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Sechstes Kapitel.

Ach, wenn's nur schon wiederum Sonntag wär
und ich bei meiner Laurentia wär!

Altes Gesellenlied

 

Man nennt den Sonntag den Tag des Herrn, und es mag diese Benennung im Allgemeinen leicht und genügend motiviert werden können. Bei der arbeitenden Klasse aber, besonders bei dem Handwerksgesellen, als bei Leuten, deren ganze Woche ›des Herrn‹ ist, mit Ausnahme eben nur dieses Tages, gilt die Bezeichnung nimmer. Nicht nur dem ›Herrn‹ schlechtweg, sondern selbst dem lieben Herrgott gegenüber, der gar kein lieber Herrgott wäre, wenn er den einzigen Tag in der Woche, der diesen armen Leuten ohne die Mahnung anbricht, in dem harten Joche der Arbeit zu ziehen, für sich vindizieren wollte.

Und dennoch bleibt diese Benennung bei Recht!

Am Sonntage ist der Arbeiter sein eigener Herr! Nun, wenn die ganze lange Woche hindurch das alte Sprichwort seine Geltung hat, dass ›Herrendienst geht vor Gottesdienst‹, so müsste es keine Logik geben auf den Welt, wenn es sich nicht auf den Sonntag anwenden ließe.

Der Sonntag ist also der Tag des Arbeiters! Der liebe Gott, der ja selber einmal sechs Tage hintereinander hart gearbeitet und geschafft, der weiß, was das heißen will und wird sich trösten darüber.

Dennoch gibt es eine, und zwar eine nicht unerhebliche Spezies von Arbeitern, deren Sonntag, die erste Hälfte desselben wenigsten, weder Ruhe- noch Feiertag genannt zu werden verdient, die Lehrjungen nämlich, deren Sonntagvormittag durch die schnöde Aufgabe entheiligt wird, ›ihre‹ Gesellen in Wichs zu versetzen.

Was wissen die Leute, die Flaneurs von Profession, auf deren breitgetretenen Pfaden des Sonntags plötzlich wie Pilze nach dem Regen absonderliche Gestalten aufschießen, die Stiefel und Hüte blank gewichst, die Röcke glatt gebürstet, dicke Stöcke oder Röhre in den schwieligen Fäusten, glühende Glimmstängel oder qualmende Pfeifen in den bebärteten Mäulern, dralle, geputzte Mädglein am Arme. – Was wissen die, wie viel Lehrjungenköpfe gezaust, geknufft und gebeutelt worden und wie viel Lehrjungentränen geflossen, um sotanes Begegnis zu ermöglichen?

Ihr Sonntag schlägt erst nach dem Mittage, wenn der Meister sich in den stillen Kreis seiner Häuslichkeit zurückgezogen und die Gesellen heute ›auf stolzen Rossen‹ hinausgezogen sind in die Herberge oder zu den Liebsten. Da erst ist es ihnen vergönnt, sich zusammenzutun nach Landsmannschaften, um die Zeit bis zum Nachtmahle mit ›Anmäuerln‹, Ballschlagen und dergleichen auszufüllen oder selbe, durch edlere Instinkte geleitet, bei der dampfenden Pfeife, die ihr Helotentum nur heimlich zu führen erlaubt, zuzubringen, von einer Zeit träumend, wo es auch ihnen freistehen werde, die arg verpönte offen im Maule zu tragen und ihre Rauchwolken souverän der Welt ins Angesicht zu blasen.

Um diese Stunden gehen indes in den Herbergen ›bei offener Lade‹ jene handwerklichen Freigedinge los, die ›Auflagen‹ genannt und allen Nichtwissenden unzugänglich sind.

Unter dem Vorsitze der Altgesellen wird hier Recht und Urteil gesprochen, wogegen es keinen Appell und Rekurs auf Erden gibt, werden Meister und Gesellen, die irgendwie an den Zunftsatzungen gefrevelt, in ›Verschiss‹ getan – geschimpft – und endlich vorkommenfalls an freigewordene Jünglinge die Weihen der ›Gesellschaft‹ des Bundes erteilt, der wie die Freimaurerei verbreitet ist bis an die letzten Marken der zivilisierten Welt.

