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Ruy Blas

*

»O wie weit ist die Heimat von hier! Ach, lieber, lieber Gott, wie weit ist's von hier!«

»Nun und was noch mehr?« antwortete Barnavaux. »Glaubst du wirklich, wenn du ein und dieselbe Sache hundertmal wiederholst, daß es darum weniger heiß würde? Müller, mein alter Junge, du läßt dich zu sehr gehen, in diesem Lande ist es nicht gut für die Gesundheit, zu sehr seinen Gedanken nachzuhängen … Und du wirst dein Feldbett zerbrechen, du wirst dein Feldbett zerbrechen! Wenn man das Unglück hat, einen so massiven großen Körper wie den deinen zu haben, einen Körper, der seine zweihundert Pfund schwer ist, dann treibt man keine Gymnastik auf den Feldbetten. Außerdem sind diese Eigentum des Bataillons, und du weißt, welche Strafe darauf steht, wenn man, während man direkt vor dem Feinde liegt, die im Lager befindlichen Dinge zerstört, militärische Degradation und der Tod! Deshalb sei nun endlich ruhig, du Narr.«

Das leichte Feldbett, das aus den Brettern einer Packkiste und einem Rahmen aus Palisanderholz, das man im nahen Walde gewonnen, zusammengeschlagen war, krachte allerdings ganz bedenklich, als Müller sich unruhig darauf hin und her warf und jetzt, ohne zu antworten, mit dem nackten Fuße gegen die Wand trat. Und da diese Wand nur aus leichtem, mit Bananenblättern durchflochtenem Lattenwerk bestand, wie es in dieser Gegend Madagaskars so üblich ist, trat er gleich durch, verfing sich jedoch in einer Menge kleiner Holzsplitter, die seinen Fuß wie mit Krallen festhielten.

Der Soldat fing an zu fluchen. Die Türe der Hütte war weit offen und draußen schien der Mond mit unerträglicher Helligkeit. Die Erde strahlte die während des Tages empfangene Sonnenglut zurück und erfüllte die Luft mit einer feuchten, nach Staub und Fieber riechenden, unheimlichen Schwüle. Inmitten des runden Platzes, auf dem noch mehrere der niedern, den Soldaten als Baracke dienende Hütten errichtet waren, erhoben sich drei Opfersäulen, die in bizarrer Weise an den barbarischen Kultus der Ureinwohner dieser Gegenden erinnerten. Sie waren von Ochsenschädeln mit überragenden Hörnern gekrönt; es machte beinahe den Eindruck, als ob hier Stiere gekreuzigt worden wären, deren Kopf man festgenagelt hatte, nachdem das Skelett entfernt worden war. Diese Hörner warfen einen phantastischen Schatten und das trockene, falsche bläuliche Licht des Mondes gab allen Dingen ein unheimlich wunderbares Aussehen.

Es war zur Zeit des Vollmonds. Das Gestirn der Nacht warf einen beinahe schmerzhaft hellen Schein über die rote brennend heiße Erde und wie ein seltsames Menschenantlitz mit lachendem Munde und perfiden Chinesenaugen strahlte diese runde Mondscheibe vom wolkenlosen Firmament herab. Aber ach! Man empfand beinahe Lust zu weinen, es war, als ob dieser kalte helle Schein Himmel und Erde mit Melancholie, mit einer tiefen Entmutigung und grundlosen Furcht erfülle.

Selbst die kleinen malayischen Dorfkinder wurden von dieser seltsamen Stimmung ergriffen. Sie versammelten sich wie zu einer Zeremonie.

»O Koutou, Koutoukely,« riefen sie, »o seht nur, seht den Vollmond!«

Und sie sangen dem Monde zu: »Oh, Großmutter, Großmutter, wir sind traurig, traurig, so traurig! Traurig, o so traurig sind deine kleinen Kinder! Deine kleinen Kinder werden sterben.« Es ist dies ein Jahrhunderte altes Lied. Es stammt noch aus jener Zeit, wo der Wortschatz dieser Wilden ein sehr beschränkter, während ihr Gefühl vielleicht noch empfänglicher wie heute für alle Ereignisse der Natur war. Die kleinen klaren Stimmen wurden des Singens nicht müde und die letzten Töne des Refrains hatten einen einförmig melancholischen, aber kristallreinen Klang, beinahe so, wie wenn die Wassertropfen eines Springbrunnens langsam in ein kupfernes Bassin niederfallen.

