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6

Kriminalkommissar Güstrow saß bereits wieder in der Straßenbahn und befand sich auf dem Wege nach der zweiten Adresse, die in seinem Notizbuch vermerkt war.

»Dr. Born, Wiesenstraße 26.«

Das war der gleichsam mit dem zweiten Gesicht begabte Freund des Ermordeten. ›Ich bin doch neugierig, wie er dieses Ahnungsvermögen erklären wird‹, überlegte der Kriminalkommissar. ›Wahrscheinlich ist er oder Schwindt der Täter; denn nun, da der Tatort im Stall festgestellt worden ist, zieht sich der Kreis denkbar eng zusammen, und es ist beinahe ausgeschlossen, daß ein Außenstehender den Mord begangen hat. Ich könnte mir denken, daß der Täter den Leichnam auf den Hof schaffte, um die Entdeckung hinauszuzögern oder sie zu einer ihm richtig dünkenden Zeit zu veranlassen. Oder er wollte dadurch, daß er die Annahme erweckte, der Mord sei im Hof geschehen, den Verdacht entkräften, es könne sich nur um einen Menschen handeln, der in irgendwelcher Beziehung zum Stall stehe. Vielleicht wäre es allerdings klüger gewesen, die Leiche im Stall liegenzulassen, denn dann hätte der Verdacht nahegelegen, der Hengst habe den Mann erschlagen. Die Art der Verletzung hätte das als durchaus möglich erscheinen lassen. Wahrscheinlich ist dem Mörder dieser Gedanke gar nicht gekommen, und so müßte er zu überführen sein, wenn man herausbrächte, aus welchem Grunde die Leiche in den Hof geschafft worden ist.‹

Als der Kommissar diese Überlegungen anstellte, wußte er noch nichts von dem, was Frau Isa inzwischen herausgebracht hatte. Er saß in der Straßenbahn, und seine Gedanken waren mit dem Fall beschäftigt. Lag nicht alles klar auf der Hand? Ein Mann wurde erschlagen, und den Umständen nach kam nur eine kleine Anzahl von Personen für diese Tat in Frage. Es mußte ein leichtes sein, den Mörder zu entdecken.

Zuerst galt es, das Motiv zu der Tat zu suchen.

Wenn Schwindt den Mord begangen hatte, lag das Motiv klar auf der Hand. Es wäre nicht das erstemal, daß ein Mann seinen Nebenbuhler erschlug.

Aber Doktor Born?

Die Straßenbahn hielt, und der Schaffner rief die Haltestelle aus. Kommissar Güstrow war am Ziel. Langsam ging er die Wiesenstraße hinunter, bis er Nummer sechsundzwanzig gefunden hatte. Er blieb stehen und betrachtete den eleganten Wohnblock, dann öffnete er die Haustür und betrat den hellen Treppenflur mit den großen Spiegeln.

An einer Etagentür zeigte ein blankes Messingschild den Namen Dr. Born. Der Kommissar klingelte, und gleich darauf öffnete eine ältere, resolut aussehende Person.

»Sie wünschen, bitte?«

Ihre unangenehm scharfen Augen musterten den Besucher von oben bis unten.

Güstrow verzog seine Lippen zu dem höflichsten Lächeln, das ihm zur Verfügung stand.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, kann ich Herrn Doktor Born persönlich sprechen?«

Diese Anrede tat ihr sichtlich wohl; sie versuchte ein freundliches Gesicht zu machen.

