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12

»Hans!« Isas Stimme klang recht kleinlaut; sie tourte nicht, wie sie es anfangen sollte, ihren Mann zu ihrer Meinung zu bekehren. Bertholt hatte sich auf den Sessel neben dem Schreibtisch gesetzt und sah seine Frau aufmerksam an. Wie blaß sie heute war! Ihr Gesicht schien völlig verändert, in all den Jahren des Kampfes hatte er sie niemals so zermürbt und so fahrig gesehen. Sie hatte zu viel Arbeit, Und dann die Sache mit von Holtern. Isa nahm sich alles so sehr zu Herzen.

»Wollen wir beide jetzt eine Stunde zusammen ausreiten? Heute nachmittag ist nichts los. Wir hätten also Zeit. Wir haben das lange nicht mehr getan!«

Die junge Frau sprang sofort auf:

»Ach, Hans, das wäre schön!« rief sie freudestrahlend und legte ihrem Mann zärtlich beide Hände um den Hals. Er hielt sie fest und sah ihr in die Augen.

»Du darfst dir nicht so viel Gedanken machen, hörst du! Es läuft sich alles schon wieder zurecht. Wir beide werden doch mit allem fertig im Leben. Nicht wahr?«

»Aber ich muß mir doch Gedanken machen«, beharrte sie und legte ihre Arme noch fester um seinen Hals. »Wenn du so starrköpfig bist und die Wahrheit nicht sehen willst.«

Als er antworten wollte, verschloß sie seinen Mund schnell mit einem Kuß, dann machte sie sich frei und rief:

»Komm schnell mit! Wir wollen reiten und nicht unsere Zeit vertrödeln.«

Karl beeilte sich, die Pferde zu satteln. Frau Isas Satan scharrte unruhig mit den Vorderhufen, sein Fell glänzte in der Sonne wie Feuer. Die junge Frau warf Karl einen freundlichen Blick zu, bevor sie aufstieg. Sie wußte genau, daß er keines der Pferde so mit Liebe pflegte wie das ihre.

Solange sie auf der Straße waren, sprachen sie kein Wort miteinander, beide waren mit ihren Pferden beschäftigt. Sie schwiegen auch noch, als sie über die Wiese dem Walde zutrabten. Irgendwie war dieser Ausflug zu zweien etwas Seltsames. Isa überlegte sich, daß sie nicht mehr wußte, wann sie zuletzt mit ihrem Mann einen Ritt allein unternommen hatte. Immer hatten beide nur gearbeitet und ihre Zeit anderen Menschen zur Verfügung gestellt. Es schien ihnen selbstverständlich zu sein, daß immer nur einer von ihnen den Stall verlassen durfte, während der andere im Büro war oder Unterricht erteilte. Aber nun ritten sie beide miteinander durch den Wald, in dem Isa jeden Weg kannte, der ihr aber trotzdem plötzlich verwandelt und seltsam fremd erschien.

Es gelang ihr, alle quälenden Gedanken beiseite zu schieben. Sie war nichts als glücklich darüber, daß die Sonne schien, und darüber, daß ihr Mann an ihrer Seite ritt.

Als sie den Wald durchquert hatten, galoppierten sie über die Koppeln, sprangen über ein paar Ricks und über den breiten Wassergraben, dann bogen sie in die Landstraße ein und ritten auf dem Sommerweg nebeneinander her. Das Korn bewegte sich leise im Wind, eine Lerche sang, sonst war es ganz still, weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Isa atmete tief, ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet, sie lächelte ihren Mann glücklich an. Bertholt erwiderte ihren Blick liebevoll, aber er lächelte nicht, sein Gesicht war immer noch ernst. Der scharfe Ritt hatte ihm nichts von seinen Sorgen nehmen können.

Isa erschrak, als sie das Gesicht ihres Mannes sah. Plötzlich waren alle Mißhelligkeiten und Schrecknisse wieder da.