»Do, ré, do, do!«

Müller zog seinen Fuß ungeduldig zurück und wiederholte:

»Oh, es ist sehr, sehr weit von hier! Lieber, lieber Gott! Ach, wir werden niemals heimkehren. Niemals, niemals!«

Die kleine Rasoa, die auf einer Matte zu Füßen Barnavaux lag, der ihr Herr und Gebieter war, reckte sich wie ein Kätzchen und sagte leise:

»Tésitra vé, Janaho? Warum bist du so traurig?«

Müller verstand sie nicht, aber Barnavaux antwortete ihr:

»Er ist nicht zornig, kleine Rasoa, er denkt an sein Heimatland.«

Dann wandte er sich zu seinem Kameraden und sagte in barschem Tone:

»Müller, du langweilst uns. Du wirst die Wache aufwecken und der Adjutant wird dir eine Strafe erteilen. Sei doch vernünftig. Es ist Schlafenszeit, also laß uns endlich in Ruhe. Uebrigens – was hast du heute getrunken?«

»Rum,« antwortete Müller, »oh, nur ein paar Schluck Rum, es war nicht der Rede wert, er war halb mit Wasser gemischt. Es war nicht genug, um einem Kinde zu schaden.«

»Gib ihm etwas Wasser, Rasoa,« sagte Barnavaux in malayischer Sprache, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. »Er hat Fieber und hat Rum getrunken.«

Rasoa erhob sich sofort und ergriff den großen Bambus, der wohl zehn Fuß lang war und in dem man nach der Sitte des Landes das Wasser aufbewahrte. Dieser Bambus gleicht einer Röhre, deren eine Oeffnung sorgsam verschlossen ist. Es ist nicht so ganz einfach, aus einem solchen Bambus, der länger wie zwei Menschen ist, eine kleine, auf dem Boden stehende Schale geschickt zu füllen, ohne daß eine Ueberschwemmung entsteht. Es gehört Uebung dazu und man muß es früh gelernt haben. Die kleine Rasoa aber verstand diese Kunst. Deshalb wandte Barnavaux sich an sie.

Ganz nackt, nur von einem weißen, um die Hüften geschlungenen Lappen umhüllt, durchschritt sie das Gemach. Bei dem hellen Lichte des Mondes, das durch die weitgeöffnete Türe fiel und wie gleißendes Silber auf dem Fußboden lag, erkannte man deutlich ihre jugendliche Gestalt, ihre festen, schon zu starken Brüste, die sich bei den Töchtern dieses Landes schon in einem Alter entwickeln, in dem die europäischen Mädchen noch mit der Puppe spielen.

»Trinke,« sagte sie zu Müller.

Man hörte das Geräusch der metallenen Schale, die hart zu Boden fiel. Müller hatte das von Rasoa gebotene Gefäß unwillig zurückgestoßen. Dann brach er wie ein großes Kind in lautes Weinen aus.

»Bei meiner Ehre, du bist verrückt,« schrie Barnavaux.

Und er strich ein Zündhölzchen an.

Müllers Gesicht war hochrot, es triefte von Schweiß und war so krampfhaft verzerrt und schrecklich anzusehen, wie das eines Tobsüchtigen. Er hatte sich mit seiner Hose und dem Hemd auf das Bett geworfen und dieses weit geöffnete Hemd zeigte die weiße, mit blonden Haaren bedeckte Brust des Nordländers. Mit leiser Stimme stöhnte er:

»Ich langweile mich! Ich langweile mich zum sterben! Wenn dieses Land ein Mensch wäre, dann würde ich ihn töten. Wir sind hier nicht in einem richtigen Land. Ein Land, das ist doch eine Gegend, in der es Einwohner, Dörfer, Felder, Bauern und andre uns bekannte Dinge gibt. Hier aber? von alledem nichts. Es gibt hier keine Kultur, nichts gibt es hier, gar nichts.«