»Herr Doktor Born ist im Augenblick nicht zu Hause.«

»Wie schade!« sagte Güstrow betroffen. »Ich habe einen langen Weg hinter mir, um ihn aufzusuchen. Kann ich vielleicht auf ihn warten?«

Die Frau trat zögernd einen Schritt zur Seite, um den Kommissar einzulassen; sie war sich anscheinend noch nicht recht schlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Der Kommissar ließ ihr keine Zeit zur Überlegung:

»Herr Doktor Born ist wohl zum Reiten?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf und wies einladend auf die breite Sitzbank in der Halle«

»Nein, heute bestimmt nicht.«

Kommissar Güstrow fragte schnell:

»Sie sagen das so bedeutungsvoll. Warum gerade heute nicht?«

Die Frau sah ihn zögernd an; sie wußte nicht recht, ob es angebracht war, sich mit dem Mann über diese Dinge zu unterhalten. Güstrow hatte zwar sein treuherzigstes Gesicht aufgesetzt, und es schien wirklich so, als fragte er nur aus Anteilnahme oder sogar nur, um sich mit ihr etwas länger unterhalten zu können.

Die Frau lächelte geschmeichelt. Sie trat ganz nahe an den Kommissar heran und flüsterte:

»Kannten Sie Herrn von Holtern?«

»Ja, gewiß.«

Güstrow ließ seine Augen wohlgefällig auf dem derben Gesicht der Frau ruhen. Hier war es anscheinend möglich, durch Liebenswürdigkeit und Galanterie allerhand zu erfahren.

»Herr von Holtern ist plötzlich gestorben, und das ist ein schwerer Schlag für Doktor Born. So befreundet waren sie miteinander, jeden Tag trafen sie sich.«

Ihre Stimme zitterte vor Rührung; der Kommissar ergriff schnell diese Gelegenheit.

»Sehen Sie, gnädige Frau, aus diesem Grunde bin ich hier. Ich glaubte, hier bei von Holterns bestem Freunde könne ich erfahren, wie das Unglück eigentlich geschehen ist.«

Sie zuckte die Achseln und sagte bedauernd:

»Wir wissen leider auch nicht Genaueres. Sie haben da im Stall ein wildes Pferd, und das hat Herrn von Holtern erschlagen.«

»Woher wissen Sie das?« Güstrow wurde aufmerksam und sah die Frau erstaunt an.

»Herr Doktor Born hat heute morgen gesagt, sein Freund sei im Stall erschlagen worden.«

»Sagte er ausdrücklich: ›von einem Pferd‹?«

Die Frau zögerte mit der Antwort.

»Ich glaube nicht, aber wer sonst sollte es getan haben?«

Kommissar Güstrow überlegte einen Augenblick. Das war eine Sackgasse, so konnte er nichts Wichtiges mehr aus der Frau herausbringen. Er mußte das Gespräch in andere Bahnen lenken. Er hob plötzlich den Kopf und sagte rasch:

»Ehe ich es vergesse: es paßt ausgezeichnet, daß Herr Doktor Born im Augenblick nicht zu Hause ist. Ich möchte Sie persönlich etwas fragen.«

»Und das wäre?«

»Ich habe von einer Dame den Auftrag, etwas festzustellen.«

»Von einer Dame?« fragte sie mißtrauisch, und ihre Stirn legte sich in Falten.

»Ja, von einer älteren Dame, ich muß schon sagen: alten Dame«, fuhr Güstrow begütigend fort. Da hätte er beinahe etwas angerichtet. Die hellgrauen, beinahe wimperlosen Augen sahen ihn neugierig an; über jetzt war das Gesicht der Frau gleich freundlicher.

»Ja, also, diese alte Dame bat mich, herauszubringen, was sie Herrn Doktor Born schenken könne.«

»Schenken? Wieso schenken? Er hat doch gerade erst Geburtstag gehabt!« sagte sie mißtrauisch.

»Natürlich nicht zum Geburtstag«, beschwichtigte der Kommissar schnell. Er seufzte tief und fuhr dann fort: »Ich weiß nun nicht mehr genau, worum es sich handelt; die alte Dame sagte mir wenigstens, Herr Doktor Born sei ihr behilflich gewesen, und nun wolle sie ihm dafür eine kleine Aufmerksamkeit erweisen.«

»Ach, eine Klientin!« rief die Frau erleichtert aus.