»Es könnte alles so schön sein«, begann Isa stockend. Eine tiefe Falte erschien auf Bertholts Stirn. Seine Stimme klang sehr ernst, als er antwortete:

»Es ist alles schön, sehr schön sogar. Nur an dir liegt es, wenn du es nicht sehen kannst oder nicht willst. Was ist nun schon passiert? Wir hatten einen. Unglücksfall, der zwar sehr bedauerlich ist, aber schließlich überall vorkommen kann.«

»Das ist es doch nicht, was mich quält, Hans. Du weißt, ich glaube nicht an den Unglücksfall und werde so lange nicht daran glauben, bis die Brieftasche gefunden oder ihr Verschwinden aufgeklärt ist.«

»Natürlich ist es bedenklich, daß die Tasche nicht aufzufinden ist, aber wir beide können nichts daran ändern.«

»Doch, Hans, das können wir«, sagte Isa bestimmt, »wir dürfen nur nicht ablassen, danach zu forschen. Ich habe vorhin von Karl erfahren, daß er, als er den Toten fand, glaubte in der Sattelkammer ein Geräusch gehört zu haben. Ich habe weiterhin festgestellt, daß zu der betreffenden Zeit sich auch Herr Roland im Stall befunden hat. Außerdem weiß ich, daß Herr von Holtern mit Herrn Roland Streit hatte.«

»Ich habe niemals bezweifelt, daß du eine tüchtige Frau bist, Isa, aber daß du mehr herausbringen würdest als Güstrow und ich, habe ich nicht erwartet. Du nimmst also an, Herr Roland habe den Mord begangen und sich, als er Karl kommen hörte, in der Sattelkammer versteckt?«

»Ich nehme gar nichts an, Hans. Aber du mußt doch zugeben, daß dieser Verdacht besteht, und darum müssen wir Kriminalkommissar Güstrow davon Mitteilung machen. Er kann dann immer noch bestimmen, was zu geschehen hat.«

Bertholt konnte sich den Gründen seiner Frau nicht verschließen, so sehr er sich auch gegen den Gedanken wehrte, Roland in diese Angelegenheit hineinzuziehen. Irgendwie mußte Klarheit geschaffen werden und da kam es auf die Unbequemlichkeiten, die einem einzelnen vielleicht geschahen, nicht mehr an.

»Du hast recht, Isa, Güstrow muß selbstverständlich alles erfahren, was den Fall betreffen könnte. Allerdings will mir das alles noch nicht in den Kopf. Kannst du dir vorstellen, daß Herr Roland mit dieser Sache etwas zu tun haben könnte? Er ist ein so feiner und zurückhaltender Mensch. Wir kennen ihn jetzt mehr als drei Jahre und haben während dieser Zeit noch nicht die kleinste Differenz mit ihm gehabt.«

»Ach, Hans«, sagte Isa kleinlaut, »ich fühle doch auch, wie peinlich es ist, daß so viele unserer Kunden mit Fragen und Verdächtigungen belästigt werden, aber das Unglück ist nun einmal geschehen, und es bleibt uns wirklich nichts übrig, als durchzuhalten, bis alles geklärt ist.«

Bertholt schwieg und ließ Aladin antraben. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Plötzlich parierte Bertholt sein Pferd und fragte hastig:

»Isa, ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, daß Häfke in der Sattelkammer gewesen sein kann, als Karl den Toten fand?«

Die junge Frau sah ihren Mann erschrocken an, dann sagte sie leise:

»Natürlich ist es so gewesen. Ich erinnere mich jetzt, da du es sagst, daß der Stallmeister an dem Abend im Büro gewesen ist, um sich einen Schein für den Schmied ausstellen zu lassen. Da hatte ich plötzlich das Gefühl, etwas sei nicht in Ordnung. Häfke war sichtlich erregt und kaum imstande, mich anzusehen. Als ich ihn gerade fragen wollte, ob ihm etwas fehle, kam Herr Doktor Born. Und nachher fanden wir den Toten, und ich habe den Zwischenfall völlig vergessen.«

»Wenn wir nach Hause kommen, müssen wir Häfke sofort ins Gebet nehmen; vielleicht hat er uns etwas Wichtiges zu sagen.«

»Glaubst du, daß er der Mörder ist?«

»Ich kann es mir kaum denken. Aber vielleicht hat er die Brieftasche gestohlen. Oder er hat zum mindesten etwas beobachtet.«

