Emerenz Meier
Aus dem Elend
Emerenz Meier

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6. Kapitel

Der Frühling war gekommen mit all seiner Pracht.

Freudigen Sinnes zogen die Landleute auf die Felder, die Holzhauer in den Wald, der Hirt auf die Weide. Hier wie 96 dort ertönten Jauchzer und frohe Gesänge, denn Lenzlust und Lenzsonne stahlen sich in die Menschenherzen, füllten sie mit Lust und Lebensmut.

Die Leute vom Reutbauernhof arbeiteten in geteilten Gruppen auf den Wiesen.

Gottfried pflügte das Land für den Sommerroggen, wobei der Alte mit vergnügtem Sinn den etwas störrischen Pferden voraustrabte.

Itta bereitete zu Hause das Mittagsmahl.

Von Zeit zu Zeit trat sie ans Fenster und blickte sehnsüchtig hinaus in die herrliche Natur. Sie hätte sich zu gerne denen angeschlossen, die sich dort an Licht und Blumen freuten. Aber sie durfte es nicht, denn sie war hier unentbehrlich, mußte für alle sorgen und im Hinterhaus die kranke Burgl pflegen.

Diese konnte schon seit Wochen das Bett nicht mehr verlassen. Der Arzt aus dem Pfarrdorf besuchte sie oft, öfter als notwendig, doch nicht aus übereifriger Sorge um die Kranke, auch nicht des Gewinnes halber, sondern eines schönen, liebenswerten Mädchens willen. Er war ein noch junger Mann, tüchtig in seinem Beruf und seines freundlichen Benehmens wegen allgemein beliebt. Der einzige Fehler, den man an ihm zu tadeln hatte, war der, daß er keine Frau besaß, auch keine Anstalten machte, sich eine solche beizulegen. Freilich wollten einige schon das Gegenteil wissen, indem sie Itta mit siegesgewisser Miene die »künftige Frau Doktorin« nannten; aber es war immer noch nicht recht zu glauben. Im Reutbauernhause selbst wurde nicht darüber gesprochen. Doch jedesmal, wenn der Doktor kam, wechselten die Mägde bedeutungsvolle Blicke; Gottfried ging dann mit mürrischem Gruße fort.

Heute befand sich nur Itta zu Hause, als der feste, gemessene Schritt des Arztes auf den Steinen des Flures draußen erklang. Sie wischte sich hastig die Hände an der Schürze, stellte einen Sessel bereit und sah dann verlegen aus dem Fenster.

»Guten Tag, Fräulein Itta!« sagte eine wohlklingende Stimme. »Wieder so vielbeschäftigt? Wie steht's mit unserer Kranken?«

»Es tuats schon, Herr Doktor. Sie is heut viel besser wie gestern und verlangt sogar, daß wir s' aufstehn lassn.«

»Hoho! Nun, wir werden sehen, ob sich das bewilligen läßt. Einstweilen aber bitte ich um einen frischen Trunk.«

97 Itta war froh, sich für Augenblicke entfernen zu dürfen, denn sie fühlte sich in seiner Nähe so bedrückt und verlegen. Als sie mit einem Glas frischen Wassers erschien, fand sie ihn in Betrachtung des über der Kammertür hängenden, kunstvoll gestickten Haussegens versunken.

»Haben Sie das gemacht, Itta?« fragte er.

»Ja, Herr Doktor.«

»Ich bewundere Ihre geschickte Hand, bewundere überhaupt Ihre ganze Person, die mir so gar nicht in den Rahmen eines Bauernhauses zu passen scheint. Fühlen Sie sich denn glücklich hier?«

Sie blickte in sein gutes, ernstes Gesicht und überwand die Versuchung, ihn mit einem oberflächlichen Bescheid abzufertigen.

»I woaß net, was i da sagn soll, Herr Doktor. Der Reutbauernhof is soviel wie mei Hoamat, koan andere han i net. Es kimmt mir wohl oft vür, als kunnt manches anders sein, als es wirklich is, aber es geht mir allweil besser, als den andern Bauerndirdln.« An Gottfried denkend, fügte sie mit leichtem Erröten hinzu: »Und glücklich – bin i schon.«

Nach einer Pause, während der er sie forschend betrachtet hatte, fragte er: »Wissen Sie gar nicht, wer eigentlich Ihr Vater war und was die Ursache seines so frühen Todes gewesen sein mochte?«

»Na«, antwortete Itta und wiederholte, was sie schon als Kind von ihrer Heimat und ihrer Mutter erzählt hatte.

