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Der Angriff

Das als Gefängnis dienende Haus war klein und sehr niedrig; es hatte keine Fenster und empfing sein Licht nur durch eine sehr lange Schießscharte, die aber so schmal war, daß keine Katze hätte hindurch schlüpfen können. Die Mauern waren sehr dick und die Türe durch alte Eisenbahnschienen verstärkt und verrammelt. Es war in diesem Augenblicke nicht anders, als ob das Dach, die Türe und selbst die Mauern zitterten wie ein Topf kochendes Wasser, den man auf zu großes Feuer gesetzt, ein so furchtbares Fluchen und wildes Geschrei ertönte aus dem Innern des Gefängnisses. Der Lärm war so schrecklich, daß, obwohl die Stunde der Siesta längst gekommen war, doch keiner auf der Station ein Auge schließen konnte. Die Soldaten, Joyeus Joyeus, Beiname der französischen Soldaten der Afrikanischen Bataillone. der afrikanischen Bataillone und Soldaten der Fremdenlegion lauschten teils verdrossen und teils amüsiert der Flut wilder Schimpfworte und entsetzlicher Flüche, die der Gefangene ausstieß. Die Gums Gums, so wird die Abteilung eingeborener irregulärer Reiterei in Algerien genannt. verzogen ihre gelben Gesichter zu einem vergnügten Grinsen, wenn sie eine besonders schöne ihnen bekannte Schmähung vernahmen. Die Offiziere, die Paradeanzug trugen – weil man den inspizierenden General erwartete – zogen sich, um das Prestige ihrer Uniform zu wahren, so rasch wie möglich zurück und selbst die Kamele, die sich in den großen Höfen mit den Mauern von grauer Erde zur Ruhe niedergelassen hatten, grunzten vor Unwillen, als ob sie zu schwer belastet würden. Die schwere Luft wurde ab und zu durch den aus der Sahara kommenden Wind bewegt, der eine unerträgliche Hitze ausströmte. Eine große Düne, ein Berg von trocknem, roten Sande begrenzte den Horizont; sie fing die sengende Glut der Sonne auf und erstrahlte in einer die Augen blendenden, unerträglichen Helligkeit.

Barnavaux schlich sich vorsichtig an die Türe des Gefängnisses heran.

»Was ist eigentlich da drinnen los,« fragte ich ihn.

»Oh,« sagte er, »nichts, es ist Chavarot, der Sieger, der einen Koller hat und sich austoben muß.«

Und er benutzte einen kurzen Augenblick der Ruhe um ihm zuzurufen:

»Was willst du eigentlich? Chavarot?«

Die Stimme Chavarots antwortete ihm zornig:

»Vor allen Dingen habe ich Durst! Aber das ist nicht die Hauptsache: wo steckt er, dieser General? … (Hier überhäufte Chavarot seinen hohen Vorgesetzten mit einer Flut von Schmähreden, die wiederzugeben fast unmöglich und auch überflüssig ist) »Wo ist er, der Halunke, der Schuft? Ich will, daß er sofort hierher komme.«

»Er ist aber überhaupt noch gar nicht angekommen,« sagte Barnavaux in versöhnendem Tone; »aber wenn er kommt, wird er es als eine Pflicht ansehen, dir einen Besuch in deinen Salons zu machen! Er wird dir dann wohl dreißig Tage schweren Arrest zudiktieren, du bist wirklich ehrgeizig.«

»Wenn er nicht käme,« antwortete Chavarot etwas ruhiger, »so würde er sie mir durch die Post zusenden. Aber ich habe ihm ein Wörtchen zu sagen.«

»Du wirst ihn sehen, du wirst ihn sehen,« wiederholte Barnavaux noch einmal. »Er ist wirklich noch nicht angekommen, mein Wort darauf! Aber könntest du nicht jetzt ein wenig ruhig sein und deine Kameraden schlafen lassen?«

Es wurde nun wirklich plötzlich stille, Chavarot schien sich fürs erste ausgetobt zu haben, und ich fragte: »Was hat er verübt?«

