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Elftes Kapitel.

Was uns in der weiten Ferne
suchen hieß ein eitler Traum,
zeigen und der Liebe Sterne
in dem traulich kleinen Raum.

W. Müller

 

Es war im Spätsommer des Jahres 1851, an einem schönen, klaren Abend, als ein Handwerksbursche in das Haus des Seilermeisters Friedrich Engel in Brixen trat.

Er hatte das Schild über dem Hausladen lange mit pfiffigem Lächeln angeschaut, und ehe er eintrat, leise vor sich hingemurmelt: »Der ›Ernst‹ ist weggeblieben – wolle Gott aus dem ganzen Leben des guten Schwaben!«

Er schien bekannt im Hause zu sein und stieg, ohne sich zu besinnen, die Stiege zur linken Hand hinan. Er stand ziemlich lange und mit klopfendem Herzen an der Zimmertüre, ehe er sie aufklinkte. Er hörte niemanden sprechen darin, nur ein leiser summender Ton klang heraus und der eigentümliche, gleichförmige einer geschaukelten Wiege.

Ein feines Lächeln flog über das ernste, bärtige Gesicht des Wanderburschen, er drückte die Türe leise auf und murmelte das altherkömmliche: »Ein armer, reisender Handwerksbursch –« in die Stube hinein.

Er hörte das Summen des Schlummerliedes verklingen, das Schaukeln der Wiege aufhören und rasche, leise Tritte auf die Türe zukommen.

»Mein Jesus, der Hecker!« schrie es plötzlich vor ihm auf, und den heiligen Schlaf des Kindleins in der Wiege vergessend, stürzte Judith zu der Kammer, wo, wie es schien, Fritz wie damals hechelte, nur nicht mehr als der »Gesell«, und rief hinein: »Fritz, der Hecker!«

»I Gott, das wär'!« hörte man es in der Kammer aufschreien, und der Schwabe, umflogen von einem Heere zerrütteter Wergfäden, stürzte heraus und an den Hals des Gerbers, der, keines Lautes mächtig, in tiefer, stiller Rührung und Wiedersehensfreude in der offenen Türe stand.

»Hecker, lieber Hecker, sei mir gegrüßt zu tausend Malen, du lieber, böser Hecker!« rief der Seiler, vor Freude schluchzend, »schau', ich ha'n ein Kleins!«

»Gott segne es!« sagte der Gerber gerührt, »was ist's denn?«

»Ein Bub!« riefen Vater und Mutter zugleich mit freudig und stolz blickenden Augen.

Der Gerber schritt rasch auf die Wiege zu und schob die Florhülle, die über dem schlafenden Kinde lag, zurück: »Gott segne dich, mein Kind, und lasse dich werden, was dein Vater war und ist, ein guter Kerl, ein treuer Kamerad und ein braver Handwerker!« sprach er mit ernstem, feierlichem Tone.

»Ob du aber weißt, wer seine Pate ist, und wie er heißt, der kleine Schreihals?« fragte der Schwabe.

»Wie könnt' ich das wissen?«

Der Seiler sprang rasch zu dem Wandschranke und holte aus den Decken eines alten Kalenders, seinem Archive, einen Stempelbogen hervor, den er dem Gerber mit blitzenden Augen hinreichte.

»Ich!« rief dieser hoch erstaunt, »wie fiel dir das ein, und wie wusstest du den meinen wahren Namen?«

»Aus deinem Wanderbuche! Warum ich's tat, davon später, aber gegangen ist's ganz leicht. Meine Judith hatt' es schon vor ihrer Entbindung mit dem Nachbarn, dem Sternwirt, abgemacht, dass er das Kind als dein Stellvertreter zur Taufe halten sollt', wenn es ein Bub würde und – aber gib deinem Patenkind doch ein Busserl!«

Der Hecker tat's, das Herz wunderbar bewegt. Darüber wachte das Kind auf. »Ihr Bart hat's gestochen!« meinte die Mutter, indem sie den kleinen Hecker beschwichtigend in die Arme nahm.

»Dann hab' ich aber noch was«, fuhr der Seiler fort, »was dich überzeugen wird, wie treu ich an deinem Andenken gehangen! Da schau' her!« Er zeigte hierbei auf ein Bild, das über der Kammertür hing.

Der Gerber sah es verwundert an.