»In diesem Falle hatte er sich doch wahrscheinlich sofort gemeldet.«

»Das kannst du nicht wissen, Isa. Es ist immerhin fraglich, ob er ein gutes Gewissen hat.«

Wie nach schweigender Übereinkunft wendeten sie ihre Pferde und trabten auf dem kürzesten Wege heim. Sie sprachen nicht mehr über den Stallmeister und das, was er auszusagen haben könnte. Beide wußten, daß sie wahrscheinlich jetzt am Anfang einer Spur standen, an deren Ende sie einen Mörder oder wieder den Hengst Taifun entdecken würden.

Als Karl die Pferde in den Stall einreiten hörte, lief er schnell, um Frau Bertholt beim Absteigen behilflich zu sein. Ehe er noch die Zügel des Fuchses ergreifen konnte, war die junge Frau aus dem Sattel geglitten.

»Wo ist Häfke?«

Karl schob die Steigbügel in die Höhe. Etwas in der Stimme Frau Bertholts schien ihn zu stören; er – sah sie aufmerksam an, aber ihre Augen blickten jetzt nicht freundlich, sie lächelte auch nicht.

»Wo ist der Stallmeister, Junge?«

Bertholt war neben seine Frau getreten. Auf seiner Stirn vertiefte sich die senkrechte Falte.

»Er wird im Privatstall sein«, beeilte sich Karl zu antworten, »ich sah, wie er mit Herrn Roland dorthin ging«

»Mit Herrn Roland?« riefen beide wie aus einem Munde.

Der Stallbursche sah seinen Chef verwundert an. So hatte er ihn noch nie gesehen. Auch Frau Isa sah ganz entsetzt aus, ihre Wangen wurden immer blasser. Warum waren beide so erschrocken darüber, daß der Stallmeister mit dem Herrn in den Privatstall gegangen war? Das gehörte doch zu seinen Pflichten!

Oder ob sie befürchteten, Herr Roland könnte auch unvorsichtig sein und den Teil des Stalles betreten, wo der schwarze Hengst stand? Immerhin war Häfke bei Herrn Roland, und es bestand für die Kunden kein Verbot, den Privatstall zu betreten. Das wäre auch kaum möglich gewesen; denn in diesem Stall waren nur Pferde untergebracht, die sich im Privatbesitz befanden, und die Kunden hatten natürlich jederzeit Zutritt zu den Boxen ihrer Pferde.

Die Stimme des Chefs unterbrach sein Grübeln:

»Führ mein Pferd weg. Ich werde selbst nachsehen.«

Bertholt legte Handschuhe und Reitstock auf die weiße Bank, die im Stalleingang stand, und öffnete die Schiebetür zum Privatstall. Der Stallgang war leer und der Stallmeister nirgends zu sehen. Alle Pferde befanden sich in ihren Boxen, auch der Braune von Herrn Roland, wie Bertholt mit einem Blick feststellte. Kein Mensch schien im Stall zu sein.

Langsam ging Bertholt weiter. Beim Vorübergehen sah er aufmerksam in jede Box. Jetzt um diese Zeit mußte der Stallmeister hier irgendwo bei der Arbeit sein, in einer halben Stunde sollte eine Anzahl von Pferden für eine größere Reitgesellschaft gesattelt sein. Anscheinend hatte Häfke noch nicht mit der Arbeit begonnen.

Die Pferde standen ruhig mahlend vor ihren Krippen, zuweilen scharrte eines mit den Hufen im Stroh.

Bertholt las mechanisch die Namenschilder an den Boxen und überlegte, wie er es anfangen sollte, aus dem Stallmeister die Wahrheit herauszubringen. Am besten war es vielleicht, dem Mann gleich auf den Kopf zuzusagen, er wisse etwas Genaues über den Tod von Holterns, denn er habe sich während der fraglichen Zeit in der Sattelkammer aufgehalten.

Wahrscheinlich ließ er sich einschüchtern, Häfke war ein Mann ohne viel Energie.