»Der?« sagte Barnavaux. »O nichts: er war natürlich vollständig betrunken und hat dann seine Suppenschüssel dem Koch an den Kopf geworfen unter dem Vorwande, daß die Suppe kalt gewesen sei. Es ist sonderbar, daß in diesen heißen Ländern die Suppe immer zu kalt sein soll! Na, und dann hat er die vier Leute, die dazu kommandiert waren, ihn festzunehmen, schmählich verhauen und ihnen sogar leichte Verwundungen beigebracht. Der arme Junge, da er rückfällig ist, kostet ihm der Spaß dreizehn Monate Gefängnis. Abgesehen von seinen kleinen Schwächen ist Chavarot aber ein feiner Kerl, ein bevorzugter Liebling der Damen des Boulevards Ornano: so etwas wie ein Apache.«

»Aber,« fügte Barnavaux nach einer Weile nachdenklich hinzu: »Gleichviel, ich möchte doch wohl wissen, was er dem General zu sagen hat. Der Sieger! Es steckt Stolz in diesem Burschen.«

Der General kam erst gegen fünf Uhr, als der Abend schon dämmerte. Barnavaux hatte daher Zeit, mir zu erklären, warum Chavarot so stolz sei.

»Sehen Sie,« sagte er zu mir, »das ist, weil er vor zwei Jahren die große Expedition von Tadémaït mitgemacht hat. Es scheint, daß es notwendig war, diese Expedition auszuführen. Meine Ansicht aber ist nun die: so lange es in der Wüste Leute gibt, die nur darauf warten, harmlosen Spaziergängern, die sich allein hineinwagen und die keinem etwas zuleide tun, den Bauch kreuzweise aufzuschneiden und Schweinereien hineinzustecken, wie das ihre Gewohnheit ist, so lange werden auch alle andern Beschnittenen, die von Marokko, Algerien und Tunis an dem Gedanken festhalten, daß ihnen eines Tages auch der Hochgenuß bescheert würde, uns kreuzweise den Bauch aufschneiden zu können. Man hat mir gesagt, daß es noch obendrein diplomatische Gründe gäbe, die die Expedition notwendig machten, Gründe, die die klugen Herren in Paris, die alles wissen, sich beim Frühstück mitteilen. Aber diese Herren, die alles wissen, sind im Grunde doch nur Künstler: sie lieben es, die nackte Tatsache, die so ist, wie ich Sie Ihnen eben dargelegt habe, mit allerlei Beiwerk auszuschmücken. Der General – es ist derselbe, den wir heute hier erwarten – schrieb damals nach Paris, daß er einen sehr guten Gedanken habe, er wolle vierhundert Mann auf Dromedaren und achthundert arabische Gums ausschicken und von ihnen sämtliche Brunnen, die selten sind, besetzen lassen und dann würden in weniger als drei Monaten alle Leute von Tadémaït, vor Durst verschmachtend, zahm wie die Lämmchen werden. Darauf aber sind die andern Generale nicht eingegangen und sie haben ihm seiner Indiskretion wegen bestraft.«

»Barnavaux,« sagte ich zu ihm, »du treibst Politik?«

»Nein, ich treibe keine Politik,« antwortete Barnavaux. »Es war eine ganz natürliche Sache, daß die andern Generale so etwas nicht dulden wollten, weil man mit vierhundert Mann keinen großen Krieg beginnt und dann eine wohlverdiente schnelle Karriere macht. Wenn Sie sich nicht durch eine sträfliche Eifersucht blenden lassen, werden Sie selbst zugeben müssen, daß die Generale in Paris ganz recht hatten.

Man brachte also eine unbesiegbare Armee zusammen: sechstausend kampfesmutige Leute, die in die Wüste zogen, zu Fuß, zu Pferde, auf Maultieren, auf allen möglichen Tieren, nur nicht auf Kamelen.