Der Gerber hatte kaum die unerlässlichen Zeremonien abgetan, die seiner Legitimation als echter Geselle und Bursche voran und nachgingen, als er auch das Penetrale Das Innere eines Hauses oder Tempels, das nicht jedem zugänglich ist. seiner Zunft mit eiligen Schritten verließ, und froh, des eklen, verrosteten Formzwanges los zu sein, seinen fidus Achates Der getreue Gefährte des Äneas. Fritz Engel aufsuchte, der seiner, der Verabredung gemäß, im Schänkzimmer harrte.

Hatte der Gerber sein Möglichstes getan, um seinen äußern Menschen in feiertägliche Verfassung zu setzen – es ging dies nur vermittels verschiedener Wasch-, Färbe- und Bürstgeheimmittel, die seinem Marschrocke, leider seinem einzigen, auf wunderbare Art zu einem ganz respektablen Aussehen verhalfen – so war auch der Seiler nicht zurückgeblieben, was er jedoch auf viel einfachere Art ermöglichte, indem er seinen Leib mit dem ›Feiertagsgewande‹ antrat, das er auf dem Marsche sorgsam in den tiefsten Falten seiner Rolle verhüllt getragen hatte.

Sie sahen ganz schmuck aus, die beiden Burschen, und es blieb dies nicht unbemerkt von den kichernden Mädchengruppen, die zu sonntäglichem Tritschtratsch unter den Lauben zusammengekommen waren, an denen die beiden fremden Gesellen auf dem Wege von der Herberge in die innere Stadt vorüberkamen.

»Wohin gehen wir eigentlich?« fragte der Seiler, der wieder Verschiedenes auf dem Herzen zu haben schien, was er immer durch leises, kurzes Hüsteln und Räuspern zu verraten pflegte.

Der Gerber sah ihn lächelnd an und sagte: »Ich werde dir einen Vorschlag machen, Fritz! Wir gehen in irgendeine stille, heimliche Kneipe, wo du mir ungeniert von deiner stillen, heimlichen Liebe – na, brauchst nicht rot zu werden! – verzählen kannst, soviel du magst. Dann aber, mein Lieber, musst du meiner Passion nachgeben und in ein Kaffeehaus mit, wo eine Zeitung aufliegt, es brennt mir die Seele ordentlich nach Neuigkeiten, deren es in Hülle und Fülle gesetzt haben muss seit der Zeit, wo ich das letzte Blatt las – in Villach, glaub' ich, war's.«

Der Schwabe nickte zufrieden, und sie flanierten schweigend durch einige Gassen, bis sie an ein großes, hohes, klosterähnliches Gebäude kamen, dessen Frontschild sie belehrte, dass sie vor dem Stadtbräuhause ständen.

»Da hinein, Bruder!« rief der Hecker lustig, »hier lasst uns Hütten bauen, den roten Brixner Rachenputzer schlampen wir die Woche über zur Genüge. Beim Bier geht dem Bierländer das Herz am besten auf!« und er schritt, von seinem Instinkte geleitet, quer über den Hof der rechten Stiege zu, die zu dem Gambrinustempel In den Weingegenden Tirols wird Bier nur in den Braustätten und Kaffeehäusern geschenkt. Die Wirte führen bloß Wein. in Brixen führte.

In der Schänkstube wimmelte es von Soldaten, die aus der nahen Franzensveste herübergekommen, und von Bauernburschen der nahen Dörfer, die nach dem Gottesdienste hier eingekehrt waren, um die Aufregung, in die sie die nachmittägige Segenspredigt versetzt, durch einige ›Töpfchen‹ zu dämpfen.

Dies Pandämonium Inbegriff aller übermenschlich gedachten Wesen, besonders der bösen Götter., über dem der Geist der Gemeinheit auf Galgenknaster- und Bierdunstwolken ruhte, ließ der Gerber mit stiller Verachtung liegen und schritt seinem Kameraden in ein daran stoßendes, noch leeres Extrazimmer voran. »Hier sind wir ungestört!«

Sie setzten sich, und nachdem der Kellner beide mit Bier, dem Sorgenbrecher des Nordens, versorgt und sie – »nie ohne Toast!« meinte der Gerber – angestoßen hatten auf gut Glück in der Fremde, da ihm gerade kein anderer Trinkspruch zur Hand war, insinuierte er dem Schwaben, dass er das Wort habe, und dieser nahm es sofort.