Barnavaux antwortete ihm ruhig:

»Kein Mensch hat dich dazu gezwungen, wieder Soldat zu werden. Du hattest deine Zeit in Frankreich abgedient. Du bist dann in den Zivilstand getreten, das steht in deinen Papieren, dann bist du aus freien Stücken bei der Marine-Infanterie wieder eingetreten. Und jetzt benimmst du, ein zwei Meter langer Kerl, dich wie ein kleines Kind, das nach seiner Mama weint. Schäme dich, ich verachte dich.«

Das zwei Meter lange Bébé versuchte höhnisch zu lachen. Es ist dies eine unsrer Rasse besonders eigentümliche Gewohnheit; der Franzose ist im Grunde sehr empfindsam und sentimental, würde dies aber nie und unter keiner Bedingung zugeben. Die Tränen stürzten aus Müllers Augen – dennoch lachte er spöttisch. Wie gesagt, das ist eine französische Eigentümlichkeit. Es gibt bei uns viele Leute, besonders im Volke, die in dieser Weise ihr wahres Gefühl zu verbergen suchen. Sie haben zwar oft die Empfindung, daß es nicht sehr geschmackvoll ist, aber sie können es nicht ändern.

Nachdem Müller sich etwas beruhigt hatte, murmelte er:

»Ich konnte nicht in Frankreich bleiben, ich konnte es nicht … Es ist wegen einer Frau, daß ich wieder eingetreten bin. Ich bin Soldat geworden – so wie andre Leute Geistliche werden. Ich wollte fort – ich hatte das Bedürfnis, weit, weit fortzugehen, mich schwierigen Aufgaben zu unterziehen, Befehle zu empfangen, viel zu marschieren, an mich und mein Leben zu denken und, wenn man sein Leben riskiert, gleichviel, ob man angreift oder verteidigt, dann denkt man nur an sich. Na, und da bin ich eben wieder in Dienst getreten. Und jetzt liegen wir schon so lange auf diesem verlorenen Posten, haben nichts zu tun, dazu die Hitze! Da kommt eben die Erinnerung, das Heimweh, nach Frankreichs Himmel, nach dem Geruch der Felder von Saone und Loire und nach dem der Straßen von Paris! O die Erinnerung, die Erinnerung. Mir wirbelts im Kopfe, wenn ich der fernen Heimat gedenke. Aber das ist es nicht allein, da hängt noch so viel andres drum und dran, gescheiterte Pläne, wenn ich es so nennen soll, ehrgeizige große Pläne, unerreichte Ideale. Aber das kannst du unmöglich verstehen, Barnavaux.«

»Nein,« sagte Barnavaux nachdenklich.

»Meine Familie stammt aus dem Elsaß,« fuhr Müller fort. »Nach dem Kriege ist sie nach Digoin gezogen, um nicht deutsch zu werden. Dort hat sie in einer Steingutfabrik Arbeit gefunden. Ich bin in Digoin geboren. Die Arbeit in der Fabrik hat mir aber nie recht gepaßt. Ich sehe noch die großen Mühlen vor mir, in denen die Erde zermalmt wurde, um eine schmutziggelbe Masse daraus herzustellen, die zwischen Tüchern gepreßt wurde. Die Wangen meiner blonden Schwestern, die noch sehr jung waren, verblaßten und nahmen schon früh eine bleiartige Färbung an, weil sie unausgesetzt das Blei des Emaillebades einatmen mußten. Ach, diese gleichmäßige Maschinenarbeit – umgeben von Maschinen! Die Qual, stets dasselbe tun zu müssen, einen Tag wie den andern mit geistloser Handarbeit zu verbringen! Vor allem aber der Fluch, schlecht erzogenen Kameraden gehorchen zu müssen, anstatt Vorgesetzten, die wirklich über uns stehen! –«