»Ja, gewiß. Und nun machte ich den. Vorschlag, Herrn Doktor Born eine neue Reitpeitsche zu schenken. Ich glaube, was er da besitzt, ist nicht ganz das Richtige.«

»Aber erlauben Sie mal!« jappte sie entrüstet. »Ich habe ihm doch selbst erst eine neue Reitpeitsche zum Geburtstag geschenkt. Und er hat sich so sehr darüber gefreut!«

»Ach, wirklich!« meinte Güstrow freundlich. »Die habe ich bestimmt noch nicht gesehen. Zeigen Sie sie mir doch einmal … das heißt: nur wenn es Ihnen keine Umstände macht«, fügte er höflich hinzu.

Die Frau verschwand für wenige Augenblicke. In ihrer Abwesenheit zog der Kriminalkommissar ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Reichlich anstrengend war das hier. Hoffentlich kam Doktor Born nicht, ehe die Peitschenangelegenheit erledigt war. In diesem Fall würde er sofort Verdacht schöpfen und auf der Hut sein. Außerdem bezweifelte Güstrow, daß die betreffende Peitsche die gesuchte sein konnte. Die Wirtschafterin war gewiß in das nächste Ledergeschäft gegangen und hatte ein Exemplar gekauft, wie es zu Dutzenden angefertigt wurde. Während es sich bei der Reitpeitsche, die er suchte, bestimmt um ein Einzelstück handeln mußte, denn Güstrow erinnerte sich nicht, jemals ein Exemplar mit einem bleigefüllten, scharfkantigen Griff in Händen gehabt zu haben.

Oder ob es sich um einen Spazierstock handelte?

Aber hierbei war der scharfkantige Griff noch weniger denkbar, wenngleich ein Spazierstock an dem Abend vielleicht unauffälliger gewesen wäre; denn Doktor Born sowohl wie auch Schwindt trugen Straßenanzüge.

Die Wirtschafterin kam zurück und reichte Güstrow eine helle Lederpeitsche mit Horngriff.

»Nun, wie gefällt sie Ihnen?«

»Ausgezeichnet«, beeilte sich Güstrow zu sagen. »Sehr geschmackvoll und handlich.«

Er ließ die Peitsche durch die Luft schwirren.

In diesem Augenblick wurde ein Schlüssel ins Schloß gesteckt. Kriminalkommissar Güstrow legte die Peitsche schnell auf die breite Bank hinter sich. Er ging dem Hausherrn ein paar Schritte entgegen:

»Guten Tag, Herr Doktor.«

Er machte eine höfliche Verbeugung, nannte seinen Namen und fügte schnell hinzu:

»Ich möchte Sie bitten, mir eine Unterredung zu gewähren. Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

Während Doktor Born seinen Besucher prüfend ansah, entfernte sich die Frau und ließ die beiden Herren allein.

»Ich weiß, worum es sich handelt, denn ich habe Sie gestern abend schon gesehen. Darf ich Sie bitten, mir in mein Arbeitszimmer zu folgen?«

Er öffnete eine Tür und ließ den Kommissar in einen großen, besonders schön und stilvoll ausgestatteten Raum treten. An den Wänden zogen sich niedrige Regale aus glänzend schwarzem Palisanderholz entlang, hier waren Bücher und kleinere Kunstgegenstände harmonisch geordnet. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Flügel, über den eine leuchtend blaue Decke mit chinesischer Goldstickerei gebreitet war. Direkt vor dem Fenster befand sich ein Schreibtisch, auf dem alles so wohlgeordnet lag, daß man sich kaum vorstellen konnte, Doktor Born könne hier arbeiten.

Der Hausherr wies einladend auf einen breiten, niedrigen Gobelinsessel. Er selbst blieb wie abwartend in der Nähe des Flügels stehen.

Aufmerksam beobachtete Güstrow sein Gegenüber. Doktor Born machte einen sehr gepflegten Eindruck, sein Anzug war anscheinend von einem ersten Schneider gearbeitet. Das glänzende, tiefdunkle Haar gab ihm etwas Fremdländisches. Bewundernd blieb der Blick des Kommissars auf der schmalen weißen Hand hängen, deren Fingernägel poliert waren.