Er fing selbstverständlich da zu verzählen an, wo er zunächst in der Herberge abgebrochen hatte. Nur fand er vorerst für gut, nochmals zu erwähnen, wie hübsch und jung und lieb seine Meisterin sei. Dann erging er sich des Breiteren in feurigen Beschreibungen ihrer schönen, weißen Hände und neckischen Schürzen, ihres reichen, braunen Haares und ihrer wunderkleinen, netten Stieferln, wodurch sich der Gerber bewogen fand, sich anerkennend und gnädig über das offenbar tiefe, eifrige Studium und die scharfe Beobachtungsgabe des Schwaben auszusprechen.

Was darauf kam, war jenes unerquickliche Hin- und Herreden, das man ›um den Brei gehen‹ heißt und das der Gerber, der längst wusste, wie viel es geschlagen, endlich aus Langeweile und Mitleid mit dem Seiler durch die trockene Behauptung unterbrach: »Kurz und gut, du bist verliebt!«

Der Seiler sah ihn flehentlich und blutrot im Gesichte an.

»Und denkst du, dass sie – dass sie dich mag?«

»Ja, wenn ich das wüsst'!« seufzte der Schwabe.

»Na – du bist ein hübscher Bursch, ein guter Arbeiter, denke ich, ein goldtreues Herz, weiß ich. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn deine Witfrau nicht herumzukriegen wäre!« tröstete Hecker, »aber seufzen darfst du nicht! Es gibt wohl Weiber, die sich am liebsten was vorjammern und vorseufzen lassen, aber von denen ist deine Meisterin nicht, das kann ich mir denken. Denn daran hat es dein trauriger Landsmann, der Ansbacher, sicher nicht fehlen lassen. Die wird von einer anderen Sorte sein! Hier in Tirol geht es überhaupt praktisch zu, mein lieber Fritz, und Sentimentalität ist hier 'ne faule Ware. Die Tirolerin denkt: Was man gern möchte, daran wagt man wohl einen kecken Griff! Und sie hat recht, mein' ich! – Weißt du was? Ich werde dich am Abend heimbegleiten und mir die Witfrau anschauen, dann – dann trau' ich mich, dir aufs Haar zu sagen, ob sie dich mag. So was sieht ein unbefangenes Aug' auf den ersten Blick!«

Der Seiler schloss die Augen vor Seligkeit und schnappte nach Atem. Wenn sich ihm ein König als Brautwerber angetragen hätte, so wäre er minder in Zuversicht gewesen, als da sein Orakel versprochen, ihm aufs Haar zu sagen, ›ob sie ihn mag‹! – Und schon abends sollte er es erfahren! – Wahr wird es sein, und fest wird es stehen, was der Hecker sagen wird, der trügt sich nicht, dachte er sich, aber wenn er nein sagt, Gott! Das wäre mein Todesurteil! Und seine Phantasie begab sich sofort daran, einen Hanfstrang zu drehen, der in diesem Falle seinem Leben ein Ende machen sollte.

»Na, spekuliere dich nicht zu Tod' und trink, jetzt kommt die Reihe an mich!« sagte der Hecker und leerte sein Glas. Was wusste er, dass in diesem Augenblicke beschlossen wurde, es von seinem Ausspruche am Abend abhängig zu machen, ob die Welt noch ferner mit Stricken in Verbindung stehen solle, gesponnen von der kunstgeübten Hand des Seilergesellen und Werkführers Friedrich Ernst Engel aus Schwäbisch Hall am Kocher?

Sie gingen – der Gerber, zu erfahren, wie weit es die Welt draußen herum indes gebracht im Revoltieren, Parlamentieren, Pazifizieren und anderen Irren und Wirren, der Seiler, um an seinem Stricke weiter zu spinnen.

Je länger es dauerte, desto gewisser ward es ihm, dass ihn die Witfrau nimmer mögen könne und er bestimmt sei, endlich selbst in eine der Schlingen zu fallen, die er bisher für andere gedreht.

