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Frau Murray's Rache

Frau Murray, Frau Murray! … O mein Gott, es ist ein großes Unglück passiert, der arme Herr!«

Der älteste Angestellte der Bank Murray & Co. in Singapore wischte sich den Schweiß von der Stirn und weinte bitterlich. Die Augen traten aus ihren Höhlen, weil er so schnell gelaufen, dabei geweint und sich unterwegs vergebens das Gehirn zermartert hatte, wie er es machen solle, der jungen Frau die Kunde des großen Unglücks zu überbringen, dieses Unglücks, dessen Ende noch gar nicht abzusehen war. Er hatte unter der glühenden Nachmittagssonne den weiten Weg zurückgelegt, der von der Bank, die nahe an den Docks von Singapore liegt, den Hügel hinaufführt, auf dem das Landhaus seines Herren liegt. Man hatte von dort einen herrlich weiten Blick. Jenseits der mit Gemüsen und Früchten bedeckten Anpflanzungen der Eingeborenen erhoben sich die prächtigen Häuser und Villen der Engländer, die ganz im Stile ihrer Heimat gebaut und von der üppigen Vegetation dieses Landes umgeben sind. Weiter hinaus schweifte der Blick über den Hafen, der mit Dampf- und Segelschiffen bedeckt war und auf dem sich ein reges Leben abspielte; jedoch über den Hafen weg aber, im fernen Ozean, deutlich erkennbar in der hellen klaren Luft, zeichneten sich die Umrisse einer Gruppe kleiner Inseln ab, es waren die ersten der im Süden von Hinterindien gelegenen Sundainseln. Und dazwischen kreuzten Schiffe aller Art, Dampf- und Segelschiffe mit schönen großen Segeln, chinesische Dschonken, malaische Barken, Fahrzeuge aller Art, so zahlreich und so verschieden wie die menschlichen Rassen, die einander hier begegneten, wo drei Welten zusammenfließen.

Frau Murray richtete sich auf, sie war sehr blaß geworden.

»Ist meinem Mann ein Unglück widerfahren?«

Das Buch, in dem sie gelesen hatte, entglitt ihren Händen und fiel zur Erde; der Angestellte hob es mit ungeschickter, automatenhafter Geste auf.

Dann sagte sie sehr leise:

»Ist er … ist er tot? …«

»Ja, gnädige Frau,« stieß er hervor.

Aber auch nach diesem Geständnis blieb er immer noch in qualvoller Angst vor ihr stehen, weil er ihr ja nicht alles gesagt hatte. Die junge Frau ihrerseits wunderte sich beinahe, daß sie trotz ihrer großen Liebe zu ihrem Manne so wenig bei dieser Nachricht empfand. Sie schien kein Verständnis für das Wort Tod zu haben; sie vermochte den Sinn darin nicht zu erfassen. Wenn sie geweint hätte, so würde es in diesem Augenblick nur eine Pose gewesen sein; sie vermochte es sich einfach nicht vorzustellen, daß ihr Mann tot sein könne. Alfred Murray, der, als er sie verlassen, ein verkörpertes Bild des Lebens und der Tätigkeit gewesen. Da plötzlich durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke.

»Er hat sich doch nicht selbst ums Leben gebracht?« schrie sie entsetzt.

»Nein, nein, gnädige Frau,« sagte der alte Jim Stevens, »aber er ist ermordet worden. Man hat ihn vor dem weit geöffneten Geldschrank gefunden, zwischen seinen Schultern steckte ein großes Messer. Jedenfalls hatte er die Kasse geöffnet, um das tagsüber eingegangene Geld und die Wertpapiere hineinzulegen, wie er dies jeden Abend tat, seit der Kassierer krank ist … Es ist nichts mehr in dem Schrank – sie haben alles geraubt …«

»Wer?« fragte Frau Murray heftig. »Sie wissen, wer es getan hat?«

»Weldon, der erste Korrespondent und sein Freund, der kleine Nathan, der Baumwollmakler. Sie sind es unbedingt, die das Verbrechen begangen haben. Nathan und Weldon werden zu dem Chef eingedrungen sein, und während der eine ihm die Arme festgehalten, hat der andre ihm meuchlings das Messer in den Rücken gestoßen.«