Dennoch hatten sie mehr Kamele als französische Bürger in ihrem Gefolge, aber sie wurden dazu benutzt, Zelte, kleine Kanonen, Patronen und Konserven zu transportieren und man ließ sie nur sehr langsam marschieren. Die Armee bewegte sich in drei Kolonnen vorwärts und folgte einem ganz prächtigen Plan, den man ihr in Paris vorgezeichnet hatte und die Zahl der Kamele war so groß, daß nicht genug Wasser für sie in den Brunnen war. Sie starben mit einer, den mahomedanischen Kamelen eigentümlichen Resignation; man verlangte dann Geld um andre zu kaufen und die neuen Kamele kamen auch ganz sachte und leise heran, tripp-trapp, sie wiegten den Kopf hin und her, geiferten, schnüffelten und witterten die schon vom Sand bedeckten Skelette ihrer Brüder und Freunde, die kaum gestorben waren. Gewöhnlich raubten sie ihnen ein Schienbein oder einen Wirbelknochen, den sie in die Ecke des Maules steckten, genau so, wie Sie es mit einer Zigarette machen würden. Es scheint, daß sie es tun, weil sie Bedürfnis nach … nach … einer pharmazeutischen Sache haben.«

»Nach phosphorsaurem Salz?«

»Ja. Aber das ist eine antiklerikale und materialistische Erklärung. Sie sehen wirklich aus wie alte mohamedanische Priester und Philosophen, die sich sagen: »Morgen sind wir an der Reihe. Aber auch diese unruhigen Menschen, die uns führen, werden ebenso vorübergehen. ›Inchallah!‹ – Wenn Sie jemals acht Tage mit diesen an Schienbeinen kauenden Tieren der Apokalypse durch die Wüste gezogen wären, würden Sie nichts andres mehr schreiben als Trauerhymnen. Nun befanden sich in dem Expeditionskorps eine ganze Reihe von Joyeus, Spitzbuben oder Nörgler, die man von Frankreich an die afrikanischen Bataillone geschickt hatte. Die schrieben keine Trauerhymnen, weil sie die ganze Literatur verachteten, aber sie hielten sich darum doch für sehr klug: und das ist ja auch wirklich wahr, daß sich mit unsern drei Kolonnen von je zweitausend Mann nichts erreichen ließ, absolut nichts und daß daher unser Marsch durch die Wüste ganz zwecklos war. Stellen Sie sich nur einmal vor, wie es wäre, wenn man infolge eines im Ministerium begangenen Proportionsfehlers drei Elefanten zur Rattenjagd anstellen wollte! Die … die Philosophie lehrt uns doch, daß man, um Ratten zu jagen, Rattler haben muß, nicht wahr? Aber die hatten wir nicht. –«

Die Joyeus benahmen sich nicht gerade musterhaft auf dem Marsche und vergingen sich in sträflicher Weise gegen die Disziplin. Nachdem wir Fort-Mac-Mahon, das nicht weit von Fort-Miribel liegt, hinter uns gelassen, erreichten wir endlich Aïn-Souf, eine alte kleine arabische Festung, die an einem Salzwasser enthaltenden See liegt, der jedoch zu dreiviertel ausgetrocknet ist. Da geschah es, daß die Besatzung dieser kleinen befestigten Oase einige Flintenschüsse auf uns abgab. Darauf lud man sofort die Kanonen von den Rücken der Kamele und richtete sie auf das Tor der Festung, um diese nach allen Regeln der modernen Kriegskunst zu belagern. Die Kamele grunzten, die Kanonen donnerten, die Planken des Tores zersplitterten, die Bewohner der Festung ergaben sich. Man verfaßte sofort einen Siegesbericht, dann wurde ein Kommandant ernannt und bestimmt, daß alle arabischen Gums, deren Kamele endgültig tot waren, ohne daß ein Ersatz dafür gestellt worden, in Aïn-Souf zurückbleiben und daß diese Besatzung noch durch eine Kompagnie algerischer Tirailleurs und sechzig der unerträglichsten dieser Joyeus verstärkt werden solle – die letzte Bestimmung wurde lediglich getroffen, um diese Krakeeler los zu werden. Chavarot war einer davon. Dann nahmen die drei Bataillone ihre melancholische Reise durch das Sandmeer der Wüste wieder auf.