»Du, ist denn der Tischler nicht zu dir gekommen? Bei mir war er nicht!« fragte der Gerber im Gehen.

Fritz unterbrach schaudernd die Vorbereitungen zu seinem Selbstmorde und sah auf: »Ja, er war bei mir, mitsamt dem Schneider«, antwortete er, »sie getrauten sich nicht zu dir. Der Tischler meinte, in den Gerberwerkstätten stinke es sehr, und dann seien die Gesellen von den ›geschenkten‹ Handwerken so ›brotal‹!«

»Hm! Aber 's Geld hat er doch genommen?«

»Das glaub' ich! Als ich ihm sagte, dass wir ihm unser erfochtenes Vermögen überlassen wollen, weil wir Arbeit hätten und es entbehren können, da machte er ein Gesicht, als ob er fast weinen wollte.«

»Und der Schneider?«

»Ei, der brauchte es nicht. Er hat einen Verschreibbrief hier liegen gefunden auf seiner Herberge, nach Klausen, zwei Stund von hier auf der Bozener Straße, mit dem ging er in Arbeit.«

»So ist der Tischler wieder allein! Wo ging er denn hin? Sagt' er dir was?«

»Er sagte, dass er mit dem Gelde einen Weg machen wolle, den er schon lange gern gemacht hätte, übers Gebirge und durchs Wippachtal nach Triest.«

»Nach Triest? Da kommt der arme Teufel ans Meer!«

Sie standen vor einer Taverne, über deren Eingange ein holzgeschnitzter Mohr, eine blanke Kaffeekanne und ditto Schale in Händen, an einem kurzen Kettchen schmählich aufgehangen, hin und her baumelte.

»Halloh! Hier wird Kaffe geschenkt!« rief der Gerber anhaltend, »lass uns schauen, ob's auch eine andere Nahrung und Erquickung für mich da drinnen gibt, so ein Gericht »Augsburger Allgemeine« oder ein »Wiener Blatt« – er klinkte rasch auf, und sie traten ein.

Das Lokal war nicht groß, aber ungewöhnlich sauber eingerichtet und appetitlich, was man sagt.

Kleine, schmale Tischchen für je zwei Personen standen an den Wänden, deren polierte Huthakenrahmen fast sämtlich mit Zeitungen in feinen Reisstrohblättern behängt waren. Im Hintergrunde des länglichen Zimmers stand das Büfett, hinter dessen mit blanken Gläsern und funkelnden Rumkaraffinen besetzter Platte eine Frau, in einem Buche lesend, saß.

»Heureka!« Ich hab's gefunden. schrie der alte Student fröhlich auf, als sein Blick auf die Menge Zeitungen an der Wand fiel, deren Blätter, von dem Luftzuge der geöffneten Türe bewegt, wie um ihn zu grüßen, aufflatterten. »Hurrah, Fritz, das wird ein Fressen werden! Da bringen mich nicht alle Ochsen, die im Pustertale im Joche ziehen, vor zwei geschlagenen Stunden vom Fleck – Holla! Zwei Schwarze!« rief er, sich die Hände reibend, hing seinen Hut auf und griff nach dem ihm zunächst hängenden Journale.

›Innsbrucker Zeitung‹ leuchtete es ihm in großen, fetten Lettern entgegen.

»Donner und Doria! – die Innsbruckerin!?« rief er verwundert auf. »Fritz, wenn Neustift das achte Weltwunder ist, so ist es diese Boutique das neunte! – Die Innsbruckerin, das heidnische, mit Anathema, Interdikt, Exkommunikation und wie sie alle heißen mögen, die – Dinger, belegte, nichtsnutzige Blatt in Brixen, der Stadt plus catholique que le pâpe – bei helllichtem Tage, einem Sonntage obendrein, aufliegend – nein, das geht über alles! Die Leute muss ich kennen lernen, die das wagen.«

»Zweimal schwarz!« erklang eine tieftönende, weiche Frauenstimme neben ihm. Er wandte sich um und sah die Frau, die lesend hinter dem Büfett gesessen, mit dem glühenden Mokkatranke vor sich stehen.

