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Siebtes Kapitel

»… die Not ist vergessen, die Lust wirkt nach.
Sie überfällt mich bisweilen, dass ich nur gleich
aufspringen und davonlaufen möchte, über alle
Berge hinaus. – Man ist nicht umsonst Vagabund gewesen.«

Holtei: Die Vagabunden

 

Vier Wochen waren vergangen.

Indes mochte der Tischler schon längst über die Alpen ins Wippachtal niedergestiegen und leicht nach Triest und – ans Meer gekommen sein und der Schneider ein paar Dutzend grün ausgeschlagene Lodenröcke für die Klausner männliche Welt gefertigt haben. Der Gerber war inzwischen ein täglicher Gast in der Taverne geworden, über deren Türe der Mohr mit seiner blanken Kaffeekanne schwankte, und als der Seiler, der bereits seit Langem mit seiner Judith im Reinen war, ihn nach Ablauf des gesetzten Termins abermals fragte: »Nu, liebt sie dich denn?« gab ihm der Hecker ein volles, freudiges Ja zur Antwort.

Von da ab trat eine sonderbare Änderung des herzlichen Verhältnisses zwischen den zwei Gesellen ein, sogar ihre Charaktere schienen vertauscht und verkehrt.

Während der Seiler ernst und fleißig seiner Arbeit nachging und erst selten, dann ganz unsichtbar wurde in den Schänken, Herbergen und Tavernen, auf denen seine Standesgenossen sich gewöhnlich herumtummelten, fing der Gerber, der inzwischen eine stadtbekannte und allgemein beliebte Persönlichkeit geworden war, ein lockeres, wüstes Leben an. Begünstig von der damals durch die Kriege bedingten, herrschenden Gesellennot, fing er bei den Meistern, nicht nur bei dem seinen, sondern bei allen seinen wunderbar schnell gewonnenen Kameraden anderer Gewerbe nach Zugeständnissen zu experimentieren an und brachte es endlich dahin, dass blaue Montag – bisher ein in Brixen unerhörter Gräuel – endlich da gang und gäbe wurden wie in den Metropolen gewerblicher Industrie.

Wen er nicht zu verführen suchte – oder wagte, das war zur allgemeinen Verwunderung sein bester Freund, der Seiler. Diesen ließ er ruhig und unversucht hecheln und spinnen, dieweil er mit seinen Genossen tief in die Nacht hinein luderte. Er kam auch selten mit ihm zusammen, und wenn es geschah, erschien es verwunderlich, den, der bisher den Starken und Protektor gespielt, scheu und wortkarg vor dem Seiler stehen zu sehen, der indes, seit ihm die Liebe im Herzen eingesessen, zum klaren, ernsten Manne geworden war.

So kamen die Weihnachten heran.

Es war am Heiligen Abend, spät nach dem Essen, als die Glocke an dem Fenster der Witfrau mit raschem, gellendem Geklingel um Einlass rief.

Fritz und die Meisterin saßen schweigend und weit auseinander, sie am Fenster, er beim Ofen, allein im Zimmer. Die Magd war zeitlich zur Mette gegangen. Es schien nicht licht zwischen den beiden zu sein. Sie las ernsten Aussehens in dem abgegriffenen Evangelienbuche, er saß finster und mürrisch da.

Die Witfrau erhob die Augen, als der Glockenton erklang: »Ei, wer kommt denn heut noch zu uns!«

»Das ist der Hecker!« rief Fritz aufspringend mit vollem, freudigem Tone. Er hatte in diesem Momente an ihn gedacht, und es war ihm, als habe jener seinen Ruf vernommen und sei herbeigeeilt. –

Er sprang der Türe zu und über die Treppe hinab.

»Bist du's, Hecker?«

»Ich bin's, Fritz! Magst du eine Weile mit mir gehen?«

»Recht gern, wart', ich hol' mir Rock und Hut!«

Er trat keuchend ins Zimmer und zog sich rasch an.

»Wohin denn noch so spät, Fritz? Ist der Hecker unten?« fragte die Witwe sanft.

»Ja, wir gehen auf eine Stunde miteinander!« erwiderte der Schwabe kurz und ging.

Die Witwe sah ihm traurig nach: »Das wende Gott zum Guten!« flüsterte sie dann und – las weiter.

Die Schänken und Buschen Buschen heißen die Weinbergbesitzer, die nach dem Lesen und im Winter zu schenken befugt sind. (Meßner) waren alle öde und leer, wie es sich geziemt an diesem Heiligen Abende, dem Feste der Erinnerung und stiller Häuslichkeit.