»Ich konnte es auf die Dauer nicht ertragen. Ich habe mich als Knecht in einer Gärtnerei verdungen. Dort lebte ich beinahe ganz allein und das gefiel mir viel besser. Das zum Begießen notwendige Wasser wurde aus dem Kanal entnommen und zwar mit Hilfe einer Windmühle, die wie ein großes Spielzeug aussah. Die Bürgerinnen der Stadt kamen Sonntagmorgens zu mir hinaus, um sich ein Blumentöpfchen, abgeschnittene Blumen und Grün zu kaufen. Unsre Gärtnerei lag auf dem Wege zum Friedhofe, und die jungen Frauen und Mädchen, die die Gräber ihrer Toten besuchten, mußten an uns vorübergehen. Sie trugen Trauerkleider, ein Gebetbuch in der Hand, und alle hatten ein sittsam feines Wesen. Ich liebte sie ihrer Höflichkeit und Sanftmut halber und auch, weil sie den Damen glichen, von denen ich im Winter, wenn die Arbeit ruhte, in den Romanen las, die ich mir zu verschaffen wußte. Und doch waren sie nur einfache Bürgerinnen. –

»Dies Leben dauerte bis zu dem Augenblicke, wo ich Soldat werden mußte. Ich hielt mich gut und wurde Bursche bei meinem Oberst, dem Marquis Forbart d'Ecquevilly, der seine Entlassung genau zu derselben Zeit einreichte, als ich meine Zeit abgedient hatte. Ich begleitete dann meinen Oberst nach Paris und er nahm mich als Kammerdiener in seinen Dienst.

Ich erinnere mich noch so gern dieser Zeit, in der ich sehr glücklich gewesen bin. Lache nicht, Barnavaux, lache nicht, oder ich zerbreche dir die Knochen im Leibe. Meinen Vorgesetzten habe ich stets freudig anerkannt und mich ihnen gern und willig untergeordnet. Wenn ich sie sehen, ihnen dienen konnte, fühlte ich mich ihnen nähergerückt. Der Herr Marquis war ein Mann, der regelmäßig die Kirche besuchte und sich mit Musik und Nationalökonomie beschäftigte. Sein Wesen war durchaus vornehm und einfach. Die Frau Marquise war eine imposante, immer noch schöne Dame, die schon verheiratete Söhne und Töchter hatte. Es kam viel Besuch in das Hotel der Varennestraße. Der Herr Marquis hatte eine ganz verschiedene Sprechweise, die er der Person anpaßte, an die er seine Rede richtete, sei es nun die Frau Marquise, seine Kinder und Schwiegerkinder oder mich; obgleich ich mir des sozialen Abstandes zwischen mir und meiner Herrschaft stets voll bewußt war, fühlte ich mich doch ihr durchaus zugehörig. Ich begriff auch sehr bald die Lebensanschauung dieser alten vornehmen Familien, die sich durch ihren Stammbaum, ihren gesellschaftlichen Rang, ihre Titel, wie eine Art lebendigen Resultates der Geschichte Frankreichs betrachten.

Sie sprachen stets mit gedämpfter Stimme. Es war, als ob sie ihre Seele und den Hauch ihres Mundes, wie ihre Hände, ihr Gesicht und ihren ganzen Körper rein und unbefleckt zu erhalten suchten. Niemals lehnten die Kinder sich gegen die Meinung des Vaters auf. Wenn ich daran denke, erscheint es mir merkwürdig, wie diese Familie, die so hoch über den Handwerkern, Arbeitern und Bürgern stand, in gewisser Beziehung die bei den Landbewohnern üblichen einfachen Sitten zu den ihren machte.«

»Und die Frau, um derentwillen du wieder Soldat wurdest,« frug Barnavaux, leise vor sich hinflötend.

Er ließ Müller erzählen, weil er merkte, daß ihn dies beruhigte, aber es langweilte ihn.

»Du wirst es gleich erfahren. Ich habe dir schon gesagt, daß das Hotel in der Varennestraße lag. Ich glaube, daß es in alter Zeit von einem Garten oder doch einem sehr großen Hof umgeben gewesen ist. Aber die Ecquevillys waren nicht reich, und so kam es, daß man später in diesem Hofe Mietshäuser gebaut hat. Der Torweg diente den Bewohnern des Hotels und denen der Mietswohnungen zu gemeinschaftlichem Gebrauch; der Eingang zum Hotel befand sich rechts. Mitten in dem Hofe, gerade gegenüber den Fenstern des Marquis, befanden sich die Bureaus des Komitees zur Wahrnehmung der Interessen des französischen Handels.

