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Drittes Kapitel

Und bist du nicht gewandert,
so hast du nichts pausiert,
und hast du nicht gefochten,
so hast du nichts probiert.

Gesellenlied

 

»Kannst du singen, Kamerad – ja Teufel, ich weiß ja deinen Namen noch nicht!«

Also begann der Gerber das Gespräch, als er mit seinem Gefährten eine gute Weile in Schweigen vorwärts geschritten war.

»Friedrich Ernst Engel ist mein Nam'!« antwortete der Schwabe, ihn freundlich ansehend.

Der Gerber gab ihm den Blick voll zurück und fragte: »Ist's dir alleine, wie ich dich fernerhin heiße, Friedrich oder Ernst oder Engel? – verflucht hübsche Namen die beiden Jungen!«

»Wie du willst, mir ist's gleich!« meinte der Seiler, »hast du vielleicht kein' hübschen Nam'?«

»Hm, passiert!«

»Nu, so sag 'n doch!«

»Hecker heißen sie mich!«

»Heißen sie dich? – dann ist das wohl nicht dein rechter Nam'?«

Der Gerber blieb, überrascht über diese feine Distinktion Distinktion = Unterscheidung des Schwaben, stehen und murmelte: »Ei, ei! Der Bursch' ist nicht so dumm, als er aussieht!« Dann ließ er sich zu folgender Erklärung herbei: »Ich heiße eigentlich nicht so; aber in unserem Handwerke, wo man einander nur bei dem Taufnamen nennt, ist's, wenn dieser ein gewöhnlicher, häufig vorkommender ist, gebräuchlich, dafür irgendeinen Spitznamen anzuwenden. Da nun meine ›Alten‹ die Unvorsichtigkeit begingen, mir einen Namen zu geben, der gewöhnlich ist, wie das liebe, tägliche Brot, so musst' ich mir den Spitznamen anhängen und gefallen lassen; bin auch nur unter diesem im Handwerke bekannt und zu erfragen!«

»Hecker! – Hecker! Der Nam' ist mir bekannt!« sinnierte der Seiler.

»Glaub's wohl, mein lieber Fritz – so nenn' ich dich fortan, wenn dir's recht ist, so dünkt mir's am kürzesten und geläufigsten – glaub's wohl, dass der Name dir bekannt ist; für seinen Träger Friedrich Hecker (1811-1881), radikaler badensischer Abgeordneter und Freiheitsführer in den Kämpfen des Jahres 1848, wanderte nach der Niederwerfung der Revolution nach Amerika aus. ragen in der Nähe deiner Heimat heute noch wohl in tausend Herzen ebenso viele Götzentempel auf, als andere tausend seinethalben aus frischen, offenen Wunden bluten und ihn –« – Er brach plötzlich ab und fiel aus dem hohen Tone – nicht zum ersten Male bemerkte der Seiler hier, wie oft seinen Kameraden der Student ›ins Genick schlage‹ – plötzlich in den derben Volkston herab, den er übrigens vollkommen in der Macht hatte: »Er hat sie in der Tinte gelassen, die guten Schafe, die ihm nachgeblökt und nachgerannt, ist durchgebrannt und hat, wie man hört, den Weg nach Amerika, der Zuflucht der Sünder, genommen. Dort kann er sich eine Republik kaufen, wenn er's Geld dazu hat, dort verfertigen sie alle Jahr ein paar und halten sie feil wie bei uns die Lebzelten!«

Fritz sah den Gerber scheu von der Seite an; nicht im Misstrauen, aber im Zwiespalte mit sich, in welcher der beiden Formen, in denen sich ihm der Hecker heute gegeben, er ihn eigentlich wünschens- und bewunderungswerter fände; und das Ergebnis seines Erwägens schien kein Ganzes zu sein, denn er sagte leise: »Man weiß nicht, wie man mit dir daran ist!«

Der Gerber schien zu wissen, was Fritz damit meinte; er sagte: »Hm, mein Lieber, mach' dir nichts daraus! Es geht mir selbst häufig nicht anders mit mir!« So lachend er dies sagte, so ernst, fast melancholisch klang es; doch in demselben Momente erhob er auch schon seine Stimme wieder voll und laut zu der Frage: »Doch he, Fritz, was ist's also mit dem Singen? Kannst du was?«

»I nu, singen und singen ist zweierlei! Kann wohl manch Liedele – eins ha'n ich gar so gern!« gab der Seiler, stockend und verschämt wie ein Mädchen, zur Antwort.