Sie sah leicht errötend auf zu ihm, ehe sie die Gläser niedersetzte, und sprach lächelnd: »Sie wollen die Leute kennen lernen, die es wagen, in Brixen die ›Innsbruckerin zu halten? Nun, ich bin die Tochter –«

Der Seiler traute seinen Augen kaum. Er sah seinen ›Baal‹ erbleichen, erzittern, wanken, sah die Zeitung seinen Händen entgleiten und ihn langsam, die Augen starr an dem Mädchen hängend, das längst wieder hinter den roten Draperien saß, auf seinen Stuhl niedersinken.

»Hecker, was hast denn?« fragte der Schwabe besorgt.

Der Gerber antwortete nicht. Er atmete tief auf, dann ergriff er das volle Wasserglas, das vor ihm stand und leerte es auf einen Zug.

Fritz sah darein wie ein Narr. Hatte ihn schon der Gallimathias, den ihm sein Freund über die »Innsbrucker Zeitung« vorgeschwatzt, verwundert und verwirrt, so tat dies dessen nunmehriges Gebärden noch mehr.

Hecker hob nämlich rasch die Zeitung auf und vertiefte sich in ihre Spalten, ohne von ihm weiter Notiz zu nehmen. Dabei trank er den Kaffee, ohne ihn gesüßt zu haben, bis auf den letzten, bitteren Tropfen rasch hintereinander aus. Hätte er sich erinnert, dass auch er, als er zum ersten Male seiner Witfrau bei Tische gegenübersaß, die Suppe mit der Gabel zu essen versuchte, so hätte er leichtlich einen Schlüssel zu dem sonderbaren Beginnen seines Kameraden gefunden. Doch auf so gemeinen Wegen glaube er dem großen Geiste Heckers nimmer zu begegnen. Er verlor sich in ein Labyrinth von abenteuerlichen Vermutungen, unter denen ihm die wahrscheinlichste schien, die Jungfer habe ein sogenannt böses Auge und habe den armen Hecker damit getroffen und bezaubert.

»Mein Gottele! 's ist richtig so!« rief er mit gepresster Stimme vor sich hin, als er den Gerber, der bislang von der ersten Seite der Zeitung nicht aufgeblickt hatte, die er schon hundertmal durchgelesen haben könnte, plötzlich den Kopf erheben sah und flüstern hörte: »Sie ist das schönste Weib der Erde!«

Der dumpfe, hohle Ton, mit dem der Gerber dies sagte, der stiere, glühende Blick, den er dabei nach dem Büfett hinschoss, die Abwesenheit jeder Gefühlsäußerung für ihn, kurz die ganze plötzliche Verkehrtheit des Wesens seines Freundes bestärkten den Schwaben in seiner vorgefassten Meinung. Wie Perlen an einem geschwungenen Faden, reihte sich Erinnerung an Erinnerung an in seinem Geiste, und er hätte schwören mögen, dass seine Großmutter selig so und nicht anders die Wirkungen des ›bösen Auges‹ beschrieben. Anhebend mit der Liebesklage des Mundes, begehrend mit dem Blitze des Auges und endend mit dem Verglühen des verschmähten, verbrannten Herzens. »Gewiss ist's – die Jungfer hat ihm's angetan!«

Die ›Jungfer‹, die gar kein Mädchen hätte sein müssen, wenn sie den Eindruck, den sie auf den Fremden gemacht, nicht auf den ersten Blick gewahrt hätte, saß indes, kurze Unterbrechungen abgerechnet, die das Kommen und Gehen der Taverngäste bedingten, immer still und lesend unter den befranzten, roten Vorhängen des Büffets.

Was sie wohl las und ob sie mit mehr Nutzen und Aufmerksamkeit las als –?

Der Gerber schien dies erfahren zu wollen. Er stand rasch auf, schritt auf das Büfett zu, und im Augenblicke darauf sah ihn der Seiler im flüsternden Gespräche mit der Tochter des Cafetiers begriffen.

Er fühlte sich recht unglücklich, der arme Schwabe! Es schien ihm, als wäre sein Herz zerspalten in liebende Angst um den Hecker, der so sorglos und blind seinem Verderben entgegenrenne, und in Eifersucht, in wahrhaftige Eifersucht, dass jener dies tun und sich so plötzlich und gänzlich von ihm abwenden könne.

Er sah betrübt und kummervoll nach den beiden hin.