Bertholt blieb an der letzten Box stehen. Auch hier war der Stallmeister nicht. Er konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren, als er um die Ecke bog und zum Stand des Hengstes schritt.

Als er wenige Augenblicke später die Stallgasse zurückging, war sein Gesicht sehr ernst. Er beschleunigte seinen Schritt so sehr er konnte, das letzte Stück lief er beinahe.

»Karl!«

»Herr Bertholt?«

»Du stellst dich hier an die Schiebetür und wartest, bis ich wiederkomme, hörst du? Du hast aufzupassen, daß kein Mensch den Privatstall betritt. Ich bin im Augenblick wieder da, verstanden?«

»Jawohl, Herr Bertholt.«

Hier gingen seltsame Dinge vor! Karl konnte sich den sonderbaren Befehl nicht erklären, so viel er auch darüber nachgrübelte. Jedenfalls würde er prompt dafür sorgen, daß er ausgeführt wurde.

Er lehnte sich all den Türpfosten und steckte beide Hände in die Hosentaschen. Dabei wünschte er nur, daß recht viele Menschen versuchen sollten, den Privatstall zu betreten.

Aber sein Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Bürotür, und Bertholt trat wieder auf die Stallgasse.

»Geh an deine Arbeit!« befahl er kurz.

Während Karl davonhuschte, sah er noch, daß der Chef vor der Stalltür auf und ab wanderte. Er machte dabei ein Gesicht, daß Karl sich vornahm, ihm fürs erste so weit wie möglich aus dem Wege zu gehen.

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Bürotür noch einmal, und Isa trat zu ihrem Mann. Sie war sehr blaß, und ihren Augen sah man an, daß sie geweint hatte.

»Ich habe mit Güstrow gesprochen, er kommt sofort hierher.«

Bertholt nickte kurz und starrte auf den Boden vor seinen Füßen.

Hier gab es nichts mehr zu reden, und Isa erwartete das wohl auch nicht von ihm. Was geschehen war, wußte sie. In dem abgesperrten Teil des Stalles lag der alte Stallmeister genau hinter dem Stand des Hengstes. Aus einer tiefen Schädelwunde sickerte langsam das Blut. Er war tot. Erschlagen.

Von dem Tier oder von einem Menschen?

Wer konnte das mit Sicherheit sagen? Fest stand nur, daß dies schon der zweite Tote im Stall Bertholt war und daß etwas geschehen mußte, um das unheimliche Rätsel zu lösen.

»Es ist ausgeschlossen, daß der Hengst den Mann erschlagen hat!« sagte Bertholt plötzlich heftig. »Wer soll denn glauben, daß zwei Tage hintereinander an derselben Stelle das gleiche Unglück geschieht! Gibt es einen solchen Zufall? Niemals! Ich glaube nicht daran! Und du kannst auch nicht daran glauben. Hätte ich nur heute morgen auf dich gehört, Isa, vielleicht wäre dann diese entsetzliche Tat verhindert worden.«

»Aber, Hans! Wie kommst du nur auf diesen furchtbaren Gedanken?«

»Ja, Isa, weißt du denn nicht, warum Häfke erschlagen worden ist? Wahrscheinlich wußte er, wer von Holtern ermordet hat. Er war der Mann in der Sattelkammer. Als der Mörder das herausgebracht hatte, mußte Häfke sterben.«

»Und der Mörder?« flüsterte Isa und sah sich scheu um.

»Ich weiß es nicht. Ich kann mir auch nicht denken, wer es gewesen sein kann. Aber wahrscheinlich lebte Häfke noch, wenn ich heute morgen schon geahnt hätte, daß er in den Fall verwickelt gewesen ist. Ich hatte ihn gezwungen, die Wahrheit zu gestehen!«

Trotz des Ernstes der Situation lächelte Isa flüchtig und legte ihrem Mann zärtlich die Hand auf den Arm. Da glaubte er wieder, er könne durch seine Energie alles erzwingen. Widerstand schien es für ihn gar nicht zu geben. Und doch lagen die Dinge wahrscheinlich viel komplizierter.

»Häfke hatte vielleicht einen triftigen Grund, zu schweigen«, sagte sie sanft.