Auf dem in Pontifikalgewänder gehüllten Leibe irgendeines Heiligen saß ein bärtiger, moderner Kopf, offenbar an die Stelle eines anderen geklebt. Darunter stand: »St Ambrosius«.

»Ja, was soll denn das bedeuten?«

»I, das bist ja du!«

»Ich, der alte heilige Kirchenlehrer!«

»I nu, dein Porträt, Heckers nämlich! Ich konnte keins erwischen, das dir mehr gleich gesehen hätte, weil sie verboten sind!«

»Aber was um aller Welt willen…«

»Siehst du!« explizierte der Seiler, während die Mutter die aufrührerischen Versuche des kleinen Hecker durch leisen Gesang zu beschwichtigen und niederzuhalten versuchte, »ein Andenken an dich musst ich doch haben. Wer weiß, wo ich heute in der weiten Welt herumliefe, wenn du mir damals in Meran nicht den rechten Weg gewiesen hättest. Nun, so fragt' ich überall herum nach einem Bild des Hecker, – aber, er musste wirklich ein' schlechten Kerl gemacht haben D.h. einer gewesen sein oder wenigstens dafür gegolten haben., denn niemand wollt' was wissen von ihm. Da kam einmal ein walisischer Hausierer mit Bildern in meinen Laden. Ich fertigt' ihn kurz ab, dass ich keine Bilder kaufen möge, außer eines, aber das habe er gewiss nicht. – Er fragte, ich sagte ihm's – ein Wort gab das andere – und da versprach er, mir ein Porträt des Hecker zu bringen, aber ich dürfte ihn nicht verraten, weil das schwer verboten wäre. Und er brachte mir's wirklich nach einiger Zeit. Nun, gleich sah es dir wohl nicht sehr, aber doch etwas – es war doch der Hecker. Weil ich's nun gern aufgehangen hätte, so spekuliert' ich so lange, bis ich auf den Gedanken kam, den Kopf auszuschneiden und auf ein Heiligenbild zu kleben. Ich tat's diesem an, das ich nicht leiden kann, es ist der Namenspatron des ersten Mannes meiner Judith. Es sieht wohl ein bissel seltsam aus, aber es geht, und die Leute lassen es ohne Weiteres als den heiligen Ambrosius passieren!« Also erzählte der Seiler die Entstehungsgeschichte des Bildes dieses ›kuriosen Heiligen‹.

Der Gerber lachte, dass ihm die Tränen in den Augen standen: »Und hat denn deine Frau ihren Konsens zu dieser Ketzerei gegeben?«

Der Seiler nickte, und Judith warf dem Fragenden einen freundlichen Blick zu.

»Nun, glücklich seid ihr und zufrieden miteinander, wie ich sehe, nun kann ich wieder aufbrechen. Das drängte mich's zu wissen!« sagte der Gerber, »wenn du auf ein Stündlein mitkommen willst in die Herberge – Frau Judith wird's wohl erlauben, – um mir zu erzählen, wie alles mit dir so gekommen ist, und um zu hören, wie es mir seitdem ergangen, so machst du mir eine rechte Freude damit!«

»Hehe, das wäre sauber! Du kommst mir unter einem ung'rischen Monat nicht aus dem Hause, so einen unsteten Zugvogel muss man festhalten, wenn man ihn erwischt!« rief der Seiler, die widerstrebende Hand des Gerbers an sich ziehend. Und auch die Frau trat schmollend hinzu: »Das wäre ein sauberer Gevatter, der sein Patchen einmal im Jahre kaum auf ein Stündchen heimsucht! Lass ihn nicht fort, Fritz!«

»Gar keine Spur, er muss bleiben!«

»Nein, ich bleibe nicht!« sprach Hecker ernst und bestimmt, »und wenn du es wissen willst, warum ich nicht bleiben mag, und kann, so will ich es dir sagen. Ich bin nicht anders, nicht besser geworden, Fritz, als ich war, nicht um ein Titelchen und dennoch anders – unglücklicher fühle ich mich und trübseliger bin ich geworden und – schlechter. Ich täusche mich nicht mehr und sage mir, dass ich da, wonach andere rennen und ringen, für einen Pfifferling achte, weil ich es verschmähe – nein! Ich habe tief in mein kaltes Herz hineingeschaut und keine Kraft darin gefunden, zu erwerben, zu erjagen, was das Endziel des Menschenlebens ist, keine Kraft, meiner Seele einen würdigeren Strebenszweck zu setzen, keine Kraft zur Tat. Und wie ich erkannt, dass ich die Güter des Lebens nicht verschmähe, wusste ich auch, wie der Trieb eigentlich heißt, der mich ruhelos fortzuwandern drängte – er heißt: Neid!«