Das musste er sich gestehen, schön war das Mädchen, so schön, dass er sich nicht einmal einen Vergleich zwischen ihm und seiner Judith anzustellen getraute. – Und doch war seine Liebe erst fünf Tage alt oder jung, also noch überschwänglich genug!

Das Mädchen war von mittlerer Größe und wunderbar feinem, schlankem Wuchse. Die Büste edel und voll geformt und darüber ein Hals – schneeweiß und schlank – und darüber ein Kinn – ein Nest voll Liebesgötter – und darüber ein Mund – eine aufgebrochene Pfirsichblüte – und darüber ein Näschen – fein und lang – und darüber ein paar Augen – ach, ein Paar ›böser Augen‹ – und darüber – o weh, armer Hecker – eine Fülle glänzender, duftender, weicher, goldbrauner Locken…

Der Gerber kam an den Tisch zurück.

Er bemühte sich, gleichgültig auszusehen, aber das gelang ihm schlecht, nicht einmal bei dem Seiler, der gar wohl bemerkte, wie feurig sein Auge schaute, wie klar seine sonst gefurchte Stirne, wie glänzend sein sonst trüb aussehendes, bärtiges Gesicht war. »Nun, gehen wir, Fritz?« fragte er leicht.

»Schon? Es ist ja kaum fünf Uhr, und du hast ja noch so gut wie nichts gelesen!«

Der Gerber lächelte und setzte sich wieder zu seinem Freunde nieder: »Doch – doch!« sagte er leise. »Ich habe gelesen, und zwar in einem Buche, wie es kein Dichter der Erde noch erahnt und wie es nur Gott, der Herr, allein zu schreiben versteht, in dem schönsten Antlitze, in den schönsten Augen, in dem schönsten Herzen!«

Der Seiler stöhnte vor Angst und Entsetzen. Er sah nicht auf, als diese Worte, heiß und rasch wie der siedende Quellenstrahl aus glühendem Erdenschacht hervorgestoßen, aus dem berückten Herzen Heckers an seinem Ohre vorüberrauschten. Er sah nicht auf und nicht hin nach dem Mädchen, er fühlte den zauberischen Strahl dessen böser Augen sengend an sich vorüberfahren. Er vertiefte sich abermal in dem Chaos seiner Jugenderinnerungen – es kam ihm vor und fiel ihm nicht anders ein, als dass seine Großmutter jedes Mal die Sage vom ›bösen Auge‹ mit einem traurigen ›Und das war sein Tod!‹ beschlossen habe.

Las sein Kamerad in seinen Gedanken, oder hatte er es ausgesprochen, was er gedacht? – Der Gerber sah ihn erstaunt an, stand plötzlich auf, zahlte und entfernte sich rasch, als ob der Boden unter seinen Füßen brennte. – Er schaute sich nicht um, als ihm ein freundliches ›Bald wiederkommen‹ aus dem Grunde des Zimmers zur Türe hin nacherklang, er ließ die Türe für den Seiler offen und diesen lange nachtrotten, ehe er stehen blieb.

Der Schwabe erwartete nichts anderes, als dass sein verhexter Kamerad sofort über ihn herfallen und ihn ›der Erde gleich machen‹ werde, doch der tat nichts dergleichen. Er blickte ihn ernst und fast traurig an und sprach: »Was hast du damit gemeint, als du vor dich hinflüstertest: ›Und das war sein Tod?‹«

»Sag' es nur heraus! Ich kann mir's fast denken –«

Der Seiler berichtete, wie ihm gleich im Anfange, als die Jungfer kam und der Hecker so konfus geworden, eine schlimme Ahnung überkommen und er sich nicht erwehren gekonnt habe, in Furcht zu geraten um ihn wie ihm im Augenblicke die alten Fabeln seiner Großmutter selig eingefallen, von den schönen, gefährlichen Weibern eines südlichen Landes – das könne leicht Tirol sein, da sogleich dahinter das Meer liege –, von denen die Sage geht, dass der, den sie einmal angeschaut mit dem bösen Auge, nie und nimmer wieder des heißen Blickes vergessen könne, der ihm das Herz versengt – und verbrennt bis zur Asche. – »Es kam mir vor«, schloss er, »als müsse ich dich halten und fortziehen aus dem Bereiche dieser Augen. Ich hasste die Jungfer sogleich, als ob sie dir schon Übles getan hätte und – ach, das tat mir am meisten wehe, dass ich dich vor ihrem Blicke erbeben sah, dich, der, wie ich glaubte, durch alle Not und Pein der Welt ruhig und ohne zu erzittern hinschreiten würde!«