Die Burschen wählten nicht lange und traten in ein Lokal, so leer uns stille, als sie es nur wünschen konnten zu heimlichem Zwiegespräch.

»Wein, starken, weißen!« rief Gerber, sich an einem Tische niederlassend.

Jetzt erst bemerkte der Schwabe, dass sein Kamerad auffallend bleich und aufgeregt sei, seine Haare hingen unordentlich um die hohe, gefurchte Stirne, und sein Bart stand struppig auseinander. Seine Augen glühten in wildem, unheimlichem Feuer – er schien betrunken zu sein!

War es dieser Anblick, oder war es die eigene Not – der Seiler fühlte plötzlich alles versinken, was ihn bisher von seinem Freunde ferngehalten, und die alte Liebe zu ihm sieghaft wieder auftauchen in seinem Herzen. Er ergriff die kalten, feuchten Hände des Gerbers und fragte mit dem Tone liebender, inniger Besorgnis: »Was ist dir, Hecker? Red', ist dir was zugestoßen?«

Der sah ihn starr und kalt an und antwortete lange nicht, dann verzog sich sein Mund plötzlich zu einem frostigen, höhnischen Lächeln, und er sprach – es klang hohl und dumpf: »Hm, was alle Tag' geschieht, ohne dass ein Hahn danach kräht!«

Es kam der verlangte Wein, Hecker stürzte ein volles Glas hinunter und ein zweites darauf.

Der Seiler spürte schaudernd, wie sich die Fühlhörner seiner frisch erwachten Neigung wieder einzogen.

Da plötzlich – der Gerber fuhr mit der Hand über die heiße Stirne, durch Haar und Bart – war er ein ganz anderer oder vielmehr der Alte, mit dem der Seiler im Schatten des Waldes und im Staube der Landstraße so manch liebes Stündchen lustig verplaudert. Sein Auge blickte wieder hell und freundlich, seine Hand zitterte nicht mehr und legte sich ruhig auf den Arm des Schwaben. »Hast du gehört«, fragte er, »dass ich fort wollt'!«

»Wohl, doch glauben wollt' ich's nicht! Zu mir wärst du ja doch gekommen, wenn du so was im Sinn gehabt hättest!«

»Zu dir? Warum? Du wärst ja doch nicht mitgegangen!«

Der Schwabe senkte den Kopf und sage seufzend: »Ach, damals freilich nicht, aber heute –«

»Hoho, Fritzchen! So hast du die Vöglein auch singen und locken gehört wie ich?«

»O nein! Aber ich fürcht', 's ist aus mit mir und der Judith!«

»Hm, und warum? Wie wäre das gekommen?«

»Ich werde dir's schon sagen. Doch sag' du mir zuerst, warum du nicht mehr bleiben willst – du hast die beste Werkstatt und das schönste Mädel in der Stadt, was fehlt dir hier?«

»Was mir fehlt? Ja, siehst du, Fritz! Das ist eine Sache, die schwer zu beschreiben, bin ich mir doch selbst ihrer kaum recht klar bewusst, das heißt, wie und woher sie gekommen, aber dass sie da ist und fest steht, weiß ich bestimmt.«

»Ja, das versteh' ich freilich nicht!« meinte der Seiler traurig.

Der Hecker dachte eine Weile nach, dann legte er den Kopf zwischen seine Hände und sagte: »Ich will es versuchen, dir die Geschichte zu erklären. Siehst du – es ist richtig alles so, wie du gesagt, die beste Werkstatt, das schönste Mädel, meine Nebengesellen haben mich gern, auch andere Leute noch – aber alles das kann überall passieren. – An ihr, an Sybille hätte ich den Halt finden müssen, nach dem ich bislang vergebens in der weiten Welt herumgetappt, in ihr hätte ich alles das finden müssen, was ich bis nun zu fruchtlos in der Weite gesucht, in der Liebe zu ihr hätten alle die begehrenden bösen Gedanken und Träume aufgehen müssen, die mich bisher ruhelos von Ort zu Ort gejagt. War das nicht, so lag der Wandertrieb in meinem Herzen nur für Augenblicke betäubt und eingeschläfert, und er musste erwachen, stärker, gewaltiger als je, je länger ihn die grünen, duftenden Kränze des Glückes und der Liebe im Schlummer niedergehalten auf dem üppigen Lager. – Kränze? – Kränze sind Ringe, und Ringe bilden Ketten, wenn ihre Glieder auch Rosen überdecken.«

»So liebt dich Sybille nicht?«

»Hm, sie liebt mich, wie sie eben zu lieben imstande ist. Sie findet Gefallen an mir, sie streichelt mir die Wangen, sie küsst mich, sie drückt mich an ihr leichtes, warmes Herz, und lächelt stumm dazu, wenn mich der Strom ihrer Reize flutend überwogt – ist das Liebe, so hole sie der Teufel!«

»Aber Hecker! Was willst du denn dann?« fragte der Seiler erstaunt und fast empört.