Es war dies eine brave kleine Gesellschaft, die weder nützte, noch schadete. Der Generalsekretär, ein mit einem Ordensbändchen geschmückter Herr, kam zwei- oder dreimal in der Woche, um die eingelaufenen Briefe durchzusehen und ging dann nach ein oder zwei Stunden wieder. Es war auch eine kleine Bibliothek da, die zuweilen von ein paar alten Herren besucht wurde, die so wenig Kaufleute waren, wie ich es bin. Man druckte auch ziemlich viele Broschüren. Alle wirkliche Arbeit wurde jedoch von einer Dame verrichtet, die die Briefe mit Hilfe einer Schreibmaschine beantwortete, die Adressen auf die Broschüren schrieb, die Beiträge entgegennahm, die Bibliothek in Ordnung hielt und die Papiere klassifizierte.

Ich konnte dies von den Fenstern aus ganz genau beobachten. Sie trug stets Trauerkleider und konnte kaum fünfundzwanzig Jahre alt sein. Ihr lichtblondes, duftiges Haar lag wie ein Heiligenschein um ihre Stirn. Sie trug keinen Schmuck, nicht einmal einen Ring, und ihre Hände waren so weiß und schön, daß es ein Genuß war, auf sie hinzusehen. Sie erschien jeden Morgen pünktlich mit dem neunten Glockenschlage und immer hatte sie das gleiche, stille Aussehen, nicht traurig, nicht froh, wie jemand, dem alles gleichgültig ist und der nur an seine Arbeit denkt. Ich kam dann regelmäßig von meiner Treppe herab, um sie vorübergehen zu sehen.

Einmal wagte ich es, sie zu grüßen, ich sagte:

›Guten Tag, gnädige Frau.‹

Und sie antwortete:

›Guten Tag.‹

Mein Herz schlug höher vor Freude.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich bald nur noch an sie dachte und daß es mir wie das höchste Glück erschien, sie vorübergehen zu sehen. Ich begehrte sie nicht, ich habe sie niemals körperlich zu besitzen begehrt. Ich spreche nicht gern von solchen Dingen, die du doch nicht verstehen würdest. Ich bin ja auch sonst, was die Frauen betrifft, nie ein Kostverächter gewesen. Das, was mich so berückte, war ihr feines, damenhaftes Auftreten, ihre Manieren, ihr reserviertes Wesen und auch ihre Stellung. Denn es ist sehr schön, schreiben und die Buchführung leiten zu können. Ich verstehe es jetzt ganz genau, was mich zu ihr hinzog, es war, weil sie zwar hoch über mir stand, aber weil doch die gesellschaftliche Kluft, die uns trennte, mir nicht unüberbrückbar erschien. Ueber all dies bin ich mir erst nicht ganz klar gewesen. Meine Gedanken beschäftigten sich nur noch mit ihr, es war wie eine Krankheit, die über mich gekommen.

Und dann kam es eines Tages zum Klappen. Im Salon meiner Herrschaft wurde oft und sehr schön musiziert, während ich meines Dienstes waltete. Es war da besonders ein Stück, das mich vor allen interessierte, und jedesmal, wenn es gespielt wurde, von neuem hinriß. Es war ein ungarischer Tanz, und ich kenne in der ganzen Welt kein prächtigeres Musikstück. Wenn ich es vernahm, war mir immer, als tauche eine große Marmortreppe mit leuchtenden Balustraden vor mir auf, eine breite Treppe, auf deren Stufen kühne Reiter mit ihren Pferden hinauftänzelten, nur einer Wette wegen und um einen kecken, ungewöhnlichen Streich auszuführen. Und so gefährlich ein solcher Aufstieg war, schlugen die Hufe der edlen Rosse doch wie im Takte auf die Marmorstufen, ihre Reiter waren wie die auf den im Salon hängenden alten Bildern dargestellten Ahnen meiner Herrschaft gekleidet, ihre goldenen Tressen, ihre Edelsteine, die großen diamantengeschmückten Orden auf ihrer Brust tanzten und flimmerten, während sie mit leuchtenden Augen sich fest in dem Sattel hielten. Und es war, als ob von oben Trommelwirbel erschallte, um sie zu ermutigen. Ich habe oft zugesehen und weiß, wie das gemacht wird: es ist die linke Hand, die auf dem Klavier die Trommelschläger imitiert.

