester Frist nach dem Hafen führte.

Anfänglich schweigsam, lebte der närrische alte Gaukler auf, sobald die ersten hundert Schritte hinter ihnen lagen. Dann aber schwang er seinen gewichtigen Schlüssel triumphierend, und hoch und teuer vermaß er sich, jedem den Schädel einzuschlagen, der sich ihnen hindernd in den Weg stellen würde. Erst Susanna brachte ihn wieder zur Besinnung, als sie ihn daran erinnerte, daß sie irgend ein bestimmtes Ziel ins Auge fassen müßten, anstatt planlos die vereinsamten Straßen und Gassen zu durchirren.

Bereitwillig ging er darauf ein, und ein Mann mit dem gesundesten Verstande hätte der beiden Geschwister Angaben nicht bedachtsamer prüfen und darnach seine Entscheidung treffen können, als er nunmehr die Fortsetzung der Flucht mit ihnen beriet.


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