Und um sie alles wissen zu lassen, fügte er hinzu:

»Sie sind entflohen, man hat sie nicht gefaßt. Sie müssen Singapore verlassen haben.«

Frau Murray erschien vollkommen ruhig, ein Gefühl von Scham erfüllte sie, während sie sich selbst sagte: »Ich fühle nichts, ich leide nicht. Ich begreife dies alles nicht.«

Sie vermochte es einfach nicht zu fassen, daß ihr Gemahl nicht mehr unter den Lebenden weilen solle und das schreckliche Ereignis, das ihr in so brüsker Weise mitgeteilt worden, vermochte nicht das geistige Band zu zerschneiden, das sie mit Alfred Murray verband, diesem edeln, soliden und stillen Manne, der nie ein Schwätzer gewesen, der sich aber kraft seines geistigen Uebergewichtes stets Gehorsam zu verschaffen wußte. Alfred Murray, dem sie eine liebevolle Gattin gewesen, dessen Hause sie als eine weise und tüchtige Herrin vorgestanden und dem sie ihr Glück verdankte. Nur mit Anstrengung vermochte sie es sich vorzustellen, wie er nun in seinem kleinen vergitterten Büro auf dem Bauche lang ausgestreckt mit schon erkalteten steifen Gliedern da liegen mochte, während seine Kleider von Blut trieften und der Fußboden mit roten Flecken bedeckt war. Aber selbst jetzt war es vor allen ein Gefühl tiefsten Zornes, das lebhafte Bedürfnis zu handeln, etwas zu tun, was sie erfüllte. Bei dem Gedanken an die leere, ausgeplünderte Kasse vergegenwärtigte sie sich den Schmerz und die Wut des hinterrücks überfallenen und beraubten sterbenden Mannes. So lange noch ein Funken Leben in ihm gewesen, hatte er sicher keinen andern Gedanken und Wunsch gehabt als den, seinen Mördern nacheilen, ihnen das gestohlene Gut wieder abjagen zu können. Das erschien ihr so einleuchtend, so sicher, daß Frau Murray beinahe laut gerufen hätte:

»Ich fühle seine geistige Nähe, er ist es, der mich umgibt, er inspiriert meine Gedanken und will, daß ich handeln und ihn rächen soll.«

Es gibt Augenblicke im Leben der Menschen, in denen der Geist wie von einer plötzlichen Eingebung erhellt wird, die so stark ist, daß man den geheimnisvollen Einfluß eines andern stärkeren Geistes, der uns seinen Willen suggeriert, fast nicht ableugnen kann.

Fünf Minuten später ließ sie sich in einer Sänfte den Hügel hinab zur Stadt tragen und sie befahl den beiden chinesischen Trägern, all ihre Kräfte einzusetzen und so rasch zu laufen, wie ihre Beine sie tragen könnten. Ganz außer Fassung trottete Jim Stevens hinterher. In der Bank herrschte eine allgemeine Aufregung und Verstörung. In keinem der Büros wurde gearbeitet, die Angestellten hatten völlig den Kopf verloren und standen ratlos umher, nur der rasch herbeigeeilte Untersuchungsrichter war bereits in voller Tätigkeit; er verhörte einen der Beamten nach dem andern und behandelte alle Details, gleichviel, ob von Belang oder nicht, mit gleicher Wichtigkeit. Indessen lag der Tote, den man beinahe schon vergessen hatte, auf einem Liegestuhl von Bambus – eine mitleidige Hand hatte ein Taschentuch über sein Gesicht gebreitet. Aber auf diesem Tuche lagerte bereits ein Heer von Fliegen und dieser Umstand war es, der der jungen Frau schwer aufs Herz fiel, es ihr zum ersten Male klar begreiflich machte, daß Alfred Murray wirklich aus dem Leben geschieden, daß keine Macht der Erde ihn vom Tode erwecken könne. Schluchzend brach sie neben der Leiche zusammen; sie weinte so verzweiflungsvoll, daß alle Anwesenden kein Trosteswort wagten, sondern scheu zurückwichen.