»Ich möchte einige Fragen an Sie stellen.«

»Bitte, fragen Sie.«

Doktor Born setzte sich in den Sessel, der dem seines Besuchers am nächsten stand, und legte beide Hände auf die Armlehnen. Kriminalkommissar Güstrow fragte leise:

»Sie waren mit Herrn von Holtern befreundet?«

Die beiden Hände zitterten leicht.

»Ja, wir waren befreundet.«

»Haben Sie einen Verdacht, wer den Mord begangen haben könnte?«

Doktor Born schwieg und bewegte verneinend den Kopf. Er hielt die Augen beharrlich gesenkt und schien nur Interesse für das Muster des Teppichs zu haben.

»Erzählen Sie mir, bitte, was Sie gestern abend zwischen ein Viertel vor acht und ein Viertel vor neun Uhr getan haben. Wo sind Sie um diese Zeit gewesen?«

»Ich hatte bis gegen halb acht eine geschäftliche Unterredung, und da ich erst für neun Uhr mit Herrn von Holtern verabredet war, ging ich zu Fuß in den Stall Bertholt.«

»Wie spät war es, als Sie dort ankamen?«

»Es mag neun Uhr gewesen sein.«

»Was taten Sie dann?«

»Ich ging sofort ins Kasino, weil ich hoffte, Herrn von Holtern dort zu finden. Als ich ihn oben vergebens gesucht hatte, ging ich in den Stall hinunter, und Häfke sagte mir, er habe von Holtern noch nicht gesehen. Daher schlenderte ich langsam um das Haus herum bis zum Hof, wo die Wagen zu parken pflegen. Ich nahm an, daß von Holtern nun jeden Augenblick kommen müsse. Zu meinem größten Erstaunen sah ich gleich vorn im Hof seinen Wagen. Ich ging also in den Stall zurück und fragte ein paar Herren im Kasino, ob sie meinen Freund nicht gesehen hätten. Als ich auch hier keine Auskunft bekommen konnte, ging ich ins Kontor und sprach mit Frau Bertholt. Wir beide fanden dann später den Ermordeten.«

Doktor Born schwieg; er bemühte sich sichtlich, seine starke Erregung zu unterdrücken. Aber es gelang ihm nur schlecht; nervös nagten seine Zähne an der Unterlippe, seine Finger strichen hastig über den bunten Gobelinstoff des Sessels.

Güstrow sah diesem Spiel unwillig zu, er verabscheute das dabei entstehende raschelnde Geräusch, daher fuhr er schnell fort, und seine Stimme klang schroffer, als er es vielleicht beabsichtigt hatte:

»Wir haben inzwischen festgestellt, daß Herr von Holtern nicht im Hof ermordet worden ist, sondern in dem Stallgang, wo der schwarze Hengst steht.«

Er schwieg und sah Doktor Born aufmerksam an. Dieser richtete sich erstaunt auf, seine großen Augen waren voll auf den Kriminalisten gerichtet:

»Bei dem Hengst? Also hat ihn das Tier erschlagen?«

Güstrow glaubte eine gewisse Erleichterung aus seinem Ton herauszuhören. War er der Täter? Sollte diese schmale Künstlerhand den tödlichen Schlag geführt haben? Es schien eher, als habe sie im Leben noch nicht viel anderes getan als sich mit sauberen, ungefährlichen Dingen beschäftigt; es war die zärtliche Hand eines körperlich schwachen, vielleicht sogar willenlosen Menschen.