»Was ich will? Denke daran, was ich dir damals sagte, als ich, das Herz zum Zerspringen voll von dem Eindrucke, den Sybille auf mich gemacht, an die Möglichkeit dachte, in dieser Liebe, in ihrem Herzen den Baustein zu finden, der einem steten, ruhig-schönen Leben zur Grundlage dienen sollte. – 's ist nichts damit, ich habe alles versucht. Wenn ich ihr von der Zukunft sprach, von dem, was und wie ich werden wolle, so hielt sie mir lachend den Mund zu und beteuerte mir, dass sie mich gerade liebe, wie ich bin und weil ich so bin, und dass sie sich vor mir fürchten und mich hassen müsste, wenn ich so ein trockener, hausbackener Spießbürger werden würde. Und weißt du, was sie sagte, als ich ihr neulich kundtat, dass ich weiter wolle, weit fort von hier –«

»Nun, was sagte sie also?«

»Ungefähr so, wie es in dem alten Liede heißt:

›Geh du nur fort, ich hab' mein Teil,
ich lieb' dich nur aus Narretei!
ohne dich kann ich schon leben,
ohne dich kann ich schon sein!‹

Und es ist auch so. Sie ist jung – schön – ihr wird's an Tröstern nicht fehlen!«

Er lachte, als er dies sprach, aber wild-lustig, fast ingrimmig.

Der Seiler atmete hoch auf, es war ihm, als ob ihm ein Stein vom Herzen fiel, als er sah, dass Hecker schwieg und wieder nach dem Weine langte. Es war ihm so unheimlich geworden während der Erzählung des Gerbers, dass er sich fast fürchtete vor ihm. Dennoch fragte er mit freundlichem und bekümmertem Tone darauf: »So willst du wirklich fort!«

»Jawohl, je eher, je lieber! – Ich habe mich die vorige Woche bereits bei dem Meister ›der Arbeit bedankt', aber weiß der Teufel, was sie für einen Narren gefressen haben an mir, alle, der Meister, die Meisterin, die Kinder, die Nebengesellen, die Mägde, – sogar der Alte, des Meisters Vater, sie wollen mich nicht fortlassen, und vierzehn Tage muss ich ›zuarbeiten‹ nach Handwerksbrauch, derweil soll mir der Rappel vergehen, meint der Meister – ich meine aber nicht!«

»Aber um Weihnachten! Mitten im Winter!«

»Pah, das ist alleins! Was ficht den echten Wanderburschen Wind, Schnee und Sturm an? Das ist gerade recht! Alles, nur kein angenehmer Marsch nach erträglicher Arbeit! Er verdirbt einem noch das einzige, was man mit hinausnimmt in den Staub und Kot der Landstraße, das bisschen Erinnerung!«

»Und wo willst du hin?«

»Wo immer hin! Hinaus halt und fort! Ein paar Wochen herum in der Welt und dann meinetwegen wieder ins Geschirr, um Arbeit ist keine Not. – Aber was ist's denn mit dir, du hast doch nicht auch Verdruss gehabt mit deiner schönen Judith?«

»Ach, wenn es nur das wäre!« seufzte der Seiler.

»Wenn es nur das wäre?« – Das ist ein spaßiger Wunsch! Ja, was ist's denn hernach?«

Der Seiler stöhnte schmerzlich: »Ich bin ja evangelisch!«

»Alle Hagel!« rief Hecker, sich vor die Stirne schlagend, »das hab' ich bei meiner armen Seele ganz vergessen!«

»Und ich auch, wer hätte –«

»I nu, dir brauchte nicht sehr bange sein darum, du Ketzer!« fiel ihm der Gerber ins Wort. »Du konntest es ganz zufrieden sein, wenn die schöne Judith deine arme Seele ins Schlepptau nahm. Aber dass ich nicht daran dachte – und wie kamt ihr denn endlich darauf?«