Da plötzlich richtete die junge Frau sich hoch auf und mit vollkommener Ruhe, ohne jede Verwirrung, fragte sie, wie groß die gestohlene Summe sei? Diese Frage wurde in so unerwarteter und in einer so brutalen Weise gestellt, daß man beinahe Anstoß daran nahm, umsomehr, da jeder wußte, daß sie ein großmütiges, stets zum geben geneigtes Naturell hatte, ja, daß sogar der Wert des Geldes ihr im Grunde völlig unbekannt sei. Man antwortete ihr, daß sich dies noch nicht genau bestimmen lasse, und es sich erst nach Prüfung der Bücher herausstellen würde, daß aber die geraubte Summe jedenfalls mehr als dreihunderttausend Dollar in Banknoten betragen und daß die ebenfalls entwendeten Papiere und Wechsel wahrscheinlich denselben Wert entsprächen. Die Mörder hatten sich jedenfalls, ehe sie die Tat vollbracht, einen Platz auf einem der Schiffe gesichert, die von Singapore nach Aokohama und von da nach San Franzisko fahren. Uebrigens stand es fest, daß an dem heutigen Tage erst ein dieser Linie angehörendes Schiff den Hafen verlassen habe.

»Man hat sofort telegraphiert,« sagte der Untersuchungsrichter, »und wir fordern die Auslieferung der Mörder.«

Frau Murray zuckte die Achseln.

»Ich verstehe von alledem nichts,« sagte sie vollkommen gefaßt, »aber so viel weiß ich, daß Weldon und Nathan Amerikaner sind und daß die Vereinigten Staaten ihre Landsleute nicht ausliefern. Man könnte sie dort vor einen Gerichtshof stellen, aber sie wissen sehr wohl, daß sie genug haben, um ihre Richter bestechen zu können. Man muß sie verfolgen und einzuholen suchen, das ist das einzig Richtige.«

Der Untersuchungsrichter prallte zurück.

»Sie verfolgen? Womit? Wie? Das geht uns doch nichts an. Wir können uns mit der Justiz des Auslandes in Verbindung setzen, ihr alle möglichen Anhaltspunkte und Auskunft geben – auf Ihre Kosten, wohlverstanden. Damit aber haben wir unsrer Pflicht durchaus genügt.«

Ich habe keineswegs an Sie gedacht,« antwortete sie. »Ich werde selbst die Verfolgung aufnehmen. Es ist mein Mann, den man ermordet und bestohlen hat …«

Ihr erschien Alfred Murray in dem Lichte eines in der Schlacht gefallenen Anführers, den es zu ersetzen galt. Sie gab Stevens den Befehl, den Toten in ihrer Sänfte nach Hause zu tragen, bei ihm zu wachen und da sie selbst noch denselben Abend abreisen müsse, für ein würdiges Begräbnis Sorge zu tragen. Im ersten Augenblick glaubte alle Welt, daß sie verrückt geworden sei, aber man ließ sie gewähren, weil sie mit einer beinahe erschreckenden Ruhe und Festigkeit ihrem Willen Geltung zu verschaffen wußte und vielleicht auch, weil jeder mit sich selbst genug zu tun hatte und keine Zeit mit den Angelegenheiten andrer zu verlieren wünschte. Vielleicht dachte man auch, daß sie ganz von selbst und schnell genug einsehen würde, welche Schwierigkeiten sich der Ausführung ihres Vorhabens entgegenstemmen würden und daß es ihr nicht so leicht sein würde, Singapore zu verlassen; sie aber verfolgte zielbewußt und ruhig ihren Plan.