»O nein, nicht der Hengst«, sagte Güstrow bestimmt. »Sie äußerten übrigens gestern abend schon den Verdacht, Herr von Holtern könne verunglückt sein«, setzte er sein Verhör fort, und seine kühlen, forschenden Augen ließen das Gesicht des anderen nicht los. »Wollen Sie mir nicht erklären, was Sie dazu veranlaßte?«

Das raschelnde Geräusch brach jäh ab. Doktor Born nahm seine Hände von der Sessellehne, griff in die Brusttasche seines Rockes und zog ein goldenes Zigarettenetui herauf. Er klappte es auf und reichte es dem Kriminalkommissar:

»Rauchen Sie?«

»Nein, danke. Ich möchte, daß Sie meine Frage beantworten.«

Doktor Born nahm eine Zigarette aus dem Etui, und erst nachdem er sie sorgsam angezündet hatte, sagte er, indem er eine Rauchwolke von sich blies:

»Dieser Platz im Stall war der einzige Ort, wo ich noch nicht nach meinem Freunde gesucht hatte.«

»Warum gingen Sie nicht allein zu dem Hengst? Warum holten Sie Frau Bertholt?«

Doktor Born zögerte einen kurzen Augenblick und sah dem Rauch seiner Zigarette nach, dann sagte er leise:

»Es ist verboten, diesen Teil des Stalles zu betreten.«

»War das der Grund?«

Güstrows Stimme klang mißtrauisch; es schien ihm unmöglich, daß ein solches Verbot einen Mann davon abhalten sollte, nach seinem Freund zu suchen. Diese Antwort war eine Ausrede. Drängend fragte er nochmals:

»War das wirklich der Grund? Sie müssen mir die Wahrheit sagen!«

»Ja.« Zögernd und sehr leise setzte er hinzu: »Außerdem mochte ich nicht allein hingehen, weil ich mich vor dem Hengst fürchte. Ich habe von Holtern oft genug gesagt …« Er brach ab und biß sich auf die Lippen.

Als Kommissar Güstrow jetzt in Doktor Borns Gesicht sah, war er nahe daran, diesem Manne die Angst zu glauben. Seine Augen waren weit geöffnet, unruhig zerdrückte er die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher.

»Sie wußten gestern abend bereits, daß Sie Ihren Freund dort finden würden!«

Doktor Born machte eine abwehrende Bewegung:

»Wie konnte ich das wissen?«

»Bitte, machen Sie keine Ausflüchte. Sie haben sich dadurch verdächtig gemacht, daß Sie Frau Bertholt in den Teil des Stalles holten, wo der Mord passiert ist, und daß Sie sie veranlaßt haben, die kleine Tür zum Hof aufzuschließen, wo dann auch die Leiche von Holterns gefunden wurde. Sagen Sie selbst: weist das nicht eindeutig darauf hin, daß Sie wußten, was geschehen war?«

»Um Gottes willen, was denken Sie sich!«

»Wenn Sie mir nicht einwandfrei erklären, wie Sie auf den Verdacht kamen, Herr von Holtern könne dort verunglückt sein, muß ich bei diesem Verdacht beharren.«

Es kostete Doktor Born einige Überwindung, zu antworten.

»Es war verboten, den Stall durch die kleine Tür vom Hof aus zu betreten, aber Herr von Holtern hielt sich nicht an dieses Verbot.«

»Soviel ich weiß, wurde streng darauf geachtet, daß diese Tür stets verschlossen war.«

»Natürlich war die Tür versperrt, aber von Holtern besaß einen passenden Schlüssel. Er hat ihn mir vor kurzem gezeigt; und ich warnte ihn, da ich sein Beginnen für sehr gefährlich hielt. Aber von Holtern hatte sehr viel persönlichen Mut.«

»Von wem hatte Herr von Holtern diesen Schlüssel?«

»Es war sein eigener Hausschlüssel. Er erzählte mir, daß er einmal spaßeshalber probiert hatte, ob aus seinem Schlüsselbund ein Schlüssel die kleine Tür öffne, und dabei hatte er entdeckt, daß sein Hausschlüssel dazu paßte.«

»Also pflegte Herr von Holtern regelmäßig diesen verbotenen Eingang zu benutzen?«

