Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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25

Jahre waren vergangen. Über die Stoppeln pfiff der Septemberwind. Unter der Pflugschar quoll der moderige Erdgeruch empor. Hier und da lohte schon ein lustiges Kartoffelfeuer. Zwei Damen ritten im Schritt durch das Feld. Die größere: schlank, elegant, alt geworden. Es war Frau von Bussard. Die kleinere: blond, etwas dicklich. Es war Frau Pescatore, Modestes Freundin von einst.

»Die Gegend verändert sich doch sehr,« meinte die ältere. »Die alte Lindt gestorben – Gott habe sie nicht selig! ... Die Frida in Berlin doch an den Mann gebracht – je später der Abend, je schöner die Leute ... Wahrscheinlich bekommen die Russen doch Barginnen und züchten hier einen gräflich Axsilschen Stamm, aufgefrischt mit Lindtschem Blut ... Von Modeste weiß ich nichts. Meine Tochter hat an sie sofort nach der Skandalgeschichte einen langen Brief geschrieben. Vielleicht ging er verloren, vielleicht auch nicht. Beantwortet wurde er jedenfalls niemals ... Die jetzige Frau Romeit war kein Engel, aber jedenfalls die weitaus Beste von der Familie ... Mir war die übrige Gesellschaft immer degoutant: den Alten an der Spitze. Und was hat ihnen Modestes Ausstoßung genutzt? – Alles hat sich zurückgezogen, was innerlich vornehm fühlt. Der alte Eller, der wohl eine sehr herbe Aussprache mit dem alten Biedermann gehabt haben muß, stand im Hotel in Insterburg einfach vom Tisch auf, als Herr von Lindt eintrat ... Der Eyseliner verreiste ausgerechnet an dem Tage von Fridas Hochzeit. Und Sie wissen ja, liebe Annie, wie gern sie sich gerade mit ihm drapiert hätten! ... Die Gardekavallerie hätte ja auf diesem Wege mein Neffe Mieritz glücklich wieder geschafft – er ist mir aber seitdem ein wenig zu vernünftig für meinen Geschmack. Dieses abgeblühte Geschöpf nur wegen der Millionen!«

Die jüngere ließ die Trensenzügel unschlüssig durch die Hand gleiten. »Ja, ja – nun ist auch der alte gute Eller tot ... Man erzählt sich, Modeste sollte das Gut erben.«

»Das würde mich sehr, sehr freuen!« rief Frau von Bussard lebhaft.

»Aber dann würde ja Modeste wieder in die Gegend kommen.«

»Das glaube ich nicht, liebe Annie ...«

»Aber ich weiß es!« beharrte Frau Pescatore. »Das Gut darf nämlich nicht veräußert werden, wie ausdrücklich im Testament steht. Es soll eine Infamie von dem Eller sein gegen den alten Lindt ... Und,« fuhr sie vertraulich fort, »ich habe ja Modeste gewiß sehr liebgehabt und habe sie auch noch jetzt lieb – aber Romeits sind doch nun einmal nicht ›Klasse‹. Mein Mann würde mir, glaube ich, den Umgang direkt verbieten. Er verkehrt nur mit ›Klasse‹ ... Und darum möchte ich so gern Ihren Rat hören, Frau von Bussard, und wie Sie es zu halten gedenken ... Gadebuschens verkehren auf keinen Fall.«

Darauf wiederholte Frau von Bussard gleichgültig: »Herr Pescatore verkehrt nur mit ›Klasse‹ – demnach scheint Herr Lindt von Barginnen auch ›Klasse‹ zu sein, was ich bis jetzt noch nicht wußte ... Fräulein von Gadebuschs verkehren auf keinen Fall – dafür wird man der Mutter nächstens das Gut subhastieren ... Also, liebe Annie, verkehren Sie auch auf keinen Fall! – da jedenfalls Frau Murrmann auch auf keinen Fall verkehren wird ... Ich werde auf jeden Fall verkehren!«

Die junge Frau antwortete beinahe schmollend: »Ja, Sie und Judith! – Sie können alles tun, was Sie wollen – und alle werden es reizend finden. Wenn Judith morgen einen Gespannknecht heiratete, würde die ganze Gegend sich zur Hochzeit drängen ... Sie, gnädige Frau, Judith und Falkner von Öd ...«