Im Hafen, die Kais entlang, lag eine lange Reihe von Schiffen, still und stumm wie schlafend da. Ihren großen Schornsteinen entstieg kein Rauch, an ihren dünnen Masten blähten sich keine Segel. Sie lagen dort, um Kohlen einzunehmen und schwer beladene Kulis schwankten unablässig über die schmale Verbindungsbrücke und entleerten ihre mit Kohlen gefüllten großen Kiepen in den schwarzen Bauch der Schiffe. Nur einem kleineren, langen, sehr leicht gebautem Fahrzeug, entstieg eine dicke Rauchsäule; sein Rumpf war mit leuchtend weißer Farbe gestrichen und es hatte ein ungewöhnlich elegantes Aussehen. Es war mit Trauben, Pfirsichen, einer ganzen Ladung frischer Früchte gefüllt, die es bis nach Indien trug. Es war dies ein ganz neues Unternehmen, der kecke Versuch eines Yankees; da ein mit Früchten beladenes Schiff selbstredend so rasch wie möglich fahren mußte, um seinen Inhalt frisch ans Ziel zu bringen, so war dieses Fahrzeug eigens zu diesem Zwecke erbaut worden und es erfüllte seinen Zweck wirklich aufs vollkommenste.

Sie mietete dieses Schiff, kaufte seinen ganzen Inhalt, den sie auf dem Markte von Singapore zu einem Spottpreise verkaufen ließ und bezahlte, ohne zu feilschen, indem sie ihr Haus und ihre Schmucksachen verpfändete, und schon um acht Uhr abends verließ sie den Hafen von Singapore, begleitet von zwei Bankbeamten, die ihr als Zeugen dienen sollten und ausgerüstet mit den Kopien der Protokolle des Untersuchungsrichters.

Sie hatte den Yankee-Kapitän des Schiffes für ihre Angelegenheit zu interessieren gewußt, und er nahm voller Begeisterung die Jagd auf.

»Das ist eine Frau,« sagte er, »allen Respekt vor ihr, sie ist eine wunderbare Frau!«

Sie hatte sich nicht einmal Zeit gegönnt, das zarte helle Sommerkleid, das sie trug, als man ihr die Hiobspost brachte, mit einem schwarzen Gewande zu vertauschen. Ganz erfüllt von ihrer Mission stand sie auf der Kommandobrücke neben dem Kapitän und ließ sich von ihm den Weg erklären, den man zu verfolgen hatte. So erfuhr sie, daß man den Hafen von Saigun passiert hatte und nun mit verdoppelter Geschwindigkeit Manilla zustrebe. Die Stöße der Schraube, die den ganzen Schiffskörper erbeben machte, erschütterten ihre Seele. Der Kapitän bot alles auf, sie zu beruhigen, er zeigte ihr die Karte und wunderte sich nur, daß diese zarte Frau keine Müdigkeit zu empfinden schien und nicht schlafen wollte. Mit vollem Dampfe und rasender Geschwindigkeit durchschnitt das Schiff die Wogen. Endlich in der Nähe Formosas entdeckte man den Rauch eines großen Dampfschiffes, und der Kapitän überzeugte sich bald, daß es wirklich das Schiff sei, das man zu erreichen suchte.

Die beiden Zeugen, die seekrank geworden und bis jetzt eine ziemlich klägliche Rolle gespielt hatten, daher dieses Abenteuer wenig ergötzlich fanden, ermannten sich nun doch und stiegen auf die Kommandobrücke. Die Mannschaft des Schiffes hatte von Anfang an dieser seltsamen Jagd und der tapfern jungen Frau lebhaftes Interesse bezeugt und beim endlichen Anblick des so eifrig verfolgten »Schwan von Japan« stimmten die Matrosen ein wahres Freudengeheul an. Der Yankee-Kapitän tanzte förmlich vor Vergnügen und sprach davon, die auf dem Vorderteil des Schiffes befindliche kleine Revolverkanone zu lösen, die man der chinesischen Seepiraten wegen aus Vorsicht an Bord genommen hatte. Der »Sonnenstrahl« flog so rasch wie ein fliegender Fisch durch das Wasser dahin; man gab ein Alarmsignal mit der Sirene, das mit betäubendem Geheul über die Flut hinfuhr; man tat des Guten zuviel. Der »Schwan von Japan« glaubte an einen bevorstehenden Ueberfall von Piraten und setzte seine Fahrt fort.