Der Seiler senkte den Kopf und flüsterte traurig vor sich hin: »Grollt noch immer in ihm der alte Sturm?«

»Willst du mich halten?« fuhr der Gerber mit eisigem Tone fort, »soll ich bleiben? Sollen die Blüten deines Glückes versenkt, hinwelken unter meinen neidischen, unheilvollen Blicken? Und soll ich selber mich verzehren in wilder Sehnsucht nach dem Unerreichbaren für mich – dem Frieden und dem Heile des häuslichen Herdes? Lass mich ziehen, Kamerad, ich habe schon zu viel gesehen!«

Der Seiler stand auf und sprach ruhig: »So geh – mit Gott! Vergiss aber nicht, dass dies Haus und unsere Herzen dir offenstehen, solange jenes hält und diese schlagen! – Reich mir den Rock, Judith, ich geh mit ihm. weil er mein Gast nicht sein will, gehöre ich ihm, solange er in Brixen weilt. Ängstige dich nicht, wenn ich die Nacht ausbleibe!«

Der Gerber reichte dem schluchzenden Weibe seines Freundes stumm die Hand, drückte einen Kuss auf die Stirne des Kleinen und ging, – weinte er nicht? –

Sie gingen in die Herberge.

»I du meine Güte, Gerber! – Schön willkommen in Brixen! Na, das wird 'ne Freude sein im Stuffers! Die haben was geleidigt um den lieben Hecker!« rief die Wirtin, in die Hände schlagend.

»Haben sie doch mein gedacht?« fragte der Gerber mit traurigem Lächeln und warf seine Rolle ab.

Die Ereignisse mehr als eines Jahres, seine guten und bösen Stunden liefen an dem Geiste des Burschen vorüber, als er wieder an dem Tische unter seinem Handwerksschilde saß, an dem er so oft seine klangvolle Stimme erhoben zum Preise des Wanderburschenlebens, des schönsten auf der Erde, und zur Verherrlichung

»der einen, die er treulich minnt« –

Was mag es mit Sybille sein? – Doch er sprach die Frage nicht aus.

Die Wirtin kam mit dem Weine, der Gerber schenkte rasch ein, und wie sonst hob er leuchtenden Auges das Glas und wie sonst rief er: »Nie ohne Toast! Kling an, Fritz, auf dein Wohl, du treues, freundliches Herz, und auf deines Weibes und Kindes Wohl!

›Hei, was die Becher klangen!
Wie brannte Hand in Hand!‹ –

Jetzt aber erzähle mir, wie es zugegangen, dass du katholisch, der Mann der Witfrau und bürgerlicher Seilermeister in der alten Bischofsstadt Brixen geworden bist!«

Fritz rückte zu und begann:

»Als ich von dir ging außer Meran, war mir so ungeheuerlich bange zumute und das Herz so schwer, dass ich nichts anderes anzufangen wusste, als recht bitterlich und von Herzen zu weinen. Und weiß Gott, es war zumeist und mehr um dich als um mich und meine trostlose Liebe. Ich denk', ich hatt' die Augen noch nass, als ich nach Gries kam. – Da erst, nun mir die Türme von Bozen schon entgegen flimmerten, dacht' ich daran, dass man mit Weinen nicht weiter komme – höchstens die Weiber, die richten alles damit aus, wie das Sprichwort sagt. Ich raffte mich denn zusammen und ging vor allem in eine Weinschenke, denn mir war ganz übel von dem Rausche tags vorher – und den andern Geschichten.