»Ei? So lass es los, das Liedele, das du gar so gern hast! Ist's ein schwäbisches?«

»Nu freilich! Hör – aber bitt' dich, lach' mich nicht aus, Hecker!«

Der verwehrte sich, seinen Schritt mäßigend, feierlichst vor solch freventlichem Verrat an so junger Freundschaft, und Friedrich Ernst Engel, Seilergeselle aus Schwäbisch Hall am Kocher, begann sein ›Liedele‹, das er bislang nur schweigsamen Hechelkämmen und verrütteten Flachsschnalzen Verwirrten Garnbündeln: an der Garnhaspel ertönt nach einer bestimmten Zahl von Umdrehungen ein Schnalzen, daher Schnalz eine bestimmte Garn- oder Flachsmenge. anvertraut, zum ersten Male vor einem menschlichen Publikum – und was für einem! – hören zu lassen. Er sang lustig und frisch:

»O Tannebaum, du edles Reis!
Bist Sommer und Winter grün.
So ist auch meine Liebe,
die grünet immerhin!«

»Hoho, du Sapperments-Schwab, das ist ja vom Uhland?«

»Einem Schwaben – dem besten!« meinte der Seiler stolz und wechselte den Schritt, um mit seinem Gefährten gleichen Gang und Takt zu halten, worauf er leiser, als gelte es, ein verschämtes Geheimnis zu offenbaren, anhob:

»O Tannebaum, doch kannst du nie
in Farben freudig blühn.
So ist auch meine Liebe –
ach, ewig dunkelgrün!«

Ob in diesem Talgaue je eine so spagatdünne, schüchterne, leise, aber dennoch und trotz alledem melodische, treuherzig rührende Stimme erklungen, wer könnte das wissen?

›Die Steine sagten nichts – die Bäume blieben stumm‹ – der Hecker aber schlug die Hände Beifall klatschend in einander, und als er dies nicht mehr tat, verwendete er sie dazu, den vor freudiger Scham blutroten Seiler zu erfassen, zu umschlingen, an sein Herz zu ziehen und auszurufen: »Schönen Dank, herzliebster Fritz! Na, hast du mir eine Freude gemacht mit deinem Singen! Du musst nämlich wissen, dass ich wie weiland König Saul des Sangestrostes bedarf in jenen trüben Stunden, wo ich, wie gesagt, selber nicht weiß, wie ich daran bin mit mir. Allein singen mag ich nicht – alles in der weiten Natur singt und klingt im Chore ineinander, es schwirrt keine Mücke durch die Luft, es summt kein Käfer zwischen den Halmen, es zwitschert kein Vogel in den Zweigen, dem sich nicht ein Partner fände, der mit ihm schwirrte, summte und zwitscherte. Nur wenn die Nachtigall anhebt, ihr unbekanntes, tiefes Weh auszuströmen in süßen, klagenden, entzückenden Tönen, da schweigen alle Stimmen ringsum und lassen dem einsamen Schmerze sein Recht und der unerreichten Kunst ihren Triumph!«

»Schlägt ihn schon wieder ins Genick, der alte Student«, dachte sich der Seiler, als Hecker nach dieser Tirade plötzlich abbrach und mit hängendem Kopfe neben ihm einherschritt; doch er unterbrach sein schweigendes Sinnen nicht und verlor sich selber in ein solches, des Zweckes, sich aus den wenigen, aber mannigfachen Zügen, mit denen der für den gut erzogenen, aber einfachen Burschen hoch interessante Gerber sich teils selbst gezeichnet, teils verraten, halbwegs ein Bild zusammensetzen.