»Gewiß hatte er einen Grund, und ich kann mir auch denken, was das war. Er wollte den Mörder erpressen, das schien ihm ein sicheres Geschäft. So ein dummer Kerl war er, daß er die furchtbare Gefahr gar nicht erkannte.«

Isa gab ihrem Mann innerlich recht. Sie erinnerte sich, wie eindringlich sie ihm vor vier Monaten abgeraten hatte, diesen Mann als Stallmeister einzustellen. Aber sie war mit ihren Gründen nicht durchgedrungen »denn Häfkes Zeugnisse waren wirklich ausgezeichnet, er hatte langjährige Erfahrungen, und während der kurzen Zeit, da er im Stall Bertholt gewesen war, hatte er sich niemals etwas zuschulden kommen lassen. Allerdings hatte Isa ihm auch immer scharf auf die Finger gesehen, weil sie sich niemals ganz von dem Verdacht befreien konnte, daß Häfke nicht ehrlich war.

»Und Roland?«

Bertholt antwortete nicht sofort; er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte, denn er wunderte sich, daß Isa gewagt hatte, diese beiden Worte auszusprechen.

Die ganze Zeit, die er hier stand, hatte ihn der Gedanke an den Mann nicht verlassen, der jedesmal, wenn ein Mord passierte, im Stall auftauchte und verschwand.

Selbstverständlich konnte dieses Zusammentreffen Zufall sein; denn Roland kam seit Jahren jeden Tag in den Stall, um sein Pferd zu reiten, und da er anscheinend geschäftlich sehr überlastet war, kam er zu den verschiedensten Zeiten.

Karl hatte auf die Frage nach Häfke erklärt, er sei mit Herrn Roland im Privatstall, und Bertholt erinnerte sich genau, daß die Schiebetür, die in den Privatstall führte, geschlossen gewesen war. Niemand hätte also den Stall verlassen können, ohne daß Karl, der sich in der Nähe aufgehalten hatte, es bemerkt hätte.

Aber vielleicht war er auf kurze Zeit im Verleihstall drüben gewesen oder hatte sich mit einem der Stallburschen dort unterhalten, so daß er Rolands Gehen und das Kommen des Mörders übersehen hatte. Danach mußte er den Burschen fragen.

Vorerst beharrte Isa auf ihrer Frage. »Und Roland?« wiederholte sie.

»Ich weiß es nicht, frage mich nicht!« bat Bertholt, aber seine Gedanken kreisten verzweifelt um den einen Punkt.

Wenn nur Güstrow kommen wollte! Vielleicht wußte er einen Rat. Irgendwann oder irgendwo mußte der Mörder einen Fehler gemacht haben, der ihn zu Fall bringen würde. Und Güstrow mußte das herausbringen. Er hatte doch Erfahrung in solchen Dingen. Ob Karl etwas wußte?

»Karl!«

»Ja, Herr Bertholt?«

Der Junge war so schnell zur Stelle, als habe er nur auf diesen Ruf gewartet.

»Hast du Herrn Roland nicht fortgehen sehen?«

»Nein, Herr Bertholt.«

»Erzähle mir einmal genauer, wie das war. Wer befand sich noch im Privatstall?«

»Niemand, Herr Bertholt. Als der Braune zurückkam, half Häfke Herrn Roland beim Absteigen. Häfke führte das Pferd in den Stall, ich stand an der Schiebetür, öffnete sie und schloß sie auch wieder, als alle im Stall waren.«

»Was tatest du dann?«

»Ich habe die Stallgasse ausgefegt.«

»Du hast aber Herrn Roland nicht fortgehen sehen?«

»Nein.«

»Er ist aber nicht mehr im Privatstall. Bist du vielleicht während der Zeit einmal fortgegangen?«

»Nein, Herr Bertholt. Vielleicht hat Herr Roland den Stall durch die kleine Tür direkt zum Hof verlassen.«

»Das ist doch verboten!« fuhr Bertholt hoch.