Bei dem Glase kamen mir richtig lichte und rechte Gedanken, zurück nach Brixen vorderhand um keinen Preis! Das war das erste, was sich festsetzte in mir. Dann nahm ich mir vor, an die Judith zu schreiben, offen und gerade, und ihr die Sache auseinanderzulegen mit – na, du weißt ja, mit dem Glaubensbekenntnis. Und dann nahm ich mir vor, an der Stelle des Linzers, der bei der Judith in Arbeit kam, dort in Bozen einzutreten. Dass sie noch offen sei, wusste ich auswendig. Und diese drei Vorsätze führte ich, den ersten, soviel für einen Tag möglich war, auf der Stelle aus, schrieb in dem Wirtshause – im ›Wilden Mann‹ war's, das vergess ich mein Lebtag nicht – gleich den Brief – einen vier Seiten langen, voll Unsinn und O und Ach, aber die Judith hat doch das Rechte daraus zu lesen gewusst, und dann ging ich, das Handwerk zu grüßen. Sie nahmen mich mit Freuden auf, und ich hätte die Bozner Werkstatt sonst vielleicht mein Lebtag nicht verlassen, so gut ging mir's dort. Aber so steckten mir ganz andere Dinge im Kopf, und als vollends die Antwort der Judith auf meine ›bar Zeiln‹ kam, da war es ganz und gar aus mit meinem bissel Seilerei! – Sie schrieb mir recht schön und rührend, hieß mich einen ›Geliebten ihres Herzens‹ hin, den andern her und – sie ist dir ein verflucht pfiffiges Frauenzimmer – riet mir folgendes zu tun: Ich sollt derweil in Bozen in Arbeit gehen und mit dem Herrn Vikari reden, der mit ihrem Vater oder so was bekannt war – es lag ein Brieferl an ihn in dem meinen – der würde, meint' sie, mir gern mit Rat und Tat an die Hand gehen und mir auch den erforderlichen Unterricht geben. Und dann, schrieb sie, soll ich eilen, ›in die Arme Ihrer Sie zärtlich liebenden Judith, verwittibten Riedeggerin‹.«

»So war es mit dem Linzer also nichts?« fragte der Gerber, die Pause benützend.

Der Seiler errötete ein wenig: »Nein – indes, wenn ich aufrichtig sein will, muss ich dir sagen, dass ich recht froh war, obwohl ich mein' Seel' nicht einen Gedanken von Eifersucht hatte, als mir die Judith später schrieb, sie hab ihm den Schuss gegeben und wolle lieber allein bleiben, bis ich käme – sie sagte mir erst später, dass der Bursch' sich allerlei Freiheiten bei ihr herausnehmen wollte – ja da konnt er warten! – Also, so schrieb sie mir, und so tat ich auch. Ich hatt' dir aber eine Angst, Hecker, als ich zu dem Herrn Vikari musste – eine fürchterliche Angst! Ich denke nicht, dass ich vor dem jüngsten Gerichte so miserabel und das Herz in den Hosen erscheinen werde. Aber der alte Herr war dir die Freundlichkeit selbst, er nahm mich auf wie einen Sohn, und ich kann dir sagen, dass es mir viel leichter wurde, überzutreten, als ich mir vorgestellt habe. Was wollt ich mehr? Die liebe Judith versprach mir in jedem Briefe den Himmel auf Erden und der Herr Vikari den jenseitigen!«

»Du glücklicher Mann!« flüsterte der Gerber.

»Am zweiten Osterfeiertage«, erzählte Fritz weiter, »legte ich das Glaubensbekenntnis öffentlich ab, und vier Wochen darauf erhielt ich das Bürger- und Meisterecht in Brixen und führte meine Judith zum Altare. – Du magst glauben oder nicht – als ich ihren Ring am Finger hatte, noch auf den Stufen des Altares, flüsterte ich meinem Weibchen leise ins Ohr: »Wenn uns der Hecker sähe!«

Der Gerber lachte gerührt: »Da guckte noch ein Stück Ketzertum hervor bei dir.«

»Nun ist's bald auserzählt! Als ich nach Brixen kam, sah ich erst ein, wie klug der Rat meines Weibes gewesen, als sie mir schrieb, in Bozen zu bleiben und die Sache dort in Ordnung zu bringen. Es war hier wenig bekannt geworden, dass ich früher evangelisch war, und wie nirgends über ein Geschehnis länger geredet wird, als es braucht, dass Gras darüber wächst, so hatte ich's bald überwunden hier, während ich wohl viel auszustehen gehabt hätt', wenn ich mich hätte hier bekehren lassen müssen. Dass ich ein glücklicher Mann und seit Kurzem auch ein glücklicher Vater bin, hast du gesehen – und jetzt bin ich fertig!«