Damit war er bei den ersten Worten desselben in der Frühe im Reinen gewesen, dass dies einer der ungewöhnlichsten, jedenfalls seltsamsten Burschen sei, die je ein Ränzel durch den Staub der Heerstraße getragen, und dass er durch Wissen und Erfahrung – auf andern Kampfplätzen des Lebens gesammelt, als dies bei Gesellen gewöhnlichen Schlages geschieht – alle hoch überrage, die ihm bislang auf seinem Wege aufgestoßen, der doch durch das Herz Deutschlands und seiner ›bürgerlichen‹ Intelligenz gegangen. Was er sich aber nicht zu erklären und zusammenzureimen wusste, was ihm wohlig zugleich und seltsam lastend das Herz befing, das war der eigentümliche magnetische Drang, mit dem es ihn vom ersten Worte an zu diesem Manne hinzog, mit rätselhafter, aber unwiderstehlicher Gewalt. Und nicht Zuneigung konnte er es nennen, dieses unerklärbare Gefühl, obwohl es ebenso plötzlich gezündet in ihm und emporgeschossen, wie jene schon zu öftern Malen in seinem jungen Leben; es war mehr, und er fühlte, dass es ihn mit einer drängenden Macht ergriffen, gegen die er vergeblich ankämpfe und die ihm das Herz aus der Brust reiße, um es auf seine Lippen zu legen und dem fremden Manne mit der schüchternen Bitte anzutragen: da, nimm mich und tu mit mir nach Gefallen – ich bin dein Eigen!

Sprach er es laut aus, was er dachte, oder verrieten es seine leuchtenden Augen, die wie gebannt an den ernsten Zügen seines Gefährten hafteten, was in und mit seinem Herzen vorging? – Der Gerber antwortete ihm darauf.

»Bewahre Gott davor, mein lieber Fritz, dich und mich«, sprach er leise, mit bewegter Stimme und sah zur Seite; »lass das – es wäre vom Übel für uns beide. Lass uns beide in Frieden und Freundschaft miteinander wandern, solange es geht – Unseliges Geschenk« – seine Stimmer verlor sich in einem tiefen, bangen Seufzer.

Der arme Schwabe schritt unendlich betroffen neben ihm her, unvermögend, ein Wort zu sagen; so sehr hatte ihn diese unerwartete Unterbrechung seines Gedankenganges überrascht, und zugleich mit dem Respekte vor seinem seltsamen Kameraden wuchs auch sein Bedauern, sich von ihm verschmäht zu sehen.

Nach einer langen, stummen Pause, nur unterbrochen von dem Geflüster der Maulbeerbäume an dem Wege und dem Getöse der Draukatarakte in der Tiefe des Felsenbettes, nahm der Gerber das Gespräch wieder auf: »Du sangst den zweiten Vers des Tannebaumliedes so – so auf ganz eigene Art. Hast wohl ein Schätzel daheim in Hall, nicht?«

»Gehatt, Hecker – gehatt ha'n ich eins!« –

Dieser fragte nicht weiter, und sie schritten wieder schweigend dahin, bis die Rauchfänge des ersten Dorfes wirtlich dampfend vor ihnen aufstiegen.

»Hallo, Fritz, da kochen sie für uns – der Mittag kommt!« rief der Gerber, mit dem Stocke nach den Schornsteinen der Verheißung zeigend, und warf seine Rolle und sich hinterher abermals ins Gras nieder. »Setz dich, hier warten wir, bis das Glöckel zum Essen oder, wie manche meinen, zum Mittaggebet läutet, und dann auch noch eine Weile, denn die Leute lieben es nicht, wenn man sie bei Tische überfällt, weil sie da noch nicht wissen, was ihnen übrig bleibt für unsereinen. Derweil will ich dich in der Kürze soweit instruieren in der edlen Kunst des Fechtens, als es nötig ist, damit du dich nicht wie ein Schulbube benimmst und mir Schande machst!«

Der Seiler tat, wie ihm geboten war, und tat nebstbei Herz und Ohren der ihm neuen Lehre auf.