Jedesmal, wenn ich diese Melodie vernahm, lief mir das Blut schneller durch die Adern und ich vermochte kaum meiner kühnen Träume und Hoffnungen Herr zu werden. Eines Abends, als sie wieder gespielt wurde, dachte ich, daß ich mich durchaus mit der Dame meines Herzens verheiraten müsse. Ich hatte sehr nette Ersparnisse gemacht, ich würde nicht Diener bleiben, sondern der Herr Marquis würde mich zum Verwalter eines seiner kleinen Pachthöfe einsetzen und sie könnte Stunden geben, wie eine Dame leben, wie sie es ja auch in der Tat war, während ich dann ja auch eine andere bessere und vornehmere Stellung einnahm, eine Art Beamter war. Meine Zukunft lag ganz klar geordnet und in rosigstem Lichte vor mir, und mein Herz klopfte schneller vor Freude. Indessen bewahrte ich mein Geheimnis noch ziemlich lange. Oh, es ist etwas so Schönes, ein Liebesgeheimnis zu haben! Es ist wie ein Lied, dessen Klang das ganze Dasein durchzieht!

Endlich aber faßte ich einen Entschluß und folgte dem Sekretär der Gesellschaft, der eben den Hof durchschritt. Ich hatte mich längst entschlossen, zuerst mit ihm zu reden, weil er doch der Arbeitgeber der Dame war.

Gesenkten Blickes, aber festentschlossenen Sinnes redete ich ihn an und sagte:

›Herr Sekretär, können Sie mich in Ihrem Arbeitszimmer empfangen? Ich möchte um die Ehre bitten, ein paar Worte mit Ihnen reden zu dürfen.‹

Er blickte mich an und begriff sofort, daß es sich um eine ernste Sache handle. Er öffnete die direkt vom Hofe in sein Zimmer führende vergitterte Türe, setzte sich und sagte dann in einigermaßen erstauntem Tone:

›Nun, womit kann ich Ihnen dienen, mein Lieber?‹

Ich antwortete:

›Ich habe daran gedacht, mich zu verheiraten. Seit drei Monaten denke ich an nichts andres.‹

Er riß die Augen weit auf und fing an zu lächeln. Er war ein ältlicher Herr, der gutmütig und ein wenig schüchtern aussah. Er war der Typ eines kleinen Bürgers, der gern Gutes tun würde, aber nicht weiß, wie das anzustellen ist, weil er die Menschen nicht zu führen weiß. Um den Menschen Gutes zu tun, muß man sie zu führen wissen.

Er stotterte:

›Was kann ich denn dabei tun?‹

›Es ist die Dame, die Ihre Bücher führt, die ich heiraten will, mein Herr,‹ fuhr ich fort, denn ich war jetzt im Zuge. ›Es gibt keine zweite wie sie, die so geeignet ist, das Glück eines Mannes zu machen. Obgleich wir uns nur Guten Tag und Guten Abend gesagt und sonst nie ein Wort miteinander gewechselt haben, bin ich ganz sicher, daß es in der ganzen Welt keine zweite Frau gibt, die sich mit ihr vergleichen ließe.‹

Ich wollte mich näher erklären … da schrie er – ach, weißt du, Barnavaux, ich vernehme ihn heute noch, den Klang seiner Stimme! Er kniff die Lippen zusammen, gestikulierte mit den Händen, dachte gar nicht daran, sein Erstaunen zu verstecken, so überrascht war er: ›Sie, Sie wollen die Prinzessin von Udine heiraten?‹

Ich erstarrte vor Schrecken und schrie ihn nun an:

›Was, was, sagen Sie da, mein Herr?‹

Ich hatte bei dem Herrn Marquis von der Familie von Udine sprechen gehört, ich wußte, daß, obgleich ihr Adel kein sehr alter sei, sondern aus jener Kaiserzeit stammte, wo einfache Soldaten Prinzen wurden, derselbe heute doch für ebenso gut und unantastbar galt, wie jeder andre. Ich erinnerte mich auch, daß von dem Prinzen von Udine, als von einem boshaften Narren, öfter gesprochen wurde. Der Sekretär erklärte mir den Rest. Der Prinz hatte eine sehr hübsche, aber ganz vermögenslose Lehrerin geheiratet. Dann hatte er sie verlassen und die junge Frau hatte sich an das Gericht gewandt und die Scheidung von dem unwürdigen Gemahl verlangt. Seit dieser Zeit lebte sie ganz allein, in stolzer Zurückgezogenheit, und ernährte sich von dem bescheidenen Gehalt der kleinen Stellung, die ihre Freunde für sie ausfindig gemacht hatten. Sie hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen und den Trauring abgestreift, war und blieb aber immer Prinzessin.

Und selbst wenn die Scheidung schon ausgesprochen gewesen wäre, sie blieb eine große vornehme Dame. Und ich hatte sie beleidigt. Ich versichere dir, Barnavaux, daß ich an nichts andres dachte; ich hatte sie beleidigt! Ohne mich nur einen Augenblick zu besinnen, öffnete ich die Türe zu der Bibliothek, wo sie arbeitete. Ich sah sie am Fenster sitzen in ruhiger, etwas trauriger, stolzer und vielleicht ein wenig starrköpfiger, gelassener Haltung; ja, ja, das erkannte ich nur allzu deutlich, sie war vom Kopf bis zu den Füßen eine Prinzessin, jeder Zoll eine wirkliche, echte Prinzessin. Ich trat vor sie hin und, stramm Front vor ihr machend, wie es einem wohlerzogenen Diener zukommt, sagte ich:

›Ich bitte die Frau Prinzessin um Verzeihung …‹

Sie blickte erstaunt auf und ich begriff sofort, daß ich eine Albernheit begangen, so zu ihr zu sprechen, da sie doch nichts wissen konnte. Mir aber hatte es geschienen, als ob alle Welt es wissen müsse.

Der Sekretär erklärte ihr meine Torheit und seine Indiskretion. Sie errötete bis tief unter die Haarwurzeln. Dann brach sie in lautes, spöttisches Gelächter aus. Oh, dieses Lachen, ich werde es nie vergessen, es lag ein solcher Hohn darin, die ganze Verachtung, die sie vor der Welt, vor dem Leben, vor mir empfand, sprach sich darin aus. Es klang darin ein verzweifelter Zorn über die Tatsache, daß in der bescheidenen Stellung, die sie notgezwungen einnahm, ein so niedrigstehender Mensch wie ich, es wagen konnte, sie um ihre Hand zu bitten. Sie lachte, lachte, hohnvoll, verzweifelnd. Glaube mir, Barnavaux, wenn ich sie in jenem Augenblick erwürgt, sie mit Füßen getreten, an den Haaren gerissen hätte, sie würde es mir gedankt haben.

Ich eilte fort, suchte so rasch wie nur möglich mein in der sechsten Etage gelegenes Kämmerchen zu erreichen. Und den ganzen Tag, die ganze Nacht heulte und raste ich wie ein Wilder. Niemand wagte es, sich mir zu nähern. Die anderen Bediensteten des Hauses, die ebenfalls ihre Zimmer oben hatten, konnten nicht schlafen, aber niemand beschwerte sich über mich. Sie hatten Angst um mich. Nun, da ich wußte, daß mein Glück unerreichbar sei, erschien es mir doppelt begehrenswert. Ich war wie in einem Delirium, meine Phantasie erging sich in den ausschweifendsten Bildern, es war, als ob die nackten Füßchen meiner Prinzessin über mich hinschritten und mich vor Schmerz und Freude erbeben ließen. Verzweiflungsvoll schrie ich: ›Oh, aus Erbarmen, gnädige Frau, wenden Sie sich nicht von mir, fügen Sie mir noch mehr Leiden zu.‹ In jener Nacht bin ich so vollständig von Sinnen gewesen, wie ein Mensch es nur sein kann.