Der Gerber senkte den Kopf wie zu Danke und drückte dem Schwaben innig die Hand. »Erinnerst du dich noch daran, mein Fritz, wie wenig du uns vor einem Jahre zu erzählen wusstest von deinem Leben, als wir unter dem Vogelbeerbaume an der Lienzer Straße saßen? Was ist ein Jahr? – Wenn ich mich ansehe – nichts! Ich bin seit vielen Jahren unverändert derselbe, nur dass ich einmal einen besseren und einmal eine schlechteren Rock trage. – Wenn ich dich ansehe, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ein Jahr denn doch ein Zeitabschnitt, der Rede wert ist, denn es hat genügt, dich aus einem armen Burschen, der noch dazu mit einem Fuße schon auf der Schwelle des Vagabundentums stand – durch meine Schuld – zu einem behäbigen, rechtschaffenen Bürger, zu einem glücklichen Gatten und Vater zu machen!«

Er sah traurig nieder dabei, so traurig und gedankenvoll, dass es dem Seiler unendlich wehe tat um ihn.

»So versuche es auch, Hecker! Du könntest schon, wenn du wolltest! Versuche es, raffe dich auf! Lass die Vögel singen und locken, wie sie wollen! Sie singen ja nur Gott zum Lobe und den Menschen zur Freude, und ich denke, wenn sie es wüssten, dass ihr Gesang auch nur einen Menschen in Not und Unglück verlocken könnte, sie müssten der süßen Sangeslust für immer entsagen und fortan stumm über die grüne Erde hinziehen!«

Er legte dabei seinen Arm um den Hals des Gerbers und sah ihn mit den dunklen, ehrlichen Augen so flehentlich an, dass dem alten Sünder das verstockte Herz auftaute und er, seine Arme um ihn schlingend, ausrief: »So sei es denn, du hast's gesagt! Ich will's versuchen!«

Fritz sprang und jauchzte vor Freuden hoch auf. Er sah seinen Hecker im Geiste schon als Potentaten sämtlicher Ledermärkte seiner Heimat, sah ihn auf dem Bürgermeisterstuhle seiner Vaterstadt, dann ihn als beglückten Gatten eines wunderschönen Weibes, viel, viel schöner als Sy… »Herjes Hecker!« rief er plötzlich und schlug sich vor die Stirne, »du hast ja noch gar nicht nach der schönen Sybille gefragt, wirst du sie denn nicht heimsuchen?«

Der Gerber sah finster vor sich nieder. Stolz und Erinnerung lagen in seinem Herzen im Kampfe. »Was treibt sie?« fragte er endlich.

Der Seiler zuckte die Achseln. »Nicht viel Gutes, denk' ich! Sie liebelt, seit du weg bis, abwechselnd mit Studenten, Soldaten, Kaufmannsdienern und dergleichen herum. Ich komme nie hin, doch erzählte mir die Judith, die ihr neulich auf dem Kirchgange begegnete, dass sie blass und kränklich aussehe!«

»Gehen wir hin!« fuhr der Hecker plötzlich auf. – Fritz meinte, dass seine Stimme zitterte, als er dies rief.

»Hätte nie gedacht, dass ich diesen Weg noch einmal gehen werde, damals, als ich ihr den Stammbuchvers auf die Türe schrieb!« sagte der Gerber im Gehen, als sie in die Nähe der Taverne kamen.

»Ja, man darf nichts verreden, obwohl ich dennoch eins felsenfest verrede!«

»Du, was denn?«

»Unter die walischen Soldaten zu gehen!« lachte der Seiler. – Sie sprachen fröhlich von dem dummen Stück in Meran, bis sie an der Türe standen.

Der Gerber trat ein und warf einen raschen, glühenden Blick über das lange Zimmer.

Es gab ihm einen tiefen Stich ins Herz – er sah sie wieder.

Alles war gerade so, wie es gewesen, als er zum ersten Male hier eintrat. Wie damals flatterten ihm die Zeitungen bauschend zum Willkomm entgegen, als der Seiler hinter ihm die Türe zuwarf. Wie damals blinkten auf dem Büfett die hellen Kaffeegläser und dunklen Rumkaraffen, wie damals wallten die roten Draperien faltig nieder über das Frauenbild, das lesend unter ihnen saß – aber sie, Sybille war eine andere geworden!

War sie damals eine prangende, duftende Menschenblüte gewesen, so war sie heute eine gebrochene Frucht und hin all' ihr Duft und Glanz.