»Voran, immer voran,« schrie der Yankee dem Ingenieur zu, »wir müssen ihn erreichen!«

Und man erreichte ihn! Zwei Stunden später fuhr der Sonnenstrahl in einem Abstand von fünfundzwanzig Metern neben dem »Schwan von Japan« dahin. Die Passagiere dieses Schiffes glaubten an einen feindlichen Ueberfall und die darauf befindlichen Frauen fingen an zu weinen und zu jammern. Der Kapitän stieg mit seinem Sprachrohr bewaffnet auf die Kommandobrücke.

»Weshalb jagt ihr hinter einem ehrlichen Schiffe her? Macht euch davon, oder ich bohre euch in den Grund!«

Der Yankee versuchte nun mit Hilfe seines eigenen Sprachrohrs zunächst klarzumachen, daß ein Amerikaner sich besser wie irgendein anderer aufs Fluchen versteht, als er aber es dann zu erklären versuchte, warum er hinter einem ehrlichen Schiffe herjagte, verwirrte er sich und fluchte noch mehr.

»Geben Sie mir Ihr Sprachrohr,« sagte Frau Murray.

Dann rief sie:

»Ihr werdet uns nicht in den Grund bohren, weil wir schneller fahren als Ihr. Ich bin die Frau Alfred Murrays, der von zwei Passagieren Eures Schiffes ermordet und beraubt worden ist. Sie haben sich unter falschem Namen in Eure Passagierliste eintragen lassen, ihre wirklichen Namen sind Weldon und Nathan. Ich aber kenne Sie und ich werde Sie gefangennehmen und ihnen mein Geld abnehmen. Laßt sofort ein Boot herab, um mich auf Euer Schiff zu bringen.«

Die Stimme des Kommandanten rief dagegen:

»Sie sind verrückt. Außerdem aber geht mich das durchaus nichts an. Wenden Sie sich an Japan oder die Vereinigten Staaten, wenn Sie wollen. Und übrigens gehen Sie zum Teufel.«

»Haltet sofort an und laßt ein Boot ins Meer,« erwiderte Frau Murray. »Ich werde Ihnen alles erklären. Wenn Sie mich nicht anhören wollen, dann werde ich Ihnen bis an das Ende der Welt folgen. Ich habe eine Revolverkanone an Bord. Ich bilde mir natürlich nicht ein. Euch damit in den Grund bohren zu können, aber wir werden jeden, der sich auf der Kommandobrücke zeigt, herunterschießen und wir werden mit Ihnen anfangen. »Also lassen Sie sofort ein Boot ins Meer.«

Weldon und Nathan, die leichenblaß geworden, versuchten es, in diesem Augenblick die Brücke zu ersteigen.

»Da sind sie,« rief Frau Murray, »ich erkenne sie. Sie wollen Sie bestechen! Wenn sie sich nur noch einen Schritt weiter wagen, lasse ich schießen.«

Der Kapitän des »Sonnenstrahls« hatte schon auf die Kurbel seiner Kanone gedrückt und ein erster Schuß rollte donnernd über die Wogen des Meeres. Die Passagiere des »Schwan von Japan« glaubten, daß ihre letzte Stunde gekommen sei. Der Kommandant jedoch fand diese Szene einfach lächerlich und um ihr ein Ende zu machen, sagte er:

»Man wird ein Boot herablassen; aber ich bemerke Ihnen, daß ich Sie dann als Geisel auf meinem Schiffe festhalten werde.«

Das Boot legte am »Sonnenstrahl« an und Frau Murray nahm mit ihren beiden Zeugen Platz darin. In diesem Augenblick sagte Weldon mit harter zitternder Stimme:

»Wir haben die Partie verloren und müssen zahlen, meinst du das nicht auch, Nathan?«

Und Nathan antwortete:

»Ganz gewiß. Gute Nacht.«

Und fast gleichzeitig ertönten zwei Pistolenschüsse und zwei entseelte Körper fielen hart auf das Deck des Schiffes nieder. Die Mörder hatten sich eine Kugel durch den Kopf gejagt.