Der Arzt ging etliche Male in der Stube auf und ab. Dann trat er auf das Mädchen zu und nahm mit einem ernsten Blick ihre kleine, rauhgearbeitete Hand.

»Ich will ihnen etwas sagen, Itta. Sie leben unter Menschen, die Sie einzig Ihrer Herkunft wegen nicht ehren und schätzen, so wie Sie es verdienen, die auch kein Verständnis haben dafür, daß Ihr Geist und Ihr Gemüt Ihren Stand hoch überragen. Sie können deshalb nicht glücklich sein. Das würden Sie erst an der Seite eines Mannes, der Sie in Ihrem wahren Wesen zu nehmen und zu schätzen versteht. Der Mann bin ich, um es kurz zu machen. Wollen Sie meine Frau werden?«

Itta stand, keines Wortes mächtig, erschrocken und verwirrt da. Endlich faßte sie sich und stammelte mühsam hervor:

»Aber – aber Herr Doktor, i bin ja aus'm Elend, bin a Böhmin! I kann net – trau mir net –«

98 »Die Vorurteile Ihrer Landsleute sind mir fremd, Itta«, sagte er, mit Wärme ihre Hand drückend. »Ich liebe und achte Sie, das ist genug. Doch ich verlange in dieser Minute keine Entscheidung. Sprechen Sie mit Ihrer Pflegemutter, wie auch ich es zu tun gedenke und werden Sie sich vor allem selbst klar darüber, ob Sie meine Gefühle erwidern können.«

Sie nickte nur rasch und heftig, denn der plötzliche Eintritt Gottfrieds enthob sie einer Antwort. Der Doktor ließ ihre Hand los und grüßte den Burschen, der sich nach einem blitzartigen Blick auf die beiden sofort abwandte.

»Bist leicht du auch krank, Itta?« fragte er grob.

Da sie schwieg, drehte er sich wieder herum und zeigte so sein wetterbraunes Gesicht, auf dem in diesem Augenblick nichts als Spott, Hohn und Gehässigkeit zu lesen war.

»I kann mir kaum was anders denka, als daß dir net guat sein muaß«, fuhr er fort. »Der Herr Doktor hat dir ja'n Puls griffa. – Oder beitst vielleicht erst auf d' Schmerzn?«

»I beit auf nix, als auf die Zeit, wo du a weng höflicher gegn d' Herrenleut wirst!« platzte sie nun hochroten Gesichts heraus.

Er lachte boshaft.

»Pah, höflicher! Der Herr Doktor woaß schon, daß i a Bauer bin und verlangt koane Komplimenter von mir.«

»Nein, wirklich nicht«, versetzte dieser mit ruhiger Würde. »Ich hätte auch keine Zeit, sie anzuhören, denn mich erwartet Wichtigeres. – Also, Itta, denken Sie ernstlich nach über das, was ich zu Ihnen gesprochen und leben Sie wohl bis – bis übermorgen.«

Er drückte ihr noch einmal die Hand, nickte Gottfried flüchtig zu und ging fort.

Während sie mit einer an ihr ungewöhnlichen Hast den Tisch deckte, schritt der Bursche rastlos in der Stube auf und ab. Mehrere Male war er nahe daran, seinem Ingrimm über den Doktor in Schmähreden Luft zu machen, doch immer wieder hielt ihn die Scheu vor Itta ab. Endlich blieb er stehen und sagte in hämischem Ton:

»So ist's halt richtig wahr, daß man dich nächstns Frau Doktorin tituliern muaß?«

99 »Na, des is net wahr«, erwiderte sie, ihm fest ins Auge blickend.

»N – net? Willst du's etwa laugna? – I hab's aber doch gsehn –«

»Du hast gar nix gsehn, Gottfried«, unterbrach sie ihn. »Wahr ist's, daß er mir, dem arma, verachtn Dirndl an Antrag gmacht hat, daß i'n aber annimm, des kannst net b'hauptn.«

»Und warum nimmst'n denn net an?«

»Weil i den Doktor net liab hat, – ihn net.«

»Wen dann?« wollte er weiter fragen, hielt es aber noch rechtzeitig zurück, während ihn ein eigentümlicher Schreck durchfuhr.

Ein langes, peinvolles Schweigen entstand, das er endlich mit der Bemerkung brach, daß er den Doktor nicht leiden könne und daß es höchste Zeit zum Essen sei.

Sie wandte sich eilig dem Herd zu, um die Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen rollten.