»Fechten, mein Lieber«, begann der Hecker ernst und langsam, »ist eigentlich und wahrhaftig ein Gewerbe und wird ordnungs- und rechtmäßig nur von uns Wanderburschen betrieben. Nur einzelne von uns haben es zur Kunst – zum Raffinement sagt man anderswo – darin gebracht, unter welche ich mich mit Stolz rechne. Es wird von deiner Anstelligkeit und deinem Eifer abhängen, ob ich dich in die tieferen Kunstgeheimnisse einzuweihen haben werde oder nicht. – Dass es ein nur uns zuständiges Gewerbe ist, will ich dir durch ein kleines Beispiel erläutern, welches dir zugleich zeigen soll, dass es durchaus keine Schande ist, es auszuüben, wie manche beschränkte Köpfe, selbst unter uns, annehmen wollen. Siehst du: wenn ein Mensch zu seinem Nachbarn oder Freunde geht und ersucht ihn um eine Gefälligkeit, ein Darlehen oder eine wie immer heißende Hilfe, so benützt er dabei das Recht der Nachbarschaft oder Freundschaft, und keinem Menschen wird es einfallen, dies Recht zu bestreiten. Ginge er aber mit seinem Anliegen von Haus zu Haus, ›klopfen‹, wie wir sagen, zu wildfremden Menschen, so würde er erstens nichts kriegen und zweitens riskieren, über ›unterschiedliche Treppen‹ geschmissen zu werden, was sehr unangenehm sein soll. – Also: der Mensch im Allgemeinen hat bloß die Berechtigung, seinen Freunden und Bekannten lästig zu fallen, im Besonderen der ganzen Menschheit gegenüber, hat man dies Rech nur zwei Klassen von Bedürftigen eingeräumt, uns und dann den Bettlern von Profession. – Wir können unser Sprüchlein bei jeder Türe hineinrufen, die nicht verschlossen ist, und selbst an diese klopfen überall, auf der ganzen weiten Erde, wo ein Hammer klingt, wo ein Hobel zischt, wo ein Spulrad surrt, wo ein Webstuhl webt, wo sich eine Scheibe dreht, wo Pfriem und Nadel stechen – kurz überall, und wo es keinen Pfennig setzt, tröstet uns ein ›Helf Gott!‹, ob's nun der Geiz oder die Armut wünscht, das ist alleins.«

Der Schwabe nickte seinem Professor lächelnd sein Einverständnis mit dieser Introduktion zu, worauf dieser fortfuhr: »So wie jedes Geschäft gut und schlecht betrieben werden kann, geht es auch mit dem Fechten. Der Bursch', der es ohne Rücksicht auf arm und reich, hausaus hausein angeht und an jede Tür klopft – weg mit ihm! Er ist ein miserabler Strolch, schadet dem Handwerk und macht es zur Landplage. Nur arbeitsscheue, nichtsnutzige Vagabunden tun so – ich fürchte, Fritz, unser Tischler ist einer davon – weit hat er nimmer bis dahin! Der echte Bursch' klopft nie an der Türe der Armut die Erinnerung an die eigene Not wach, ebenso wenig er an die stolzen Pforten des Reichtums pocht, an denen in der Regel immer die bittersten Feinde der Armut, schmarotzende, gemeine Lakaienseelen, Wacht halten; dort wie hier müsst er sich um des Pfennigs willen tief in die Seele hinein schämen, während er für den, so ihm freundlich gereicht wird auf der Schwelle des behäbigen Bürgers, des warm sitzenden Bauern, des wohlbestellten Pfarrherrn sein ›Gotteslohn‹ mit geradem Nacken und freiem Herzen sagen kann. Dies, Fritz, sind die – Prologomena hießen wir so was auf dem Gymnasium – des Fechtens. Findest du was Schäbiges daran? Sag!«