»Gewiß. Aber ich weiß, daß Häfke manchen Kunden, der es eilig hatte, dort hinausließ.«

»Untersteh dich, Karl! Wenn ich dich einmal dabei erwische!«

»Gewiß nicht.«

»Weißt du, ob jemand im Privatstall gewesen ist, bevor Häfke mit Herrn Roland hineinging?«

»Niemand war dort.«

»Und später? Ist jemand nach den beiden dort hineingegangen?«

»Nein, Herr Bertholt.«

Bertholt ging unruhig auf und ab. Er hatte beide Hände in die Rocktaschen gepreßt, laut hallte sein Schritt auf den Steinfliesen, das Klirren der Sporen klang unangenehm grell und aufdringlich in Frau Lisas Ohren.

»Geh wieder an deine Arbeit!«

Karl beeilte sich, dem Befehl nachzukommen; er verschwand lautlos im Verleihstall und ließ die Schiebetür hinter sich einschnappen.

Plötzlich traten mehrere Herren in den Stall. Isa atmete erleichtert auf und lief ein paar Schritte auf sie zu, da sie annahm, daß sich der Kriminalkommissar darunter befände. Aber auf halbem Wege stockte sie und rief erstaunt:

»Herr Doktor Born!«

Sie sah sich wie hilfesuchend nach ihrem Mann um, aber der stand mit dem Rücken zur Stalltür, und sein Gesicht war völlig ausdruckslos.

Die Hände hatte er jetzt jedoch aus den Taschen genommen; er machte eine knappe Verbeugung, blieb aber wie angewurzelt auf seinem Platz stehen und machte keine Miene, den Herren entgegenzugehen.

»Guten Tag, Frau Bertholt«, sagte Doktor Born freundlich, »ich möchte jetzt noch gern eine Stunde ausreiten. Das Wetter ist so herrlich geworden, Sie haben doch sicher ein gutes Pferd für mich?«

»Sind Sie schon lange hier?«

Frau Isa wunderte sich, daß sie es fertigbrachte, diese Frage zu stellen. Doktor Born sah sie erstaunt an, er zögerte einen Augenblick mit der Antwort:

»Ich komme gerade aus der Stadt.«

In diesem Augenblick wurde die Tür wieder geöffnet, und Kriminalkommissar Güstrow betrat den Stall. Isa hatte Doktor Born noch viele Fragen stellen wollen, aber als sie das breite, gutmütige Gesicht des Kriminalisten sah, vergaß sie plötzlich alles und lief ihm ein paar Schritte entgegen.

»Wir haben schon sehr auf Sie gewartet.«

Güstrow antwortete nicht, er erwiderte ihren Händedruck herzlich, begrüßte die anwesenden Herren mit einem leichten Kopfnicken und betrat dann sofort mit Bertholt zusammen den Privatstall.

Als die beiden Herren verschwunden waren, besann Isa sich auf ihre Pflichten; mit einem höflichen Lächeln fragte sie die Herren, welche Pferde sie reiten wollten, und gab Karl den Auftrag, die Tiere zu satteln.

»Hat Kommissar Güstrow seine Ermittlungen immer noch nicht abgeschlossen?«

Doktor Born besah interessiert seine Fußspitzen. Man merkte ihm deutlich an, daß es ihm nicht sympathisch war, dem Kriminalisten hier wieder zu begegnen.

»Bedaure, ich weiß nichts darüber.« Isas Ton klang sehr reserviert. Aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt, ablenkend fuhr sie fort:

»Ich war soeben mit meinem Mann draußen, es war bezaubernd. Sie werden Freude an dem Ritt haben.«

In diesem Augenblick brachte Karl das erste Pferd, und wenige Minuten später war die kleine Gesellschaft bereits unterwegs.

Isa blieb an der Stalltür stehen und sah den Reitern nach. Die Sonne schien so warm und gut, daß man gar nicht fassen konnte, wie hier ein Unglück auf das andere folgte. Aber nun war Güstrow da, und alles lag in den besten Händen. An ihr war es nun, ihre Pflicht zu tun, als sei nichts geschehen; denn für heute wurden noch viele Kunden erwartet, und Bertholt selbst war wohl kaum in der Lage, sich um das Geschäft zu kümmern.