»Und warum, meine liebe Annie?« fragte Frau von Bussard, sich im Sattel wendend. »Weil wir drei uns nie herbeigelassen haben, die Leute zu fragen, was den Leuten richtig scheint oder nicht. Wir taten und tun, was uns richtig scheint ... Übrigens,« fügte sie mit einem schmerzlichen Lächeln hinzu, »Judith dürfte wohl nach dieser Richtung hin kaum noch ein Ärgernis geben. Sie erlebt das Frühjahr wahrscheinlich nicht mehr, wie mir der Arzt bestimmt gesagt hat. Wir gehen darum den Winter auch nicht nach Davos. Sie soll daheim sterben.«

Frau Pescatore, die ihr warmes Mädchenherz von Zeit zu Zeit wiederfand, wurde mit einemmal sehr weich. »Aber, gnädige Frau, das dürfen Sie nicht sagen – das dürfen Sie nicht! ... Judith sterben ... Vor fünf Jahren, als sie zwanzig war, haben es schon die Ärzte behauptet – und sie ist doch nicht gestorben ... Denken Sie doch: wie viel Gutes sie in der Zwischenzeit getan hat, und wie sie eigentlich schon auf Erden hier ein Engel ist, den jeder arme oder unglückliche Mensch im ganzen Kreise kennt ... Es klingt ja sonderbar – aber wir und alle haben sie im Grunde unsers Herzens von Jugend auf beneidet, weil sie so gut und so wahr ist und immer das tat, was wir andern hätten tun sollen ... Nicht wahr, Frau von Bussard, es ist doch nicht so schlimm?« Und sie griff in der Aufregung der Dame nach den Zügeln.

Die warf einen langen umflorten Blick über die weite herbstliche Ebene, die sich wieder zum Totenschlaf des Winters rüstete. Geboren werden, sterben: des Lebens Los ... Die Natur predigt jahraus, jahrein den alten Spruch – nur daß an dem Wintergrab schon wieder das Morgenrot des Frühlings weichflammend in der Ferne aufsteigt. Wir Menschen aber begraben – und die Auferstehung ist nicht allen der liebe Hoffnungstraum.

Als Antwort sagte Frau von Bussard nur: »Wir waren wieder so lange am Rhein ... Am Ende ist Modeste schon hier.«

»Sie soll,« murmelte die junge Frau kleinlaut. »Ich weiß es aber nicht genau.«

Da trieb Frau von Bussard ihr Pferd zum Galoppsprung an. »Kommen Sie, Annie, wir wollen zu mir nach Haus reiten und es Judith sagen ... Sie kommt gewiß gern mit! Und auch ich möchte das junge Paar freudiger empfangen, als es hinausgeleitet ist.«

Und die kleine Frau Pescatore vergaß ganz ihre »Klasse« und rief wie in den frohen Mädchenjahren: »Ich komme mit, Tante, ich komme mit!«


Indessen ging Modeste Romeit in dem neuen Heim nachdenklich von Zimmer zu Zimmer. Seit zwei Tagen waren sie auf dem Ellerschen Gut – jedoch die junge Frau hatte sich noch nicht entschließen können, den Hofraum zu überschreiten.

Modeste war allein – eine blonde, schöne Frau; die Formen voller, der Blick klarer. Zwei Kinder trollten ihr ungeschickt nach: ein Knabe und ein Mädchen. Der Knabe mit den blassen Augen der Mutter und ihrem Pfirsichteint, das Mädchen mit der dunkeln Haut des Vaters und dickem, weichem Kraushaar ... Die Kinder fanden es köstlich in dieser neuen Welt. Es roch so wundervoll altväterisch in den niederen Zimmern – nach Tabakrauch und wurmstichigem Mahagoni! Überall dieselbe sorglose Unordnung, die dem alten Junggesellen zum Bedürfnis geworden war. Modeste betrachtete alles mit herzlicher Pietät. Aber fast wehmütig berührte es sie, daß außer den wenigen einfachen Zimmern, die der lustige Einsame bewohnt hatte, es noch ein verschlossenes Paradies gab, mit nie gebrauchten Möbeln und steifen Prunkbetten und hochgeschichteten Leinwandbergen aus einer längst vergangenen Zeit. Vielleicht daß der Junggeselle doch einmal heimlich zur Brautschau ausgefahren war; vielleicht auch, daß die Hoffnung auf ein spätes Glück erst mit ihm selbst sanft entschlummert war ...