*

Dem sonnigen Frühlingstag folgte ein wunderlieblicher Abend. Bis zum Eintritt der Dämmerung saßen die Landleute vor den Haustüren und auf eine ziemliche Entfernung plauderten und scherzten die Nachbarn miteinander. Über die Felder tönte Singen und Jauchzen; die Lenzluft hielt Natur und Menschen wach.

In dem großen Garten hinter dem Reutbauernhaus lagen und standen zehn oder zwölf Burschen auf dem kurzgrasigen, von Veilchen durchdufteten Rasen umher. Auch hier erklangen einige der jedem jungen Wäldler unentbehrlichen Musikinstrumente wie Schwegelpfeife und Harmonika und wurden mit frischem Gesang begleitet. Gottfrieds schöne, kräftige Stimme übertönte die der andern. Er lehnte an dem Stamm einer mächtigen Ulme, ihm zu Füßen balgten sich seine beiden Knechte wie zwölfjährige Jungen.

»Wenn's net bald aufhörts, gib i enk Unterricht!« rief er ihnen endlich scherzend zu.

Da diese Ermahnung kein Gehör fand, beugte er sich nieder, faßte den Größeren am Fuß und stellte ihn auf den Kopf, was ein allgemeines Gelächter hervorrief.

100 »Des is mir z'dumm!« schrie der so Behandelte, als er wieder auf den Füßen stand. »Des is mir z'dumm! Wennst gar so stark bist, du starker Gottfried, aft geh jetzt her, i will sehn, ob du mich jetzt auch noch baumstellst!«

Damit reckte er die Arme von sich, den Reutbauern mit geballten Fäusten erwartend.

Dieser ließ sich eine solche Aufforderung nicht zum zweiten Mal zukommen. Binnen weniger Sekunden stand der Bursche wieder auf dem Kopf und seine Füße suchten sich dem eisernen Griff Gottfrieds vergeblich zu entrinnen. Abermals befreit, begann er ernstlich zu wüten und zu toben. Als er sah, daß sein Geschrei und seine Drohungen Gottfrieds überlegene Ruhe nicht zu erschüttern vermochten, schwang er plötzlich ein griffestes Messer über sich.

Nun flammte es in den dunklen Augen des jungen Reutbauern unheimlich auf.

»Tua dei Feggin weg!«

»Der Teixl soll mi holn, wenn i mag!« war die Antwort des Rasenden.

Nun trat Gottfried vor, stürzte sich mit großer Schnelligkeit auf den Knecht und warf ihn zu Boden. Das Messer aber bohrte sich durch einen unglücklichen Zufall in seine linke Hand.

»Gib ihm's zruck, Reutbauer, gib ihm's zruck!« schrien die herbeistürmenden Burschen. »Der Kerl is net mehr wert, er is ohnehin a halberter Böhm.«

Einige wollten sofort das Rächeramt übernehmen, aber Gottfried verwies es ihnen.

»Wenn er a Halbböhm is, dann laßts'n gehn«, sagte er, nachdem er, ohne mit der Wimper zu zucken, das Messer aus der blutenden Hand gezogen hatte.

»Er is freilich oaner. Sei Muatta war an echte Böhmin.«

»Is des wirkli wahr, du?« wandte er sich an den mutlos Daliegenden. »Sag's aufrichtig, dann rühr i dich mit koan Finger an.«

»Es is net wahr, – i kann's beweisn.«

»So beweis's!«

101 »Frag den Obmannbauern in Roßberg. Dem sei Schwester is mei Muatta.«

»Meiner Seel, du hast recht!« nickte Gottfried, in dem eine Erinnerung aufstieg. »Warum bist denn aber doch so hoamtückisch?«

»I kann nix dafür, daß dir's Messer in d'Händ ganga is. Hättst mir an Ruah laßn.«

»Des versprich i dir auch jetzt noch net, Bua. Du hast Prügl vadeant und weilst koa Böhm bist, sollst du 's treuli habn. Steh auf.«

Der Knecht stand gehorsam auf und wehrte sich nicht sonderlich mehr, als ihn Gottfried zum Gaudium der Umstehenden weidlich durchprügelte.

»So«, sagte er, »jetzt san mir wieder guat, wia's unter richtige Buam der Brauch is. Da hast mei Händ.«

Ohne Zögern schlug der durch diesen Ausgang überglückliche Mensch ein. Nach einem Blick auf die von ihm geschlagene Wunde riß er sein seidenes Halstüchlein ab und verband sie damit.

Damit galt die Geschichte für abgemacht.