Der Seiler antwortete leise und fast gerührt: »Nein, Hecker! Es ist – wie du's explizierst – fast schön!«

Der Gerber lächelte zufrieden über dies Kompliment und sagte: »Wohl ist es schön – nämlich, dass denn doch auf dieser miserablen Erde noch immer die Anweisung honoriert wird, die die Not dem armen Wanderer auf die bleiche Stirne schreibt! – Also jetzt, mein Junge, zu den Einzelheiten des Handwerks, das wir betreiben wollen, ehe dir das Schicksal wieder den Flachsschnalz und den Heuchelkamm und mir das Falzeisen Falzeisen, ein Gerbermesser, dient zum Abschaben des Fleisches von den Häuten. und den Beschneider in die Hand drückt!«

Der Seiler rückte seinem Begleiter näher, und dieser begann die zweite Abteilung seines Lehrvortrages: »Tirol, mein lieber Fritz, ist, was man sagt, nebst Österreich, Salzburg und der Steiermark das beste ›Gäu‹ für uns Wanderburschen. Seltsamerweise – es ist dies kein Kompliment für Geist, Bildung et cetera – sind dies gerade jene Länder, die zum Sprichwort geworden sind weitum als die Residenzen der Simplizität – der Dummheit, damit du's besser verstehst.

Ich könnte nicht sagen, dass ich dies Urteil bestätigen möchte, und bin doch alle diese Provinzen der Kreuz und Quere durchzogen; es müsste denn sein, dass Geist, Bildung et cetera jene Allgemeinheit von Herzensgüte und tätiger Nächstenliebe geradezu ausschlössen, die da gottlob herrscht. Ich habe die Leute in den besagten verschrienen Landen schlicht und recht befunden, einfach nach altpatriarchalischer Vätersitte lebend, Hand und Herz offen – freilich jene ohne Handschuhe und dieses nicht eingeschnürt – ich bin auch auf den Grund dieser heiligen Einfalt und hierdurch zugleich auf den ihrer Verketzerung von auswärts gekommen – es ist ihre Religiosität, und das ist der erste Punkt, den wir ernstlich besprechen müssen; du bist Protestant?«

»Evangelisch!« hauchte der Seiler mit verwundert aufgerissenen Augen; er hätte eher des Himmels Einsturz vermutet, als dass seine Unterweisung im Fechten mit so tiefgehenden Dingen im Zusammenhang stände; dass sie selbe jedoch durchaus bedingte, nahm er mit blindem Glauben an die Autorität des Lehrers an.

Der Gerber schnitt bei dem ›Evangelisch‹ des Seilers eine Grimasse, die jedem andern als dem armen Schwaben verraten hätte, was er von einer Distinktion zwischen evangelisch und protestantisch halte, und fuhr dann ganz ernst wieder fort: »Es würde sehr schwer halten, wenn es nicht geradezu unmöglich ist, dir – dem ›Evangelischen‹ – einen Begriff von der Art beizubringen, in der man hier – Tirol ist erzkatholisch – Gott verehrt, obwohl es an sich Wahnsinn ist, über eine Art der Verehrung dessen zu reden, der nur auf das Herz sieht, das sich in Demut und Einfalt vertrauensvoll zu ihm wendet. Doch könntest du – es dürfte sich leicht heut Nacht schon eine Gelegenheit hierzu bieten – dich etwa versucht fühlen, den hierlandes gebräuchlichen Kultus lächerlich zu finden – dem will ich wehren!«

Hätte der Gerber vor den offenen, hellen Augen des Schwaben Mühlsteine verschluckt oder Feuer gespien, es würde diesen nicht so überrascht und verblüfft haben, als alles, was er stotternd vorzubringen vermochte; ergänzt wurde dieser verwunderte Anlauf zur Genüge von seinen starren Augen und seinem offenen Munde, die, wenn etwas in der Welt gespannte Aufmerksamkeit auszudrücken vermag, dies auf die eklatanteste Art taten.