Modeste grübelte darüber nicht. Aber sie schickte die Kinder hinaus in die Küche, wo die alte Wirtin gerade Waffeln zum Nachmittag buk. Und sie setzte sich auf einen der quietschenden Polsterstühle in diese dicke, staubige, alte Luft, wo das Holz geheimnisvoll knackte und eine Motte zuweilen lautlos aufflatterte. Ihr war, als säße sie bei einer alten Zeit zu Gaste, und Schatten wallten und Stimmen flüsterten ... Der Hauch des Gewesenen umfing sie mit leichter Beklemmung. Man sucht die Vergangenheit, man sehnt sich nach ihr – und weiß doch, daß sie eigentlich zu nichts weiter taugt als zum trübseligen Sinnieren. –

Und wie Modeste nach einer Weile den Kopf hob und auf den trüben Hofteich hinaussah und den verwitterten Schafstall, die auch ausschauten wie etwas Vergangenes – da drängte sich weit drüben der Bergfried von Barginnen tot und grau aus seinen grünen Fichten. Sie glaubte fast das Turmfenster blinken zu sehen, aus dem so viel ehrgeizige Träume hinausgeflattert waren in das Litauer Land ... Auch Vergangenheit – überstanden, vergessen ... vergeben vielleicht auch. Der alte Lindt wohnte seit Jahren in Königsberg, und das Gut, hieß es, sollte verkauft werden.

Und da begannen die letzten fünf Jahre an Modeste vorüberzuziehen – langsam, schattenhaft, bald licht, bald dunkel ... Die Hochzeit in der kleinen Stadt: einfach, ärmlich. Der alte Eller und der Barginner Kantor die beiden Trauzeugen und die beiden Gäste auch. Kein Telegramm, weder von Eltern noch von Freunden – nur ein kostbares Blumenarrangement aus Berlin von Herrn von Falkner, der eben bloß die »große Welt« kannte. Trotzdem ein frohes Fest, wo zwei junge, hübsche, tatkräftige Menschen gelobten, zusammenzuhalten in Freud und in Leid. – Sie hatten beide ehrlich Wort gehalten. Dabei war es ein schweres Los. Arbeit und Armut die Paten des ersten Kindes ... Er hatte eine Inspektorstelle angenommen, aber im äußersten Westen, wohl aus Zartgefühl für sie, welcher der Osten vergällt war. Während er sich abrackerte und abhetzte unter neuen Verhältnissen, neuen Menschen – fremd in allem, wie der schwerblütige Ackergaul der Ardennen der feingliedrigen flüchtigen Remonte seiner Heimat –, wohnte Modeste aufs äußerste eingeschränkt in Köln. Sie hätte nach Frauenart mit dem Schicksal hadern können, das ihr einst so viel versprochen und jetzt so wenig gehalten hatte. Aber sie, die ihr Schicksal sich selbst gemacht, selbst in der Hand hielt, schaute nicht weinerlich zurück, sondern mutig nach vorwärts. Und sie wurde stärker in dem Kampf, jünger, schöner. Die Großstädter sahen oft bewundernd der schlanken, schönen Gestalt nach, die sich immer einfach, aber gut trug – auch äußerlich viel zu sehr sie selbst, um in der Menge zu verschwinden. –

Nicht eine Zeile war zwischen ihr und Barginnen gewechselt worden. Darin war sie eine Lindt geblieben.