»Wie? Nun erst heute! Sie musste bisher geglaubt haben, ich sei katholisch; natürlich, seit vorigem Jahre steht in den Wanderbüchern: Religion – Null! Weiß Gott, was sie damit sagen wollen, die Herren, die die neue Ordnung der Dinge erfunden haben. – Nun heute meinte sie, ob ich nicht mit ihr zur Christmette gehen wolle. Ich sagte natürlich ja, ich ginge meinethalben mit ihr in die Hölle. Dann erzählte sie mir Verschiedenes darüber, und wie schön hier die Feierlichkeiten in der Kirche gehalten werden, und dann fragte sie mich, wie es bei uns daheim gehalten werde zu dieser Zeit. Du lieber Himmel! Was konnte ich ihr denn viel sagen? Nur das beantwortete ich ihr, weil mir das am meisten aufgefallen war, dass hier alle Geistlichen den Tag drei Messen lesen. Da sagte ich denn, wie's auch wahr ist, dass unser Pfarrer gar niemals keine nicht liest. Aber da hatt' ich's getroffen, sie fing zu weinen und zu schreien an, und wenn ich ihr's hundert Mal beweisen wollte, dass die ›Evangelische‹ ebenso gut Christen seien wie die ›Katholische‹ – nicht half's, und sie hieß mich einen Ketzer, Heiden, Türken und Ungar nach dem andern. Und nachher hat sie gesagt, dass sie keine Stunde länger mit mir unter einem Dache wohnen könne und dass es nur ein Mittel gebe, wenn ich bleiben wolle – und dabei hat sie immer geschrien: ›O, was die Nachbarn sagen werden!‹«

»Und was ist denn das für ein Mittel? Hat sie dir's gesagt?«

Der Seiler wurde bleich und rang nach Worten. Endlich kam es stockend heraus, dass die Witfrau ihn aufgefordert hatte, das ›Glaubensbekenntnis abzulegen‹, was er aber nun und nimmermehr tun wolle.

Über das fahle Gesicht des Gerbers flog ein heller Schein, als sein Kamerad, das bleiche Antlitz in den Händen bergend, also schloss, und er streckte seine Hand rasch und mit einer triumphierenden Gebärde über den tief gebeugt Dasitzenden aus, als nähme er jetzt – und erst jetzt – Besitz von ihm.

»Ich gehe nicht allein – ich leide nicht allein!« flüsterte er höhnisch. Darauf blieb es lange still zwischen ihnen.

Als der Seiler wieder aufsah, hatte er die Augen voller Tränen.

Der Gerber sah es wohl, und er sah tiefer, bis in das gemarterte Herz seines Kameraden hinab, das von dem unnatürlichen Zwiespalt der Liebe und des Glaubens zerrissen, aus tiefen Wunden blutete. Aber seine Seele fühlte kein Mitleid mit dem armen, weichmütigen Schwaben. An seiner Hand hätte sich der ihm blind ergebene Bursche leicht und stark aufgerichtet, aber er bot sie ihm nicht dar, er – verflogen war plötzlich der schadenfrohe, höhnische Zug um seine Lippen und die freventlich nach dem Bedrückten ausgestreckte Hand langsam niedergesunken. Ernste, große Gedanken stiegen an seinem Herzen auf und mahnten ihn an seine Pflicht als Freund und Mensch.

Er sann, er kämpfte – sein böser Dämon rang die lichten Liebesgedanken nieder, und er murmelte: »Nein! – Warum soll er glücklich sein? Mit muss er!«

Er stand rasch auf und rief, seine Hand auf die Schulter des Stillweinenden gelegt: »Auf, Fritz! Schäme dich und sein kein altes Weib! Wir gehen zusammen, frisch und lustig, wie vor 'nem Vierteljahre! Auf – trink! Ein anderes Städtel, ein anderes Mädel!«

Der Seiler mochte nicht anklingen. Er sprach leise: »Wenn ich nur schon draußen wäre!«

»Na wart', das lässt sich bald machen. Du kannst gehen, wann du willst?«

»Zu jeder Stunde!«

»Gut, morgen haben wir Feiertag, übermorgen auch. Also in drei Tagen, dienstags – wandern wir!«

»Ja wirst du denn können, Hecker?«

»Gewiss, es bleibt dabei!« Er reichte dem Schwaben die Hand, und sie gingen.

Der Seiler suchte sein stilles, einsames Kämmerlein, um sich sattsam auszuweinen, der Gerber strich noch eine Stunde durch die öden Gassen, ehe er über die Brücke ins Stuffers ging.

Es war noch keiner seiner Mitgesellen daheim.

»Wo sind denn die heut so lang?« fragte er, an das Lehrbubenbett tretend, in dem sich etwas bewegt hatte, als er eingetreten war.