Der Gerber fuhr ernst fort: »Wer wäre wohl imstande, den Schlaf und das Träumen eines unschuldsvollen Kindes zu unterbrechen und es zu wecken mit dem Rufe: komm, schlafe nicht und höre auf zu träumen – komm lernen! Nicht leicht jemand, denke ich – und dennoch hat es Menschen gegeben, die den Schlaf und Traum dieses kindlichen Volkes zu stören unternahmen – tut es nicht noch jeder Ruf, der von außen höhnend herein klingt in dies arme, einfältige und doch so glückliche Land – sieh zu, Kamerad, und lerne es kennen wie ich, und ich will des Todes sein, wenn du dann noch ein mitleidiges Lächeln hast für diese ehrwürdige Einfalt und wenn du zu sagen wagst: »Tut nicht also – tut wie ich!«

Der Seiler wusste nicht, was er sagen oder beginnen solle; er atmete kaum und harrte mit niedergeschlagenen Augen und bangem Herzen des Verlaufes.

Es schien indes nichts mehr zu kommen: entweder hatte der Gerber nichts mehr zu sagen – aber was zum eigentlichen Fechten gehörte, war ja noch gar nicht vorgekommen – oder hatte ihn der eben verklingende letzte Ton des Dorfglöckleins gemahnt, dass es Zeit zum Aufbruche werde – er nahm sein Wanderbündel um und sagte freundlich: »Komm, Fritz! Eh' wir hineinkommen, ist's nach Tische! Ob du dich wohl getraust, nach dem kurzen Unterricht – auf einmal geht's nicht – bei einem Tiroler Bauer um ›ein Bissel was vom Mittagessen‹ einzusprechen?«

»Will's probieren!« meinte der Seiler; er wusste selber nicht, hatte er in diesem Augenblicke mehr oder weniger Courage hierzu, als er vordem gehabt, ehe er erfuhr, was das Fechten für eine merkwürdig ernste und methodische Kunst sei.

Sie schritten abermals schweigend nebeneinander hin und dem Dorfe zu; in dem Schwaben arbeitete und rumorte es, dass es ihn zersprengen konnte, aber er brachte es nicht über sich, von den tausend Gedanken einen in Worte und zur Sprache zu bringen, die ihn beschäftigten und quälten, seit der Frühe schon, wo ihn das Schicksal dem Gerber zugeführt.

Dieser musste es in den gespannten, nachdenklichen Zügen des Seilers gelesen haben, dass ihn Außerordentliches beschäftigte und drückte; er fragte ihn mit dem Tone eines Fürsten, der einem seiner Untertanen gnädigst verwilligt, eine Bitte vorzubringen: »Willst du was, Fritz?«

»Ja!« – rief dieser erleichtert, und nach einer kurzen Pause, während der er suchend unter der Unmasse von Fragen, die ihm auf dem Herzen lagen, herumgewühlt, sortierte er gerade diejenige heraus, an deren Beantwortung ihm gewiss am allerwenigsten lag: »Warum gaben sie dir gerade den Spitznamen Hecker?«

»Warum?« antwortete der Gerber lächelnd, »weil einer meiner ehemaligen Nebengesellen, der vorigen Jahre unter dem Kommando des großen Mannes stand, an dem glorreichen Tage von Kandern Am 20. April 1848 Gefecht der badischen Freischaren unter Hecker mit den badischen Truppen unter General Gagern, in welchem Gagern fiel., herausgefunden hatte, das ich ihm außerordentlich gleich sehe!«

»Ei – darum?«

»Darum!« –

Eine kleine Viertelstunde darauf debütierte der Seiler zum ersten Male als Fechter.

Er war fast bleich, der arme Junge, und der Angstschweiß stand ihm in hellen Tropfen auf der Stirne, als er in dem ersten großen Bauernhofe des Dorfes den Kopf an dem Pfosten der bescheiden und nur halb geöffneten Türe in die Stube hineinsteckte und mit wehmütiger Stimme flehte: »Zwei arme reisende Handwerksburschen bitten um ein Bissel was vom Mittagessen!«


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