Aber an der Wiege ihres Knaben, der ihr so ähnlich war, wie nur je einer Mutter das Kind, kniete sie doch in mancher Nacht, heimlich, wie geniert vor sich selbst, und betete: »Herr Gott, bewahr ihn vor dem harten Lindtschen Herzen!« – Sie hatte in sich hineingesehen und den Kern ihres Wesens erkannt. Aber das Leben, das dem alten Knochenmehlhändler das Herz schon ganz früh zur mißfarbenen Schlacke verkohlt hatte, schliff das ihre zu einem guten Kristall.

Dann kam der Tod der Mutter – der Prozeß mit dem Vater. Vater und Kind rangen um die paar tausend Mark des Nachlasses, die Modeste alles bedeuteten, ihm nichts – mit einer Hartnäckigkeit, die erbarmungslos alles aufsog, was noch an verborgenem Gefühl bei Vater und Tochter geblieben. Modeste unterlag. Es war das definitive Ende ... Als ein Jahr später der Tod auch dem alten Eller die Augen schloß und Modeste unter Tränen endlich wieder aufatmen konnte, gerade da entbrannte seltsamerweise zwischen den beiden Ehegatten der erste, erbitterte Streit. – Er war der Feinfühligere, Weichere, wollte nicht zurück – ihretwegen. Sie aber die Härtere, Leidenschaftlichere, wollte zurück – seinetwegen. In dem großen Kampf, wo sie schließlich doch Siegerin geblieben war, wollte sie sich auch des Triumphes freuen ...

Und wie jetzt der alte Bergfried grämlich zu ihr herüberschaute, da überkam sie keine schwächliche Sehnsucht nach dem Gewesenen, kein dumpfes Grauen vor dem Kommenden, sondern sie winkte nur höhnend zurück: »Ja, mahne mich nur, du widerwärtiger Geselle! ... Aber wenn ich mich nun nicht mahnen lasse – euch allen ins Gesicht lache? – Wer zuletzt lacht, lacht doch am besten ... Und ich lache doch zuletzt!«

Die Kinder kamen aus der Küche zurückgestolpert und kletterten auf den knarrenden Möbeln herum und versuchten den längst stehengebliebenen Regulator wieder in Gang zubringen. Modeste wehrte den ungeschickten Händen, fest, aber liebevoll, wie es ihre Art daheim. Und während sie in echter mütterlicher Zärtlichkeit die kleine Gesellschaft mit den Lippen schalt und doch im Herzen liebkoste, wurde es ihr bange innerlich ... Wie würde sie es dieser weichen, törichten Jugend einst klarmachen können, daß da drüben einst ihr Vater – und doch nicht ihr Vater; daß da drüben einst ihre Heimat – und doch nicht ihre Heimat ... Man zerstört mit einem einzigen Worte so viel! ... Und dann all die Nadelstiche, die Nackenschläge... Es war doch ein tolles Wagnis gewesen, diese Rückkehr! ... Wie so oft der Bogen allzu straff gespannt, die Konsequenz allzu hart gezogen ... Aber dieses Bangen galt nicht etwa ihr. Sie wuchs höher im Kampf – das wußte sie. Aber die andern, die das Leben beginnen und es gleich mit dem bitteren Nachgeschmack beginnen sollten? ... Und Modeste wollte schon klein werden, feige wie einst ... Aber dann dachte sie wieder, daß ja überall die Sehne klingen muß, wenn der Pfeil ins Ziel schwirren soll ... Auch dieser Kampf mußte durchgekämpft werden!

Da kletterten die Kinder plötzlich an der Fensterbank in die Höhe und riefen: »Da, da, Mutter!«

Modeste sah sich ohne Interesse um. Eine Dame zu Pferde trabte rasch vorüber, dann etwas zögernd eine zweite. Sie erkannte die beiden Reiterinnen nicht. Erst als die ältere geschmeidig aus dem Sattel glitt und die jüngere sich verlegen nach Hilfe umsah – wußte sie. Mit der kühlen Sicherheit, die ihr geblieben, stand sie auf, Frau von Bussard und Frau Pescatore zu empfangen. »Frau Baronin ...«