Als ich am andern Morgen mit wüstem Kopfe herunterkam, ging ich sofort zu dem Marquis und bat ihn flehentlich, mich aus seinem Dienste zu entlassen und nicht darauf zu dringen, daß ich die übliche Kündigungsfrist einhielte … Er bewilligte alles, ohne die kleinste Bemerkung zu machen, ohne die Lippen zu einem Lächeln zu verziehen und ohne das Ansehen zu haben, als ob er Mitleid mit mir habe. Er hatte ein Herz, dieser alte Edelmann. Seine Stimme klang nicht spöttisch, während er mit mir sprach. – Wenn einer der andern sich die leiseste Anspielung erlaubt hätte, würde ich ihn getötet haben.

Als ich ein paar Tage später zu ihm kam, um meine Sachen zu holen, sah er mich nachdenklich an und meinte:

»Du hättest bleiben können: die Frau Prinzessin Udine hat ihre Stellung aufgegeben und ist fortgegangen. Du wirst sie nicht wiedersehen.‹

So hatte ich sie in das Elend getrieben! Sie hatte das Haus verlassen, weil ich sie beleidigt hatte! Ich habe ihr das Brot geraubt. Was sie jetzt wohl anfängt, wo sie heute wohl weilen mag? Wenn ich die Augen schließe, ist mir, als sehe ich sie leise durch die Straßen von Paris gleiten – ich erkenne den Schatten ihres Hutes auf dem Pflaster. Oh, wozu mußte ich das erleben? Als gestern der Wind durch das Bambusgehölz fuhr, du weißt, die großen Bambus, die da unten stehen, da hatten die jungen grünen Sprossen einen beinahe bläulichen Reflex. Es war nichts. Mich aber mahnte die zarte Farbe an den Blick ihrer Augen. Ihre Augen waren niemals dieselben! Mich aber erfaßt oft eine tiefe Sehnsucht nach diesen Augen, sie vermischt sich mit dem Heimweh nach meinem geliebten Frankreich. Mir ist, als ob, wenn ich einst wieder in Marseille ankommen werde, sie mir auf einer weißen Barke entgegenfahren müsse und sie wird ein grün- und gelbgestreiftes Kleid tragen, ein leuchtendes Kleid von der Farbe der Felder Europas.«

Die Stimme Müllers war sehr leise geworden, sie hatte einen seltsam ruhigen, beinahe zärtlichen Klang. Die Erinnerung an das große Unglück, das ihn aus der Heimat getrieben, schien sich zu verwischen und ihn mit einem traurigen, aber ihm berechtigt erscheinenden Stolz zu erfüllen, der beinahe etwas Komisches hatte.

»Barnavaux,« sagte er, du hast niemals eine wirkliche Prinzessin geliebt. Glaubst du, daß es überhaupt bei dem dritten Korps der Marine-Infanterie außer mir Leute gibt, die eine Prinzessin, eine wirkliche weiße Prinzessin geliebt haben?«

»Willst du nicht jetzt ein wenig trinken?« redete Barnavaux ihm geduldig zu. »Komm, trinke ein wenig, alter Junge. Nachher wirst du schlafen.«

Rasoa füllte zum zweiten Male ein Gefäß mit Wasser.

Diesmal verschmähte es Müller nicht, sondern trank es in langen, durstigen Zügen aus.

Dann seufzte er.

»All das war ja unmöglich, unmöglich und doch trotzdem – wenn – wenn ich doch wenigstens Adjutant werden könnte – wenn – –«

»Schließe die Türe, kleine Rasoa,« sagte Barnavaux. »Er wird noch trauriger, wenn er in den Mond sieht.«

Rasoa zog die Türe zu. Das Licht des Mondes drang jetzt nur noch hier und da durch die kleinen Ritzen und Oeffnungen der aus Bananenblättern gebildeten Wand, es schimmerte und leuchtete darauf wie kleine blaue Diamanten. Aus der Ferne ertönte das dumpfe, ängstliche Brüllen eines Ochsen, der durch irgendwelchen Zufall aus dem Schlafe erwacht war. Dann wurde es ganz still in der armen kleinen Hütte, man sah nichts mehr darin, als die wunderbaren kleinen Diamanten des Mondlichtes, die im Dunkel schimmerten. Müller schlief ein …


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