»Was ist das,« sagte der Kommandant; es ist also wirklich wahr! Das ändert allerdings die ganze Frage.«

Während er kaltblütig auf die beiden Toten sah, deren Beine noch konvulsivisch zuckten, stieg Frau Murray an Bord.

»Diese Herren sind mit mir gekommen,« begann sie und deutete auf ihre Begleiter.

»Bei Gott, ich bedarf ihrer nicht mehr,« sagte der Kommandant. »Diese Tiere, die meine Kommandobrücke beschmutzten, haben sich ganz gewiß nicht um eines Nichts willen ihr elendes Leben genommen. Man hole den Steward.«

Der Steward erschien, langsam genug, er starb vor Angst. Während er die Koffer der beiden »Tiere« untersuchte, liefen ihm kalte Schauer über den Rücken. Aber man fand die ganze bei Alfred Murray entwendete Summe und sogar noch fünfzehntausend Dollar mehr, es waren die Ersparnisse der beiden Schurken.

»Behalten Sie alles, mein Kommodore,« sagte der Kommandant, die junge Frau in vollem Ernste mit dem höchsten Titel der amerikanischen Marine anredend. »Behalten Sie alles. Sie werden Ihre Kosten damit decken.«

Und als sie ihm die Protokolle des Untersuchungsrichters überreichte, meinte er:

»Was soll ich damit anfangen? Unsere Art schafft sich selbst ihr Recht. Sie haben das getan und Sie haben wohl daran getan. – Aber – Sie sehen plötzlich so bleich aus, darf ich Ihnen ein Glas Champagner anbieten?«

In der Tat, sie wurde ohnmächtig. Nachdem sie ihr Ziel erreicht, war es plötzlich vorbei mit ihrem Mute und ihrer Kraft. Man mußte sie auf den »Sonnenstrahl« zurücktragen.

Die Passagiere des Dampfers, die sich indessen wieder beruhigt hatten, riefen: »Hurra, für die Kommodorin!«

Sie hörte es nicht. Während der Zeit der Rückreise weinte und schluchzte sie unausgesetzt verzweiflungsvoll und schien völlig zusammengebrochen zu sein. Ihr war plötzlich, als ob sie nicht richtig gehandelt, als ob es vielmehr ihre Pflicht gewesen sei, bei ihrem Manne zu bleiben, die Totenwacht bei ihm zu halten und für seine Beisetzung zu sorgen. Vor allem aber empfand sie es mit tiefer Scham und fast wie einen körperlichen Schmerz, daß sie kein Trauerkleid trug. Dazu kam, daß der Knall der Pistolenschüsse, mit denen die beiden Schufte ihrem Leben ein Ende gemacht, fortwährend in ihren Ohren gellte. Immer sah sie die Körper dieser Elenden im grellen Sonnenschein vor sich und vermochte es nicht, den grausen Anblick ihrer verzerrten Gesichter und der noch konvulsivisch sich bewegenden Beine zu vergessen.

»Ich, ich allein bin es, die all dies verursacht hat,« dachte sie, »o bin ich denn überhaupt noch eine Frau?«

Sie litt schmerzlich in dem Gedanken, eine unweibliche Tat vollbracht zu haben. Endlich erreichte man Singapore. Der Yankee signalisierte dem Semaphore und erzählte den dem Schiff entgegenkommenden Booten von ihrem Siege, dem Heldenmut und der Geistesgegenwart der Frau Murray, von dem Kanonenschusse, den der »Sonnenstrahl« abgegeben, von dem Tode der beiden Flüchtlinge, kurz, die ganze tolle unwahrscheinliche prächtige Geschichte. Er berauschte sich selbst, indem er wieder und wieder dies ungewöhnliche Ereignis berichtete; in seiner lebhaften Weise übertrieb er und konnte sich nicht genug tun, die großen Taten zu rühmen, an denen er teilgenommen und vor allem das Lob dieser tapfern unbesiegbaren jungen Frau zu singen, die die Seele dieses ganzen Abenteuers gewesen.