Aber Frau von Bussard fiel Modeste sofort ins Wort: »Liebe Modeste – Annie und ich kommen doch zu Ihnen als alte Freunde. Wir kamen zur Unzeit. Das sehe ich. Schadet aber nichts – im Gegenteil! Wir wollten ja auch die ersten sein, Sie in Litauen zu begrüßen ...« Und ehrlich fuhr sie fort: »Früher, Modeste, hab' ich Sie nie recht gemocht. Sie waren mir ... wahrscheinlich zu sehr ›Lindt‹. Jetzt, wo Sie getan haben, was mancher hätte tun sollen, freue ich mich von Herzen, Sie in der Heimat wiederzusehen.«

Die Augen waren der vornehmen Frau feucht geworden, während sie so herzlich sprach. Und Modeste wollte ihr zum Dank die Hand küssen, wie so oft als Kind. Jedoch Frau von Bussard wehrte lächelnd, aber bestimmt. »Keine Dienstbotenküsse unter Erwachsenen! Sie sind slawisch und sklavisch. Ich mag sie nun einmal nicht ... Aber mit Annie küßt euch auf den Mund, wie ihr es als Mädchen gewohnt gewesen seid!« Dann scherzte sie mit den Kindern, die etwas linkisch dabeistanden. »Du, Junge, bist ganz die Mutter – und du, Mädchen, wirst wahrscheinlich ganz der Vater sein!« Dabei flog ein wehmütiger Zug um den festen, geschlossenen Mund.

»Wie geht's Judith?« fragte Modeste.

»Nicht besonders. Sonst wäre sie sicher mitgekommen. Sie läßt Sie herzlich grüßen und sagen: Sie möchten doch recht bald einmal kommen, Modeste!«

Darauf wollte Frau Pescatore, die den alten Ton noch immer nicht gefunden hatte angesichts dieses kleinen Wohnhauses, wieder weinerlich werden. »Ach, Frau von Bussard, es ist so schrecklich! ...«

Die vornehme Dame antwortete darauf fast heiter: »Kinder, was wollt ihr eigentlich? ... Was wäre denn unser ganzer Glaube wert, wenn wir über jeden Schicksalsschlag, den Gott schickt, immer nur weinen und klagen wollten! ... Gott wird doch wissen, warum er uns prüft ... Und er will keine unnützen Klagen, er heischt mutige Gläubige, die ihn am freudigsten bekennen, wenn ihnen am schwersten ums Herz ist ... Meint ihr denn, Judith wisse nicht, daß sie so bald sterben muß? – Und sie hätte nach ihrem armseligen Schicksal vielleicht mehr Recht zu klagen als wir alle. Aber sie hört nicht auf, Gutes zu tun, wo sie nur kann, und Tränen zu trocknen und zu helfen, zu trösten ... Sie hat mir selbst einmal, als ich klein und feige geworden war wegen ihres Leidens, das richtige Wort gesagt: ›Mama, wir sind für die Lebenden da und nicht für die Toten. Ich bin doch noch nicht tot ...‹ Seitdem tue ich wieder freudig meine Arbeit, führe die Bücher, revidiere die Ställe und galoppiere jeden Tag meine zwei Stunden herunter, weil ich mir doch die Spannkraft bewahren muß für sie ...«

In des alten Eller Zimmer wurde der Kaffee getrunken. Die frischen Waffeln dufteten einladend, die Kinder leckten sich heimlich die Hände, und der Tabaksgeruch, der dem alten Junggesellenheim seit fünfzig Jahren die Eigenart gegeben, kroch wieder neugierig aus Möbeln und Wänden.

Dann gingen sie in den Park, der eigentlich ein verunglückter Bauerngarten war, mit leuchtenden Sonnenrosen und steifen Georginen. Die Kinder wälzten sich auf dem schlecht gepflegten Rasen und versuchten bei der Gelegenheit, einen philosophierenden Truthahn zu streicheln, der aber sofort feindlich knurrend ein Rad schlug. Herr Romeit kam und wurde vorgestellt – noch immer die schlanke, elegante Reiterfigur, die einst Modestes Herz milder gestimmt hatte gegen die Schwefelbande der Inspektoren.