Ich denke, daß Sie sich eine ungefähre Vorstellung von Aïn-Souf machen können? Alle diese kleinen befestigten Oasen jener Gegenden gleichen einander. Sie sind stets am Ufer eines Flusses erbaut, den man nicht sieht, aus dem einfachen Grunde, weil er dreißig Meter tief unter der Erde fließt. Aber die Araber – es scheint übrigens, daß es nicht die Araber, sondern die Berber sind – bohren tiefe Löcher in die Erde, wühlen und suchen, bis sie den Flußlauf gefunden und folgen ihm, indem sie große Tunnels bauen, die manchmal vier Meilen lang sind. Sie pflanzen Dattelpalmen und begießen sie mit dem Wasser des Flusses und an dem Orte, wo die Datteln am besten fortkommen, legen sie ihre kleine befestigte Oase an. Es sind aber nicht ihre jetzigen Bewohner, sondern deren Urgroßeltern, die die Brunnen gegraben, die Wälle befestigt und die Häuser gebaut haben, denn diese Ansiedlungen sind schon ein paar Jahrhunderte alt. Die heute in diesen Stätten hausenden Menschen beschäftigen sich nur damit, ihre Dattelpalmen zu begießen und, so viel sie Gelegenheit dazu finden, die vorüberziehenden Karawanen auszuplündern. Wenn man in der Wüste aus der Entfernung eine solche Niederlassung sieht, so scheint sie ganz klein zu sein und die Palmen sehen aus wie zerzupfte grüne Besen. Wenn man aber näher kommt, gewinnen diese befestigten Oasen ein ganz andres Aussehen, sie erscheinen groß und beinahe drohend und furchterregend. Die sehr hohen Wälle sind aus gestampfter Erde von schwärzlich-roter Farbe hergestellt; die noch höheren Türme gleichen denen, die man auf den befestigten Burgen Frankreichs sieht; immer ist ein kleiner, spitz zugehender und ganz mit Glöckchen behangener Glockenturm auf einem der Wälle angebracht. Es haust ein mohammedanischer Geistlicher darin, der allgemein dafür gilt, ein Zauberer zu sein. Das Innere dieser Festungen besteht aus einem Gewirr kleiner Straßen, die so enge zwischen den hohen Mauern liegen, daß man, wenn man sich darin befindet, in einem Graben zu sein glaubt.

Hinter diesen hohen Mauern befinden sich Säulengänge, die als Gewölbe, Magazine und Wohnungen benutzt werden. Der Kommandant quartierte sich in die hübscheste dieser Wohnungen ein, die Joyeus in einen Hof, die kabylischen Tirailleurs in einen andern, die Gums hier und dort, wo sie Platz fanden und das Mehlmagazin ebenfalls. Das schönste war, daß, als man anstelle des durch die Kanonenschüsse demolierten, ein neues Tor machen wollte, man nirgendwo ein Brett auftreiben konnte: es gibt eben kein brauchbares Holz in diesem Lande; das der Palmbäume ist mürbe und weich wie Schwamm. Es scheint, daß man vor langer Zeit das alte Tor aus Marokko kommen ließ.

Während man sich in Aïn-Souf einrichtete, so gut es eben gehen wollte, setzten die Kolonnen ihre melancholische Reise fort. Man schickte ihnen einen Proviantzug entgegen. Die tapfern Krieger von Tadémaït jedoch, die die Kolonnen selbst niemals zu Gesicht bekommen konnten, warfen sich darüber, erwürgten fünfzig Menschen, raubten die Kamele, die Munition, die Lebensmittel und alles, und erschienen dann, von ihrem Erfolg ermutigt, in einer schönen Nacht vor Aïn-Souf. Sie ließen ihre Dromedare in dem Palmengarten, umgingen leise die Festung, durchschritten einen vor den Wällen gelegenen Weideplatz für Schafe, auf dem es keine Schafe mehr gab, und machten sich eine Leiter, um damit in die Festung zu dringen und zwar durch eine Art von Fenster, das so enge war, daß immer nur ein Mann hindurchklettern konnte.«