Es war gut, daß hinter allen Geschehnissen immer wieder die Arbeit stand, die einen hinderte, viel an anderes zu denken. Wahrlich, es war ein Segen, überlegte Isa, und schloß aufatmend die Tür ihres Büros hinter sich.

Inzwischen untersuchte Güstrow den Toten. Er brauchte sehr lange dazu, und Bertholt störte ihn nicht in seiner Arbeit.

»Soweit ich feststellen kann, wurde die gleiche Waffe gebraucht wie bei dem Mord an von Holtern.«

»Glaubst du, daß der Hengst den Mann erschlagen hat?«

»Vielleicht. Oder aber es gibt einen Mörder, der wieder den Eindruck erwecken wollte, daß der schwarze Hengst den Stallmeister zusammengekeilt hat.«

»Wenn Taifun es gewesen ist, dann müßte sich jetzt etwas feststellen lassen.«

Bertholt trat mit leisem Zungenschnalzen in den Stand des Pferdes und untersuchte sorgfältig die Hinterhufe des Tieres, genau so, wie Frau Isa es heute morgen bereits einmal getan hatte.

»Nichts«, sagte er ruhig.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ich selbst.«

Bertholt erzählte ausführlich, was sich an diesem Nachmittag ereignet hatte. Güstrow hörte aufmerksam zu und bestätigte ab und zu durch ein Kopfnicken, daß er den Gedankengang des Freundes verstanden hatte.

»Dieser zweite Mord war ein Fehler. Verlaß dich darauf, Bertholt, in Kürze fassen wir den Mörder. Wie naiv von ihm, anzunehmen, wir glaubten zweimal an den gleichen Unglücksfall. Er muß sich sehr stark in der Klemme befinden, um das zu wagen.«

»Vielleicht wollte Häfke ihn erpressen.«

»Das ist möglich, aber im Augenblick gleichgültig. Wichtig ist für uns allein, zu erfahren, wer die Tat begangen haben kann. Hältst du es für möglich, daß der Stallmeister zu irgend jemandem über sein Geheimnis gesprochen hat? Hatte er einen Freund?«

Bertholt schüttelte den Kopf.

»Häfke hatte nur eine Tochter, die irgendwo in der Stadt eine Stellung als Hausmädchen hat. Ihr wird er kaum etwas davon erzählt haben. Sonst war er ganz allein. Er war Witwer und der erste unverheiratete Stallmeister, den ich hatte. Das war in mancher Hinsicht recht angenehm, denn so konnte er bei uns wohnen wie das andere Stallpersonal auch.«

Güstrow hob interessiert seinen Kopf.

»Er hatte ein Zimmer hier im Stall?«

»Gewiß. Wenn du Wert darauf legst, kannst du es besichtigen.«

»Wahrscheinlich werden wir nichts finden, aber trotzdem müssen wir es versuchen. Komm mit mir.«

Bertholt warf noch einen Blick auf die zusammengesunkene Gestalt, die einmal sein Stallmeister gewesen war.

»Armer Kerl.«

Dann wandte er sich ab und schritt die Stallgasse entlang bis zur Schiebetür. Güstrow verließ mit ihm den Privatstall. Draußen stellten sie Karl wieder als Schildwache vor die Tür.

»Brauchst nicht lange zu warten, Junge«, tröstete der Kriminalkommissar, »die Polizei wird sofort da sein.«

Karl nickte mit roten Backen, seinetwegen hätte dieser Dienst den ganzen Nachmittag dauern können, er konnte sich keine interessantere Beschäftigung vorstellen.

Güstrow folgte seinem Freund, der ihn am Kasino vorbei zwei Treppen hinaufführte, bis sie an einen breiten, Hellen Flur gelangten.

»Von diesem Flur gehen alle Zimmer und ein Baderaum für das Personal ab.«

Bertholt blieb vor einer Tür stehen, zögerte einen Augenblick, legte aber dann entschlossen seine Hand auf die Klinke und trat über die Schwelle.

Es war ein einfaches, sauberes Zimmer; an der Wand hingen ein paar Pferdebilder, teils aus Zeitschriften ausgeschnitten, teils Fotografien. Auf dem Tisch am Fenster lagen mehrere Paar Sporen und eine einfache Reitpeitsche.