»Jawohl. Einige Male bin ich mit ihm gegangen, aber ich tat es nicht gern; denn es wäre mir sehr peinlich gewesen, von dem Stallpersonal oder gar von Herrn Bertholt selbst gesehen zu werden. Außerdem hielt ich es – wie gesagt – für nicht ganz ungefährlich.«

Diese Erklärung mußte Güstrow genügen. Soviel wußte er bereits von dem Charakter Doktor Borns, daß ihm klar war, wie sehr dieser Mensch darunter gelitten hatte, daß sein Freund immer wieder das Verbot übertrat. Selbstverständlich hatte ihn stets der Gedanke gequält, von Holtern könne einmal von dem Hengst geschlagen werden. In seiner furchtsamen Seele malte sich diese Gefahr riesengroß.

»Sie waren fast täglich mit Herrn von Holtern zusammen?«

»Jawohl. Wir waren eng befreundet.«

»Was wissen Sie von der Affäre Schwindt?«

Doktor Born lehnte sich tief in seinem Sessel zurück, und eine Wolke des Unmutes glitt über seine Stirn. Er hätte viel darum gegeben, das Verhör abbrechen zu dürfen. Es war ihm peinlich, über seinen toten Freund zu sprechen.

»Ich weiß nur wenig darüber. Auch unter Freunden pflegt man kaum über Frauengeschichten zu sprechen.«

Güstrow ließ nicht locker:

»Das wenige möchte ich gern von Ihnen wissen.«

Ein Zug von Mißmut glitt über das Gesicht Doktor Borns:

»Ich kann nicht einsehen …«, begann er zögernd, aber als er dem harten, zwingenden Blick Güstrows begegnete, blieb ihm nichts anderes übrig, als fortzufahren:

»Herr von Holtern hatte Frau Schwindt im Stall Bertholt kennengelernt. Eine Zeitlang ritten sie jeden Morgen miteinander aus. Aber plötzlich unterblieb das wieder. Als ich ihn einmal beiläufig fragte, warum er seine Morgenritte eingestellt habe, gab er mir seine direkte Antwort, sondern sagte ungefähr: ›Immer sind die Ehemänner der Frauen, um die es sich lohnt, eifersüchtig, und sie wissen auch genau, warum sie es sein müssen.‹«

»Die beiden trafen einander auch außerhalb des Stalles?«

»Ich nehme an, daß Frau Schwindt meinen Freund in seiner Wohnung besucht hat. Aber etwas Genaues weiß ich nicht; von Holtern hat mit mir über diese Sache niemals gesprochen.«

Das war die Wahrheit. Güstrow hörte es sofort. Ein so sensibler Mensch wie Doktor Born war gar nicht imstande, etwas geschickt zu verschweigen oder gar das Gegenteil zu behaupten. Er wußte wirklich nichts über die Beziehung von Holterns zu Frau Schwindt. Und doch war es notwendig, so viel wie möglich über den Ermordeten zu erfahren. Es mußte sich doch ein Anhaltspunkt finden lassen.

Was für ein Mensch war von Holtern gewesen? Manches ließ sich schon vermuten, aber lange nicht genug, um klar zu sehen. Sollte nicht doch der Freund des Ermordeten den Schlüssel zu der Tat in der Hand haben?

Zwischen Freunden brauchte nicht alles besprochen zu werden, manches ließ sich erraten, und wem hätte das mehr gelegen als einem so feinnervigen Menschen, wie Doktor Born es war.

»Ist Ihnen bekannt, ob Herr von Holtern Feinde hatte?«

Die hellen Augen des Kriminalisten forschten in dem Gesicht des anderen.