»Hören Sie mich an,« sagte er zu Frau Murray, »hören Sie mich an. Natürlich werde ich, so bald wir gelandet, Ihnen Ihr Geld übergeben. Aber ich warne Sie, halten Sie es fest – Sie sind eine Frau! Und dann ist da noch eine andre Sache, nämlich – zum Teufel, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll. Sehen Sie, das ist wie mit – ja, wie soll ich's sagen?«

Um mich kurz zu fassen, ich bewundre Sie und ich bitte Sie, meine Hand anzunehmen. Werden Sie meine Frau! Wenn Sie es wollen, werden wir den ganzen Handel von San Franzisko bis nach China an uns reißen. In zehn Jahren können wir es so weit bringen, Herr aller Dampferlinien zu werden und über den ganzen großen Ozean wird sich ohne unsre Erlaubnis keine Rauchwolke erheben. Oder, wenn Sie das lieber wollen, können wir in die Vereinigten Staaten gehen, um mit Grundstücken und Goldfeldern zu spekulieren; wir werden Städte erschaffen, über die wir als Könige herrschen, weil sie uns gehören vom Fußboden bis zu den Kaminen, weil niemand ohne unsre Einwilligung darin wohnen darf, weil uns allein das Bestimmungsrecht über den darin getriebenen Handel zusteht. Wir werden die Völker in die von uns gebildeten Formen gießen und wir werden ihr Leben nach unserm Willen gestalten.

Aber sie antwortete nicht; zitternd und ihr Gesicht in den Händen bergend, saß sie schweigend da. Als der »Sonnenstrahl« die kleine Insel passierte, die vor dem Hafen liegt, wurde das Schiff von vieltausendstimmigem Jubel begrüßt. Zahllose Kanos, Segeljachten, Boete und Dschonken fuhren ihm entgegen und gaben ihm das Ehrengeleite. Aber auf den Viktoria-Docks hatten sich alle Damen der europäischen Kolonie versammelt, um die tapfere junge Frau zu begrüßen, ihr Kränze und Berge von duftenden Blumen zu überreichen. Als Jason einst mit dem errungenen goldnen Vließe heimkehrte, als Columbus ruhmbeladen nach Cadix, oder Nelson nach Neapel zurückkehrte, wo Lady Hamilton ihm erwartete, konnten sie nicht mit größeren Ehren empfangen worden sein, als wie sie am heutigen Tage der jungen Witwe Alfred Murrays zu teil wurden … Dann glitt ein Steg von dem Schiffe auf das Quai und man sah darauf eine unglückliche junge Frau erscheinen. Sie schien völlig verwandelt – ihr Haar war weiß geworden, ihr demütig gesenktes Gesicht hatte einen verstörten, ängstlichen Ausdruck und erschien von vielen kleinen Runzeln durchfurcht. Ihr gelbes Seidenkleid war völlig gedrückt und verdorben und der Gedanke an eben dieses Kleid schien sie vollständig in Anspruch zu nehmen.

»Um Gottes willen,« sagte sie, »gebt mir ein schwarzes Kleid, ich kann mich ja so nicht zeigen, es ist unmöglich.«

Ihr Auftreten war so absonderlich, daß sich sofort in der Stadt das Gerücht verbreitete, daß sie den Verstand verloren habe.