Es war der jüngere Lehrbube, Weißenhahn genannt. Er reckte auf die Frage seinen schwarzen Kopf und sein pfiffiges Gesicht in die Höhe und sagte: »In der Metten, Herr Hecker! Und nachher werden's wohl noch wo einfallen, auf ein' klein' Zwicker Kartenspiel. um Maronen oder Nussen!«

Der Hecker sagte nichts darauf, zog sich schnell aus und legte sich nieder.

Aber er konnte nicht einschlafen, sein Blut kochte, sein Herz schlug übermächtig gegen die starke Brust, der Polster lag auf ihm wie glühendes Blei.

Er warf ihn von sich und setzte sich im Bette auf. »Betrüg' ich mich nicht, wenn ich mir einrede, Sybille trage die Schuld daran, dass ich wieder weiter will? – Ist's nicht dennoch nur mein heißes, unruhiges Blut, meine Zugvogelnatur, was mich Glück, Liebe und alles, wonach anderer Menschen Streben geht, nach kurzem Genusse hinzuwerfen und zu verlassen drängt, mächtig und unabweisbar? – Gleichviel was! Ich muss fort!

Der Staub der Straße ist abgeschüttelt und abgewaschen, die Füße brennen nicht mehr, die Not ist vergessen! Vergessen? Nein – ich sehne mich nach ihr! Doch wie komme ich nur fort von diesen vermaledeit freundlichen Leute?«

»Ich wüsst's wohl, Herr Hecker!« klang es ihm antwortend von dem Bette der Lehrjungen her entgegen.

»Was? Wer ist – bis du's, Weißenhahn?« fragte der Geselle fast erschreckt.

»Jawohl, mit Gunst, Herr Hecker!« antwortete der Bube flüsternd, kroch aus dem Bette und trat zu dem Heckers.

»Hab' ich denn laut gesprochen?«

»Ich hab' alles gehört, aber nur 's Letzte verstanden!«

»Nun was – schläft der andere?«

»Wie erschlagen!«

»Nun, so lass hören, was du weißt, kleiner Weißenhahn! Ich muss dir gestehen, dass du auf diese Art mehr weißt als ich.«

»Da müssen's 'n Licht machen, Herr Hecker.«

Dieser tat es, verwundert über den Jungen und noch mehr über sich, der sonst nicht gern mit dergleichen zu spaßen pflegte.

Als das Licht brannte, rief er barsch:

»Nun?«

Der schwarzköpfige Tirolerbub antwortete darauf mit einem verschmitzten Lächeln, und indem er mit dem Finger nach der großen Schwarzwälderuhr wies, die in der Ecke stand.

»Ja was soll's mit der Uhr? Willst du mich narren, Junge?«

»Der Wecker!« flüsterte der Lehrbube.

»Der Wecker?« wiederholte Hecker erstaunt.

Der kleine Bursche erklärte sich: »Wenn Sie fort wollen, Herr Hecker – die Meistersleut' lassen Sie sein Lebtag nicht weiter, weg'n der Kinder, denen Sie immer was aufzeichnen und ausschneiden – so müssen Sie mit den Gesellen uneins werden. Wenn die nicht krawallisch werden, so geht's allweil nicht!«

»Wahr, du hast recht. Aber was soll der Wecker dabei?« fragte Hecker nachdenklich.

»I Herjes!« rief der Weißenhahn, über die Begriffsstutzigkeit seines studierten Gesellen verwundert, »was der Wecker dabei soll? Zurückrichten sollen Sie 'n um 'n paar Stund, – dann schaun Sie zu –«

Der Gerber schoss wie der Blitz nach der Uhr. Er hatte früher weder sie noch den Mechanismus ihres Weckers beachtet. Er leuchtete hinauf und versuchte den Dorn, der auf fünf, die gewöhnliche Aufstehstunde wies, zurückzudrehen – es ging. Er versuchte und ließ die Stunden bis eins schlagen – auf diese Stunde hatte er den Dorn des Weckers gerichtet – mit dem Schlage eins surrte der Senkel so klingend und gellend zu Boden, dass der andere Lehrjunge instinktmäßig auffuhr und nach dem Lichte glotzte.

Der Geselle blies es rasch aus und flüsterte dem Buben zu: »Schweig, so dir deine Ohren lieb sind, du hast einen Zwölfer bei mir zugute.«

Wie die Schatten huschten beide in die Betten, und als die Gesellen heimkamen, tönte ihnen ein geschnarchtes Trio entgegen, das insofern einen Achtungserfolg errang, als es weder durch einen fallenden Stiefel noch durch sonst ein geräuschvolles Entkleidungsmanöver unterbrochen wurde.


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