*

Die Charaktere der Menschen sind untereinander weit verschiedener, als die Gräser, Blumen und Bäume in Feld und Wald. Jeder setzt sich aus so vielen Ecken, Seiten und Falten zusammen, daß er nie zu berechnen und auszulernen ist, selbst nicht von dem ihn Besitzenden. Er glaubt ihn vollkommen zu kennen, bis sich eines Tages eine der Falten öffnet und ihn mit ihrem Inhalt zur Verwunderung bringt.

So ging es heute dem jungen Reutbauern.

Er stand in dem dunklen Flur vor Burgls Tür und horchte. Zum wievielten Mal schon seit etlichen Wochen wußte er wohl selbst nicht mehr, denn es war ihm schon zur Gewohnheit geworden.

Drinnen erklang die tiefe, weiche Stimme Ittas, die, wie immer, wenn Burgl nicht schlafen konnte, aus einem Buch vorlas. Es war eine seltsame, traurige Geschichte von einem jungen Müller, der die schöne Tochter seines Nachbarn, des Wasenmeisters, liebte, wie sie ihn.

103 Trotz dieser Übereinstimmung der beiderseitigen Gefühle sah sich Philomena, die Heldin, verschmäht, einzig ihrer Herkunft wegen. Der Müller hielt es mit seiner Ehre für unvereinbar, die Tochter eines Wasenmeisters zum Weibe zu haben. Erst als sie ein anderer achtbarer Mann heimführte, erkannte er, was er verloren. Er klagte und trauerte und zog endlich fort in die Fremde, wo er sein Leid vergessen wollte. Doch dies gelang ihm nicht. Als ihn eines Tages die Kunde erreichte, daß Philomena, die von der ersten Zeit ihrer Ehe an zu kränkeln begonnen hatte, im Sterben liege, eilte er unverzüglich heim.

Es war ein trübes Wiedersehen.

Als er unter heißen Tränen an dem Lager der Sterbenden niederkniete, richtete sie sich auf, reichte ihm ihre todeskalte Hand: »Ich habe dich immer geliebt, Friedrich, immer; dein ungerechter Stolz bringt mich in das frühe Grab.«

Nach diesen Worten schloß sie die Augen, und er stürzte verzweifelnd aus dem Hause. – Er kam an den Steg, der über den hochgeschwollenen Bach zur Mühle führte. Dort trat ihm der bleiche Gatte Philomenas entgegen mit dem Ruf: »Du bist es, der mein Weib getötet!«

Friedrich wollte ihn von sich drängen, trat fehl und stürzte in die kalten Fluten.

Gottfried hatte sich immer für einen vernünftigen, nüchtern denkenden Menschen gehalten, hatte sich sogar oft eine allzugroße Herzens- und Gemütshärte zum Vorwurf gemacht. Heute aber entdeckte er zu seiner größten Verwunderung, daß ihn das Leid fremder Personen, deren jemalige Existenz noch dazu fragwürdig genug war, bis zu Tränen rühren konnte. Schluchzend lehnte er an der Mauer und hielt, wie aus Scham vor sich selbst, die Mütze vor das Gesicht.

Die Geschichte war zu Ende.

Gottfried sah, wie sich der Schein des Lichtes durch das Schlüsselloch stahl und über den Steinen des Flures zitterte.

Er hörte, wie Burgl sagte: »Des Buach is net von mir, Itta. Wo hast du's denn her?«

»Von der Doktormagd«, war die Antwort. »Sie liest gern, und wenn i am Sonntag aus der Kircha kimm, steckt sie mir immer solche Heftn zu.«

»Nimm sie ein anders Mal nimmer an, Itta. Des sand so 104 dumme Gschichtn, die koan Wert net habn und nur'n Kopf verwirrn. So a Liab, wia s'da drin steht, gibt's in der Wirklichkeit net, und wer sich's trotzdem einbildt, der kann leicht unglückli wern.«

»I net, Muatta«, erwiderte Itta. »I woaß's genau, wo d'Dichtung anfangt und d'Wirklichkeit aufhört. Und wenn mir schon mehr im Herzn passiern tat, wie ein'm andern, – die Menschn sand ja verschiedn, – dann hielt i mi an d'Arbeit und an unsern Herrgott.«

»Und i«, sagte Gottfried leise, »i tat halt oafach d' Philomena heiratn und wenn s' glei a Schinderstochter war. Dem andern aber, der sie mir nehma wollt, dem brechat i's Gnack.

Damit wischte er die Tränen aus den Augen und tappte sich vorsichtig aus dem dunklen Flur.

 


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