»Aber,« unterbrach ich Barnavaux, »warum das, wenn das Tor offen war?«

»Das Tor,« erwiderte Barnavaux mit gekränkter Miene, »sie glaubten doch natürlich, daß es fest verschlossen sei! Man sieht es, daß Sie keine Ahnung davon haben, wie es im Kriege hergeht! Im Kriege vermag es nur ein großer General, ein Genie, die Dinge so zu erkennen, wie sie in Wirklichkeit sind! Ein Genie, wie solche kaum alle paar Jahrhunderte geboren werden. Napoleon war ein solches Genie … oder Bismarck  … ja, die hätten es gesehen, daß ein Tor offen war, wenn es nicht geschlossen werden konnte. Aber die andern! Die sagen sich: Natürlich wird es verschlossen sein. So ist's. Das erklärt Ihnen, warum die Krieger von Tadémaït durch ein enges Fenster krochen, anstatt durch ein offnes Tor.«

Nachdem er diese kurze und geistreiche Erklärung gegeben, fuhr Barnavaux fort:

»Der erste, der durch dieses Fenster geklettert war, mußte etwa acht Meter herunterspringen und fiel dann auf einen vollen Sack. Er schnitt mit seinem Messer hinein und fand, daß er voll Mehl war. Da steckte er schnell seinen Burnus sackförmig zusammen und fing an, ihn mit Mehl zu füllen. Der zweite, der dritte und vierte und alle andern, die ihm folgten, machten es ebenso. Da Sie es nicht wissen können, sage ich Ihnen, daß das Kriegsbrauch ist. Nun stand auf dem rings um die Wälle führenden Rundgang ein afrikanischer Tirailleur auf Wache. Als er die weißen Gestalten sah, die sich auf dem Weideplatz der Hammel bewegten, schoß er auf sie, wie dies die ihm gegebene Instruktion von ihm forderte. Darauf gaben die im Magazin befindlichen Krieger, die Mehlliebhaber, ebenfalls einige Flintenschüsse ab.«

»Aber auf wen schossen sie denn,« fragte ich.

»Auf niemand. Auf die Türe des Magazins, auf ihre Kameraden, auf die Säcke. Sie hatten den Kopf verloren. Sie würden es ebenso gemacht haben. Der Intendant erwachte natürlich von dem Geräusch der Schüsse und dachte: ›Das sind die Wachen, die mal wieder Lärm machen. Dahinter steckt jedenfalls eine Weibergeschichte!‹ Er nahm die Schlüssel und ging, um nachzusehen, was los sei. Er hatte kaum den Schlüssel in das Schloß gesteckt, als er von fünf Kugeln getroffen tot niederfiel. Er starb als ein Opfer seiner Pflichttreue, die ihm zur höchsten Ehre gereicht. Aber einen Augenblick später waren hundert Araber im Hof und die Festung so gut wie verloren.