Sie sah blass und krank aus, so blass, dass nicht anzunehmen war, wie eine tiefere Blässe sich auf ein Menschenantlitz legen könne, denn im Tode – dennoch war dies möglich. Sie wurde erdfahl im Gesichte, als der Gerber eintrat, und das Buch entsank ihren erstarrenden Händen.

Der Seiler blickte neugierig und erwartungsvoll auf seinen Kameraden. Die ehrliche Seele, in der der Wunsch aufgestiegen war, es möge die Macht der alten Liebe den unsteten Flüchtling ergreifen und festhalten – bei ihm – in seiner Nähe, sie konnte es nicht begreifen, wie er plötzlich gerade wie damals, ohne aufzuschauen, ›zwei Schwarze‹ verlangen konnte.

Und wie damals griff er wieder nach dem ersten besten Journale – wie damals war es wieder die Innsbruckerin, die ihm zunächst hing.

Doch von nun ab ging's nicht mehr, ›wie damals‹ zu. Eine Magd brachte den Kaffee, und der Hecker trank ihn diesmal nicht bitter aus. Auch las er die Zeitungen ruhig durch. Nur das war wieder wie damals, dass er plötzlich aufstand, auf Sybille zuschritt und lange in angelegentlichem, leisem Gespräche mit ihr verblieb, worauf er gerade wie damals zu dem Seiler zurückkehrte und ihm zurief: »Gehen wir!«

Sie gingen – auf der Gasse kehrte sich der Gerber langsam gegen die Taverntüre um und flüsterte: »Leb' wohl, Sybille, mein gefallener Stern!«

»Was ist's denn mit der Jungfer?« fragte der Seiler neugierig, indem er seinen Arm in den Heckers schob.

Der sah gerade vor sich hin und antwortete mit der seltsamen Stimme, mit der er seine Aufregungen immer äußerte: »Wenn ich einen Witz machen wollte, würde ich auf deine Frage antworten: ›Aus ist's mit der Jungfer!‹ So aber ist mir verteufelt ernst, fast traurig zumute, und ich sage dir, dass ich bloß darum zu Sybille ging, weil ich nach deiner Erzählung für sie erbangen musste – ich kam zu spät. – Ihre Blässe und Kränklichkeit sind Folgen eines Fehltrittes! – Er sprach nicht weiter, und der arme Schwabe sah seinen Hoffnungsanker, abgerissen von dem Taue, in der Tiefe versinken.

Sie kamen wieder in die Herberge.

»Du bist mir ja noch von deinen Fahrten zu erzählen schuldig, Hecker! Rede dich einmal aus, dass uns andere Gedanken kommen!« sagte Fritz, als sie wieder an dem heimatlichen Platze unter dem Horte des Gerberwappens saßen.

»Von meinen Fahrten willst du hören?« sprach Hecker traurig, »du hast eine mit mir gemacht, da kennst du sie auch alle. Du weißt ja, wie ich's halte, nur das ist anders geworden, ich habe weder eine Sybille mehr gesucht noch eine gefunden, bin von Land zu Land marschiert, immer allein – ist mein Grundsatz geworden seit dem Tage in Meran. Von Zeit zu Zeit, wenn mich die Not oder sonst ein unabweisliches Lebensbedürfnis dazu nötigte, bin ich in Arbeit eingestanden, aber nie lange. Indes weil ich dir schon das Versprechen gab, zu versuchen, ein Pfahlbürger zu werden wie du, muss ich dir auch mitteilen, dass ich schon von Krain aus, wo ich zuletzt arbeitete und woher ich komme, an die Meinen daheim geschrieben habe, ob und was sie für mich, das heißt für meine Zukunft zu tun gedenken. Die Antwort habe ich poste restante in Salzburg zu hoffen. Du siehst mich also auf dem Heimwege und gewillt, mich – zu setzen.«

»Ich weiß nicht«, sagte der Seiler nach einer Weile, während der er in schweigendem Nachdenken vor sich niedergeblickt hatte, »ich weiß nicht, wie mir das, was ich dir eben noch in vollem Ernste geraten habe, jetzt auf einmal so ganz – nicht merkwürdig – undenkbar vorkommt, du ein friedsamer, einfacher Bürger werden!«

»Wir werden ja sehen!« meinte Hecker ernst und griff plötzlich, wie das sein Kamerad übrigens von ihm schon gewohnt war, nach seinem Wanderbündel. »Von heut' über ein Jahr also, mein lieber Fritz, darfst du Nachricht von mir erwarten! Ein Jahr ist lang genug, um zu entscheiden, ob – ob es geht mit mir oder nicht! – Doch es ist spät – jetzt lass uns scheiden«

Er stand rasch auf, warf seine Rolle um – der Seiler fühlte seine Hand heiß und fest gedrückt, fühlte einen warmen Kuss auf seinen Lippen und – stand allein.