»Die arme Frau,« sagte man, »ist wie eine Tolle abgereist und nun kehrt sie als Idiotin zurück!«

Man irrte sich, sie war immer dieselbe geblieben, nämlich eine brave kleine englische Frau, die stets den Befehlen ihres Mannes gehorsam war, seine Sinneslust befriedigte, für seine Bequemlichkeit sorgte, seine Lieblingsspeisen bereitete und dem Hause vorstand, nicht zu schlecht und nicht zu gut. Im übrigen ging sie regelmäßig zur Kirche, verstieß niemals gegen die Gesetze des Auslandes und benahm sich stets korrekt und als braves Durchschnittsweibchen. Und nun, da ihr Herr und Gebieter tot war, hatte sie plötzlich ihre ganze Natur verleugnet; mit einer ihr sonst fremden Energie hatte sie die Verfolgung der Mörder Alfred Murrays geleitet, jetzt aber, da sie ihr Ziel erreicht, brach sie plötzlich zusammen. Sie fühle sich tief unglücklich, weil sie ihre eigene Handlungsweise nicht zu verstehen vermochte. Sie befand sich in einem Zustande trostlosester Verzweiflung und war ganz außerstande, die erdrückende Last ihrer plötzlichen Berühmtheit zu tragen. Die Leute drängten sich, um sie zu sehen; man umringte ihren Wagen, man pries ihre Tapferkeit und Geistesgegenwart. Sie aber glaubte in aller Augen und Stimmen die Augen und die Stimme des Yankee-Kapitäns zu erkennen. Man hielt sie allgemein für eine Ausnahmenatur, eine alle ihres Geschlechts weit überragende, Willensstärke, energische Frau, und sie selbst fühlte sich schwächer, hilf- und energieloser wie je zuvor. Es war, als ob in dieser einen ungewöhnlichen Kraftanstrengung ihre ganze Willenskraft verbraucht und verbrannt worden sei … Man würde von jetzt ab vergebens an ihre Tatkraft appellieren, sie war mit einem Schlage leistungsunfähig geworden; sie hatte die Empfindung, als ob sie, nach dem, was sie getan, nicht mehr der guten Gesellschaft angehöre. Die einzigen Männer, die sie zum Weibe begehren könnten, würden brutale, ehrgeizige Männer von dem Schlage dieses Kapitäns sein, den sie betrogen hätte, wenn sie seine Hand angenommen, da sie nur noch die schwache Seele eines Kindes zu verschenken hatte. Indessen jubelte man ihr zu, man überhäufte sie mit Lob, feierte in ihr den Ruhm und die Tapferkeit ihres Geschlechtes … Sie aber war nur von einem Wunsche erfüllt – von ganzem Herzen wünschte sie, sterben zu können!

Aber sie starb nicht. Der liebe Gott, den sie so heiß bat, sie von diesem Leben zu erlösen, erwies ihr diese Gnade nicht. Als die Geschäftsleute alle Schulden der Bank Murray beglichen, das Haus, die Klientel und sogar den Namen dessen verkauft hatten, dem sie ihr Geschick geopfert hatte, blieb ihr eine sehr mäßige Rente, die nur zu einer bescheidenen Lebensführung ausreichte. Gebrochenen Herzens verließ sie dieses heiße Land und kehrte nach England zurück, um sich völlig menschenscheu ganz in ihre Trauer zu vergraben. So habe ich sie in London gesunden; ich traf sie in einem Boarding-House, einer gewöhnlichen bürgerlichen Pension, wo sie mit einigen andern alternden braven und einfältigen Bürgerfrauen eine Zuflucht gefunden hatte. Sie glich in ihrem ganzen Wesen diesen ihren Genossinnen so sehr, daß keiner ihre Geschichte glauben wollte, wenn einer ihrer wenigen Freunde aus früherer Zeit, die sie zuweilen aufsuchten, sie zufällig erzählte. Ihr selbst graut vor diesen Erinnerungen und sie spricht niemals davon. Ihre eingesunkenen Augen sind von unzähligen kleinen Falten umgeben; ihre Nase ist spitz und bleich; was aber vor allem einen so todbleichen Eindruck macht, das ist die trügerische, eine falsche Jugend vortäuschende, fieberhafte, abgezirkelte Röte ihrer eingefallenen Wangen. Ein vertrockneter Körper und eine tote Seele – das ist es, was aus dieser Frau geworden ist. –


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