Stellen Sie sich doch nur vor, daß alle Welt fest schlief, daß die Dunkelheit zu tief war, um überhaupt erkennen zu können, was vorging. Stellen Sie sich vor, daß der Kommandant sich am andern Ende der Festung befand, daß die algerischen Tirailleurs nie ohne strickten Befehl auch nur einen Finger gerührt haben würden und – wie dies ihre Art ist – sich mit stoischer, echt mohammedanischer Gleichgültigkeit anschickten, sich widerstandslos abschlachten zu lassen. Aber da stürzten sich plötzlich die sechzig Joyeus in den Hof, und Chavarot steckte rasch entschlossen ein Strohdach in Brand, um zu sehen, was vorging. Man muß keineswegs glauben, daß er oder seine neunundfünfzig Genossen, die ihn begleiteten, hervorragend patriotisch gesinnt gewesen oder daß sie sich durch militärischen Geist oder irgend welche andere Tugend ausgezeichnet hätten; aber sie verloren keinen Augenblick den Kopf und dachten nur daran, ihre Feinde umzubringen, weil sonst diese sie umbringen würden und schon einen der Ihrigen getötet hatten. Sehen Sie, so geht es in Wirklichkeit im Kriege zu. Sie merkten auch sehr bald, daß nichts so sehr einem langen Dolchmesser gleicht, mit dem sie durch lange Gewohnheit so gut umzugehen wissen, als wie das Bajonett eines Lebelgewehres, wenn man es von der Flinte abnimmt. Und sie gingen drauflos ohne Gnade und Barmherzigkeit. In jenen Minuten war Chavarot wirklich groß, er war der Bonaparte der Apachen. Er war Chavarot, der Sieger! Sie haben eben erst seine mächtige Stimme vernommen: sie erfüllte das Lager. ›Gewehre hoch! Feuer!‹ kommandierte er. Seine Genossen sahen sich betroffen an. Sie hatten die Gewehre weggeworfen, um mit dem Bajonette draufzugehen, instinktiv und weil die Vernunft ihnen sagte, daß in diesem engen, kaum hundert Quadratfuß umfassenden Hofe es unmöglich sei, zu zielen und zu unterscheiden, ob die Kugel Freund oder Feind träfe. Aber die Araber hatten das Kommando Chavarots vernommen. Sie kannten das Manöver, das man ausführen muß, um sich vor einer Salve von Flintenschüssen zu retten. Sie stürzten sämtlich zu Boden, krochen auf allen vieren hinter die Mehlsäcke und streckten sich dort lang aus.

›Nun drauf, schnell!‹ schrie Chavarot.

Jetzt hatten die Joyeus ihn verstanden und mit einem Satz stürzten sich die Sechzig auf die Eindringlinge, und im nächsten Augenblicke hauchten sechzig von hinten erdolchte Araber ihr Leben aus, ehe auch nur einer Zeit gehabt, einen Laut von sich zu geben oder einen Fluchtversuch zu wagen. Die Zahl der Ueberlebenden war zu gering, um noch Widerstand bieten zu können. Ohne sich zu sträuben, ließen sie sich ruhig abstechen. Es ist etwas ganz Wunderbares um den Stoizismus, mit dem diese Leute in den Tod gehen, wenn sie sich verloren wissen!

So geschah es, daß Chavarot, der Sieger (derselbe, der jetzt zu dreizehn Monaten Gefängnis verurteilt worden), Aïn-Souf gerettet hat. Er ist sich dessen bewußt! Leider nur zu sehr!«

Barnavaux hatte kaum seine Erzählung beendet, als der General im Lager ankam. Nachdem die Inspektion beendet, befahl er nach einer Meldung, die man ihm gemacht, daß Chavarot ihm vorgeführt werde.

Der Sieger von Aïn-Souf erschien mit bleichem, wachsfarbenem Gesichte, das noch die Spuren seiner Trunkenheit trug; bekleidet war er mit einem scheußlichen braunen Leinenkittel, von dem er alle Knöpfe abgerissen hatte. Sein durch das Dunkel des Gefängnisses der Sonne entwöhntes Auge blinzelte, als er an das Licht trat. Der General hörte den ihm erstatteten Rapport ruhig an und sagte dann mit trauriger Stimme:

»Das wird mit sechzig Tagen Arrest bestraft.«

Des Beispiels halber und weil man so etwas sagen muß, fügte er hinzu:

»Sie entehren die französische Armee.«

Chavarot erwiderte:

»Das hat man in Aïn-Souf nicht gesagt.«

Darauf ließ er sich mit philosophischer Ruhe in seine Zelle zurückführen. Wie den meisten Franzosen, war, nachdem er seine Meinung gesagt, die Wirklichkeit für ihn ohne jede weitere Bedeutung.


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