Am 24. März 1852 saß Fritz Engel des Abends neben seiner Judith und las ihr folgenden Brief vor, den ihm der Postbote in die Werkstätte gebracht.

Mein lieber Fritz!

Ein Jahr ist vorüber, und ich schreibe dir, wie ich dir's versprochen habe. Nun – damit ich's kurz mache, es ist nichts, wirklich nichts mit mir – und wenn du diese Zeiler liest, habe ich meine Heimat bereits lange wieder im Rücken und den Wanderstab in der Hand – der alte Vagabund! Lass dir erzählen!

Ich kam heim auf den Brief von meinen Leuten, der in Salzburg meiner wartete – ein ganz lieber, scharmanter Brief. Sie hatten eine närrische Freude, meine Leute, dass ich endlich einmal ›gut tun‹ wolle, wie sie das hießen.

Nun, ich warf mich – doch halt! – da muss ich dir etwas einschalten, was du gewiss mit Interesse hören wirst: Ich brannte dir vor Eifer heimzukommen, dermaßen, dass ich mich nicht einmal in Linz, dieser gewiss recht sauberen Stadt länger aufhielt, als genügte, um meinen hart mitgenommenen Leichnam etwas zu restaurieren. Es dunkelte bereits, als ich aufbrach, dem Haselgraben zu, indes dacht' ich Leonfelden denn vor Nacht zu erreichen.

Am Ende des passähnlichen Grabens, in dessen Tiefe Schloss Wildberg steht, das einmal einen Kaiser und König Kaiser Wenzel kurz vor dem Jahre 1400. als Gefangenen verwahrte, liegt über die Bergkuppe zerstreut ein großes Dorf, Helmonsöd. – Der Name schlug in mich wie ein Blitz und auf einen Augenblick tauchte, von der Erinnerung geweckt und empor getragen, in meinem Herzen das freundliche Bild unseres Reisegefährten, des Schneiders, auf, dessen Wiege auf diesem Berghange stand.

Doch ich eilte heim – ich kämpfte den Gedanken nieder – überdies hielt mich ein gewisses Etwas – wohl noch von Meran her – ab, den Stephan aufzusuchen. Ich rannte durch das Dorf – doch aus den kleinen Fensterchen schauten mir tausend Span- und Herdfeuer vorwurfsvoll mit hellen Augen nach – und die in der klaren Nachtluft gerade aufsteigenden Rauchsäulen der niederen Schlote erschienen mir wie ebenso viele erhobene Zeigefinger, um mich wie sonst an einen gastlichen Tisch zu weisen, und der würzige Duft der Kienbrände umspielte mich, mir leise zuraunend, halt, Mann, heimelt dich's denn nicht an dahier? – Plötzlich stand ich wie unbewusst in der Türe eines Gehöftes, fragte – und einen Augenblick danach hielten die vor Freude zitternden Hände des Schneiders die meinen und fragten mich seine nassen Augen wehmütig, warum ich damals auf dem Jauffenhause so herzlos von dannen ging!

Und dann zeigte er mich seinen Alten und den Geschwistern als den Mann, der ihn mit seinen schwachen Händen dem grimmen Tode entriss auf dem öden Schneefelde, und sie umhalsten und umjubelten mich alle, bis mir selber das Herz vor Freude aufging und ich sie an Narreteien fast überbot.

Der Stephan ist Meister und ist stark danach aus, bald zu tun wie du – zu heiraten, freien tut er wenigstens ganz gewaltig. Er lässt dich und Weib und Kind vieltausendmal aufs Herzlichste grüßen und – das muss ich dir doch auch noch sagen, den ›schlechten Kerl‹ von Meran her – weißt du noch? – den hat er mir mit bitterlicher Reue abgebeten! – Hattest es nicht not, guter Bursche!