»Das kann ich mit Bestimmtheit verneinen.«

Jede Frage stieß auf eine Grenze, Doktor Born wußte wirklich nichts über den Ermordeten. Zwar war er sein Freund gewesen oder hatte sich doch zum mindesten dafür gehalten, aber von dem wirklichen Wesen des Mannes hatte er niemals etwas geahnt. Wahrscheinlich hatte der feine, kultivierte, körperlich schwächliche Mensch zu dem Freund emporgeblickt. Er hatte ihn mit Eigenschaften ausgestattet, die dieser niemals besaß. Die Unbedenklichkeit und den Leichtsinn von Holterns hatte er für Mut gehalten. Vielleicht hatte er ihn gerade deswegen verehrt. Wer konnte das heute noch feststellen? Denn nun war von Holtern ermordet worden, und diese Tat konnte niemals aufgeklärt werden, wenn es nicht gelang, den Charakter und das Leben von Holterns aufzudecken. Irgendwo mußte in ihm selbst das Motiv zur Tat zu suchen sein.

Kommissar Güstrow erhob sich aus seinem bequemen Sessel und sagte abschließend:

»Ich danke Ihnen für Ihre Aussagen, Herr Doktor Born. Sie haben mich ein gutes Stück weitergebracht. Ich weiß jetzt wenigstens, wie von Holtern in den Teil des Stalles gekommen ist, wo er ermordet wurde, ohne daß ihn irgendein Mensch gesehen hat.«

»Warum sagten Sie vorhin, Sie hielten es für ausgeschlossen, daß der Hengst ihn erschlagen hat?«

»Das liegt auf der Hand: die Brieftasche des Ermordeten fehlt, und außerdem wurde der Leichnam auf den Hof gebracht. Und das wäre ein bißchen zu viel verlangt von einem noch so gut dressierten Pferd.«

Aber Doktor Born hatte keinen Sinn für diesen galligen Humor. Er hatte sich eine bestimmte Ansicht über den Fall zurechtgelegt und versuchte nun mit allen Mitteln, den Kommissar davon zu überzeugen. Er war aus seinem Sessel aufgestanden und ganz nahe an Güstrow herangetreten. Für ihn ging es hier um mehr als eine bloße Meinung. Er hatte einen Freund besessen, und dieser Freund war jetzt tot; er, der einmal stark und mutig gewesen war, konnte sich nicht mehr verteidigen. Irgendwie hatte Doktor Born immer geargwöhnt, daß von Holterns Leben voller Abenteuer und Spannungen gewesen war, und nun war sein Ende jäh und heftig gekommen. War es nicht eine selbstverständliche Pflicht der Freundschaft, zu verhindern, daß man das Leben des Toten durchforschte? Kein Mensch konnte das Unglück ungeschehen machen, aber unter Umständen konnten Dinge ans Licht gezerrt werden, die besser begraben blieben.

Seine Stimme klang eindringlich und überredend, als er jetzt sagte:

»Vielleicht hat jemand zufällig die Leiche entdeckt und die Gelegenheit benutzt, die Brieftasche zu stehlen?«

»Das ist natürlich möglich«, gab Güstrow zu, »aber wenn es keinen Mörder gibt, warum sollte der Dieb den Erschlagenen in den Hof geschafft haben?«

»Auch dafür wird sich ein Motiv finden lassen.«

»Wüßten Sie eines? Ich glaube, dafür reicht unsere Phantasie nicht ganz.«

Doktor Born starrte einen Augenblick unschlüssig vor sich hin, dann gab er leise zu:

»Ich kann mir nicht denken, aus welchem Grunde man so etwas tun könnte. Trotzdem will ich die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich eines Tages der Tod meines Freundes als ein Unglücksfall herausstellen wird.«

Güstrow schüttelte den Kopf und sagte bestimmt:

»Ich glaube nicht daran.«

Doktor Born zuckte die Achseln; er mochte eingesehen haben, daß es aussichtslos war, den Kriminalisten zu überzeugen. Zum ersten Male lächelte er, und seine Stimme klang spöttisch:

»Zuweilen halten wir etwas für ausgeschlossen, das sich dann bei näherem Zusehen als das einzig Mögliche entpuppt.«

»Gewiß, aber wir erfahren auch immer wieder, daß das Leben härter und grausamer ist, als unsere Phantasie es uns vorspiegelt.«


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