»Das hast du geglaubt, mein guter Bursch, und warum?«

»Ich – weiß es nicht, es kam mir vor, als müsse es so sein!«

Der Gerber sagte lange nichts darauf und ging schweigend neben dem beängstigten Schwaben dahin. Dann ergriff er plötzlich dessen Arm und sprach ernst, aber förmlich: »Du hättest immer also glauben sollen, mein Fritz! Denn ich bin ein schwacher, schlechter Mensch – gleichwohl hätte ich dir gesagt, dass du dich bitterlich täuschest, wenn du mich für recht und gut hältst, sobald du mich darum befragt hättest. Dennoch – wenn du recht gehabt hättest – hättest du darum den Glauben an mich nicht verlieren sollen, weil du mich erbeben sahst vor dem schönsten Weibe, das je mein Auge erschaut. Dass ich erzitterte, als es zu mir trat, erfüllt mich mit unnennbarer Freude, und ich möchte es hinaus jubeln in alle Welt, dass ich noch ein Herz habe, dass es nicht verdorrt und erstorben ist, wie ich meinte, dass es noch in heißen Wellen aufzuwogen vermag, wenn es der Sonnenstrahl reiner Schönheit erwärmend trifft. – Doch lass uns hinaus ins Freie, die Häuser, die Menschen beengen mich und – ich habe dir noch vieles zu sagen!«

Obwohl sich der Seiler sagen musste, dass er die Eröffnungen seines Freundes etwas klarer und viel niedriger stilisiert wünschenswert fände, stand er doch keinen Augenblick an, sich bereit zu einem Spaziergange ›draußen‹ finden zu lassen.

Es ist nirgend weit hinaus in einer kleinen Stadt wie Brixen.

Sie standen bald auf freiem Wiesenplane, weitum allein, und der Gerber hob an: »Aus dem wenigen, was ich euch droben im Drautale von mir mitgeteilt, magst du entnommen haben, dass ich ein leichtsinniger, unsteter Mensch bin, ein echter Vagabund, und ich fürchte, ein unverbesserlicher. Was es ist, das mich dazu macht, das mich treibt, ohne Ruh und Rast, fort und hinaus, ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, dass es stärker und gewaltiger ist als Heimat, Glück, Liebe, und wie immer die Klammern alle heißen mögen, die Herzen an Herzen und Menschen an die Scholle festhalten. – Ich weiß es noch – ich denke manchmal schaudernd dran – wie ich als Knabe das Vaterhaus freudig verließ, wieder kam ohne Reue und es wieder verließ ohne Schmerz, wie ich als Jüngling von der Liebsten ging, leichten und fröhlichen Herzens, ach, sie war fast so schön wie jenes Weib, wie ich als Mann von guten, treuen Freunden schied, ganz vergnügt, als fände man sie wie die Kiesel an der Straße! Sie hatten mich alle und überall gern, überall streckten sich mir liebende Arme sehnend, überall schauten mir tränende Augen traurig nach – ich tat, was ich nicht lassen konnte, ich ging. Und wenn sie heute alle hier zur Stelle wären, die mein in Liebe gedenken, und bäten mich, komm zu uns, bleib bei uns – ich ginge nicht! Ich könnte nicht und möchte nicht!«

Der Seiler stieß einen leisen Schrei des Erstaunens und – des Grauens aus.