Des anderen Tages früh brach ich auf. Stephan ging mit bis an die Landesgrenze. Das brauche ich dir wohl nicht zu sagen, dass der gute Schneider beim Scheiden tat wie du, er weinte um mich und immer wieder bat er mich, wenn es sich je schicken sollte, dass ich wieder einmal ›fremd‹ werden sollte, sein Haus dann als das meine zu betrachten und mich seines Herzens versichert zu halten, als eines echten Bruderherzens.

Und zwei Jahr' lang hab ich es versucht und weiß jetzt, wie es ist! – Es hat Stunden gegeben, wo es mir ganz hübsch erschien, dies einfache, arbeitsame, philiströse Leben – ja! Wenn es kein Frühjahr gäbe und keinen Zunftzwang und jene tausend Verkehrs- und Erwerbshindernisse nicht, die einen überall beengen!

Kurzum, ich steckte nichts auf, wie man sagt, und als ich das sah, spannte ich aus. Wenn ich diesen Brief gesiegelt habe, ist's aus mit der ganzen Meisterherrlichkeit, und wenn du ihn liest, plätschere ich bereits seit Tagen schon wieder fröhlich in dem etwas trüben, aber munteren Strome der Bummelei herum.

Leb' wohl also, nun du alles weißt, du liebster aller Schwaben, und behalte mich ein wenig lieb! Es kommt mir vor, als dürfte mir dies einmal nottun – verreden soll man nichts! Weißt du noch? Könnt doch einmal nach Brixen kommen!

Adieu, Herzensfritz! Grüße mir deine Judith und mein kleines Patchen, und wie du bemerkst – was Gott gnädig verhüten wolle, dass der Kleine mir irgendwie nachgeraten will, so drehe ihm ohne weiteres den Hals um.

Hecker.

So lautete der Brief, den der Seiler seinem Weibe vorlas – stockend, schluchzend – und die Judith weinte auch mit.

Sie haben lange gewartet, die guten zwei Leute, auf den alten Bummler, und sooft ein trüber, dunkler Tag kam, strich die Judith mit linder Hand über das Fremdenbett und flüsterte: »Heut müsst' ihm der Schlaf wohltun in einem guten, reinen Bette!« und der Seiler schickte den Lehrjungen nach schwarzem Dreikönig, als ob er ausschenken wollte, aber er kam nicht.

So verstrich abermals ein Jahr.

Eines Tages gab es großen Trubel in dem Seilerhause, und gegen Mittag kam der ehrsame Meister Fritz Engel mit einem gewaltigen »Buschen in der Hand angestiegen vor der Schänke Nachbar Sternwirts.

»He, tausend Glück, Nachbar! Weiß schon davon!« schrie der Wirt dem Seiler von Weitem entgegen: »Nun, 's ist wieder ein Büble! Wir machen's halt wie vor'm Jahr mit der Stellvertretung!«

»Ach ne, Nachbar!« erwiderte Fritz mit kläglichem Tone, muss Euch diesmal schon bitten, die ganze Müh' auf Euch allein zu nehmen!«

»Ho, wieso? Was ist denn mit dem verdunnerten Gerber?«

»Ja, wer das wüsste! Verschollen ist er wenigstens seit länger als einem Jahre, wenn er nicht verdorben oder gar gestorben ist!«

»Pah, der? Der ist gar zäh und hält sich schon eine gute Weile oben!«

Der Seiler zuckte traurig mit den Achseln.

Als sie aber nach der Taufhandlung nach althergebrachter Sitte beim funkelnden Terlaner saßen, konnte es der Seiler doch nicht verwinden, er stand auf und trat, einen Pokal in der Hand, auf den Zehen zu dem Bette der Wöchnerin:

»Nippen – nur das kleinste Tröpfle – wirst du doch dürfen, liebste Judith! Ich trinke auf sein Wohl, wo er auch weile, und auf baldig frohes Wiedersehen!«

Judith sah den Gatten, dessen Augen voll Tränen standen, lächelnd an, nippte und flüsterte: »Amen!«

Doch – Jahr um Jahr verflog – er kam nicht. Auch von dem Tischler hörte man nichts mehr. Was wird es auch geworden sein mit den beiden Vagabunden?

»Sie sind gewandert hin und her –
Sie haben gehabt weder Glück noch Stern –
Sie sind gestorben – verdorben!«

 

Ende.

*

 


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