Der Schlüssel steckte in der Schranktür. Güstrow beschäftigte sich bereits damit, das Schloß aufzuschließen.

Bertholt trat an das Fenster und sah in den Hof hinunter. Es war ihm peinlich, daß sie nun hier in dem Zimmer des Toten waren, um dessen Sachen zu durchsuchen. Die Sonne schien auf das Kopfpflaster unter ihm. Er sah starr auf die Stelle, wo gestern der erste Tote gefunden worden war. Noch nicht vierundzwanzig Stunden waren seither vergangen.

»Sieh einmal her«, lachte Güstrow plötzlich auf, so daß Bertholt zusammenzuckte. »Hausmädchen nehmen meistens an, daß Liebesbriefe am sichersten unter sauberen Taschentüchern aufgehoben sind. Neu war mir bisher, daß das Stallpersonal der gleichen Meinung ist.«

»Liebesbriefe?« echote Bertholt erstaunt, aber Güstrow achtete nicht weiter auf ihn. Er hatte zwei Briefe in der Hand und vertiefte sich unbedenklich in ihren Inhalt.

Bertholt sah ihn erwartungsvoll an und wartete, aber Güstrow steckte plötzlich die Briefe in seine Brusttasche, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Geschäftig wandte er sich wieder dem Schrank zu und durchsuchte aufmerksam die kleinen Wäschehaufen.

Bertholt war ans Fenster zurückgetreten; er kannte seinen Freund zu genau, als daß er ihn mit Fragen gestört hätte. Was er erzählen durfte, würde er ihm bestimmt erzählen. An die »Liebesbriefe« des alten Häfke glaubte er sowieso nicht. Wahrscheinlich hatte Güstrow Spaß gemacht.

Die Untersuchung dauerte geraume Zeit. Bertholt wurde langsam ungeduldig. Hier in diesem kahlen Zimmer konnte doch wohl kaum etwas von Wichtigkeit verborgen sein.

Plötzlich wurde die Schranktür mit einem Ruck geschlossen, und Güstrow seufzte tief auf:

»Nichts, absolut nichts!«

»Was hast du denn erwartet zu finden?«

»Die Brieftasche selbstverständlich.«

»Wäre es nicht zu gefährlich gewesen, das Stück hier zu verstecken?«

»Gewiß. Aber Häfke war kein Kirchenlicht, sonst wäre ihm das da heute nicht passiert.«

Bertholt schauerte zusammen und trat zur Tür. Güstrow folgte ihm sofort. Beide stiegen schweigend die Treppe hinunter und kehrten in den Stall zurück.

Karl stand noch neben der Stalltür, aber er war nicht mehr allein. Neben ihm hatte sich ein stattlicher Polizist aufgepflanzt. Der Kommissar lächelte verschmitzt und war mit ein paar schnellen Schritten neben dem Burschen. Fest legte er seine Hand auf dessen Schulter:

»Paß einmal auf, Karl, wag ich dich jetzt fragen will. Du hast doch dort oben auch ein Zimmer, nicht wahr?«

Der Junge nickte eifrig.

»Nun denk einmal gut nach: setz den Fall, du wolltest etwas verstecken. Nehmen wir vielleicht einmal an, du hättest ein Bild von einem hübschen jungen Mädchen und wolltest nicht, daß deine Kameraden es sähen. Wo würdest du es verbergen?«

Karl starrte den Kommissar an, als habe er es mit einem Wahnsinnigen Zu tun. Was sollte er mit einem Mädchenbild, das war geradezu lächerlich! Aber Güstrow lächelte gewinnend, er ließ nicht nach:

»Du brauchst mir beileibe nicht sofort zu antworten. Überlege dir die Sache gut. Weißt du, ich suche etwas Bestimmtes, von dem ich annehme, daß es jemand hier im Stall versteckt hat. Es soll mir auf einen Taler Finderlohn durchaus nicht ankommen.«

Er gab dem Jungen einen freundschaftlichen Stoß in den Nacken und verschwand dann hinter der Tür in den Privatstall.


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