»Sie sagten, ich weiß es«, fuhr der Gerber fort, »dass ich kein Herz habe! – Warum? Es ist nur kein so weiches, hausbackenes, wie man sie gewöhnlich trifft unter Leuten meines Standes. Ich habe schon ein Herz – ich fühle es nur zu oft in einsamen, trüben Stunden, wo es mir zerspringen zu wollen scheint vor – nein, vor Reue nicht – vor mitleidigem Schmerze um die Armen, die in Liebe stehen zu mir. Ich habe dies schon oft und anhaltend empfunden, habe versucht, mich irgendwo anzuklammern, festzuhalten, festzusetzen – umsonst! Wenn der Ruf, zu ziehen, in mir erklingt, muss ich, und säße ich dem Glücke im Schoße und läg' ich im weichen Arme der Liebe – muss ich mich losreißen und – auf und davon.«

Er hielt eine Weile inne, dann sprach er leiser weiter:

»Und dennoch wäre es möglich, dass – wenn – wie nie in meinem Leben, trat heute die Versuchung an mich, die Versuchung, zu wünschen, dass die Schwingkraft des Zugvogels endlich erlahme und er sich niederlasse zu Rast und Ruh' – zu wünschen, dass die Liebe, die sonst wie ein Fluch ihn verfolgte auf seinem Fluge, ihn auch hier mit offenen Armen empfinge – wenn ich wüsste – gleichviel, ich will es versuchen – zum letzen Male!«

Er schwieg. Der Seiler wusste auf diese Erklärung nichts zu sagen. Sie war rasch und wild an ihm vorübergeklungen und verrauscht wie ein wildes Traumgesicht. Nur das eine wusste er, dass der Gerber mit seiner Erzählung sich keinen Stein im Brette bei ihm gewonnen habe, obwohl er sich trotzdem gestehen musste, dass auch er, wenn es einmal ans Scheiden kommen sollte, mit Trauer und Kummer von dem seltsamen Menschen lassen werde, den ihm das Schicksal zugesellt. – Sie lenkten wie in schweigender Verabredung wieder der Stadt und der Wohnung des Seilers zu.

»Nun, so lass mich deine Herzliebste sehen!« sprach der Gerber endlich, wieder so fröhlich und ungezwungen wie beim Ausgange, als sie vor dem Hause der Seilermeisterin standen, »die meine kennst du also, und zwar so lange als ich selber!«

»Ja – so liebst du sie wirklich, Hecker!«

»Nun – pah, zum Lieben gehören zwei, sagt das Sprichwort, frage mich in vier Wochen wieder!«

Der Seiler lachte. Vor der Zimmertüre machte er noch einen kurzen Halt und rannte seinem Freunde zu: »Halt nur die Augen offen, Hecker, und pass mir auf!«

Der Gerber nickte freundlich, und sie traten ein.

Die Witwe war eine kurze, hübsche, dralle Gestalt, mit einem feinen Gesichte von jenem intelligenten Schnitte, der die Tirolerinnen jenseits des Brenners auszeichnet.

Der Gerber stand, nachdem er sie gesehen, keinen Augenblick mehr an, die Verzweiflung des Ansbachers wie die Verliebtheit seines Schwaben ganz begreiflich zu finden, und er bestrebte sich, diese seine Ansicht dem Seiler auf eine verblümte Art durch eine zustimmende Verbeugung kundzugeben, die ein tiefes Kompliment für seinen Geschmack enthielt.

Die Witwe war freundlich, der Gerber sprach wie ein Buch, der Schwabe war selig.

Die Witwe brachte Wein und kalte Küche, der Gerber nahm die Kollation mit der Artigkeit und der Miene eines gewiegten Weltmannes auf, der Schwabe war glückselig.

Und als der Gerber endlich aufbrach und die Witwe ihn freundlich einlud, ›den Fritz‹ bald wieder heimzusuchen und ihm bis zur Stiege das Geleit gab, war der Schwabe überselig.

Und erst, als der Hecker ihn beim Kopfe nahm und ihm in das Ohr flüsterte: »Ich will hängen, wenn die nicht geschossen ist in dich, und wie!«

»Ach, Hecker! Meinst du?«

»Narr, das sieht doch ein Blinder! Aber halt dich dazu, spiele getrost den Holofernes, bei dieser Judith riskierst du nichts! – Apropos, weißt du, wie – die meine heißt?«

»Ne, wie könnt' ich das wissen?«

»Sybille!« rief der Gerber, warf dem Namen eine schnalzende Kusshand nach in die Luft und schloss von dannen, das alte Lieb summend:

»Ach, wenn nur schon wiederum Sonntag wär
Und ich mit meiner Laurentia wär« – –


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