Aber auch heute zog sich der jungen Frau Stirn kritisch, weil er für gut befunden hatte, im Gehrock den hohen Besuch zu empfangen. »Sieht er nicht schrecklich aus in dem Kostüm?« scherzte sie. »Das liegt offenbar bei Romeits so drin. Des Jungen heißester Wunsch sind gleichfalls lange Hosen ...«

Herr Romeit wollte sich verteidigen. Er hatte tatsächlich eine Schwäche für steife Hüte und lange Hosen.

Jedoch Frau von Bussard sagte freundlich: »Sie sollen ein brillanter Reiter sein, wie mir schon vor sechs Jahren eine sehr kompetente Persönlichkeit versichert hat – und zum Reiter gehört hier im Osten der hohe Stiefel. Man soll im Leben immer auch scheinen, was man ist ... Denken Sie mal die Verlegenheit, wenn ich jetzt wünschte, Sie sollten mir auf der Stelle dies oder jenes Pferd vorreiten! Abschlagen könnten Sie es mir als Kavalier nicht gut – aber Sie würden in den Bügeln gerade so aussehen wie der Sonntagsreiter aus den ›Fliegenden Blättern‹, der Sie eben gerade nicht sind.«

Modeste stimmte schadenfroh lachend bei. Aber als sie die Wolke auf seiner Stirn sah, strich sie ihm besänftigend über das dichte Kraushaar. »Aber das ist noch lange kein Scheidungsgrund – nicht wahr, Otto?«

Da wurde er wieder gesprächig, zeigte den Damen die Roßgärten hinter dem Hof. Zwei Jährlinge weideten dort, und ein Fohlen wälzte sich, so daß der Staub aufwirbelte. »Die beiden Jährlinge, Frau Baronin, die taugen gar nichts. Er hat schon keinen Blick mehr gehabt, die letzten Jahre, der alte Herr. Aber das Fohlen, das wird mindestens Gardeulan, Chargenpferd!« Und er kroch durch den Drahtzaun und wehte mit dem Taschentuch, bis das Tier erschreckt davonjagte. – Es war fast dasselbe Bild wie damals – und doch so ein ander Bild! Beide fühlten es, sahen sich an, drückten sich heimlich die Hand. Und der alte Bergfried von Barginnen schaute finster zu.

Sie waren noch bei den Roßgärten, als ein Scharwerksmädchen ihnen nachgeeilt kam. »Es ist ein reitender Bote gekommen aus ...« Den Namen hatte sie aber längst wieder vergessen.

Die kleine Frau Pescatore zuckte schuldbewußt zusammen. »Wenn am Ende mein Mann ... Es ist auch unverantwortlich von mir! ... Ich muß gleich reiten.«

»Liebe Annie, das muß ich auch,« meinte Frau von Bussard ruhig. »Sie haben es übrigens bedeutend näher, wenn Sie direkt über Eyselin reiten.« – Aber auf dem Hofe erkannte sie sofort ihren Reitknecht auf ihrem zweiten Pferde. »Er bringt sicher nichts Gutes,« murmelte sie erblassend.

Sie las den flüchtigen Kartenbrief, der ihr gereicht wurde. »Ja, liebe Modeste, ich muß wirklich gleich reiten ...« Sie sprach mit etwas gezwungener Ruhe. »Heinrich, satteln Sie mir auf! Der Kutscher hier kennt sich mit Damensätteln wahrscheinlich nicht aus ... Adieu, Modeste ... Adieu, Herr Romeit – es hat mich sehr gefreut ... Aber der Arzt schreibt selbst. Es ist niemand da. Mein Mann kommt erst übermorgen aus Salzschlirf zurück ... Und Sie, Frau Pescatore, beeilen Sie sich meinetwegen nicht unnötig! Ich werde eine Pace vorlegen müssen, die Ihr Brauner doch nicht durchhält.«

Aber der Freundin Annie schlug auf einmal das »Klassengewissen« so lebhaft, daß sie unter allen Umständen mitreiten wollte.

Es ging überhaupt alles zum Abschied so hastig, daß weder Romeits noch ihre Gäste den rechten Ton beim Adieu fanden. Und als die Reiterinnen noch einmal zurückwinkten, war es ein ganz flüchtiger Gruß.

»Du hast ja ganz vergessen, die Baronesse grüßen zu lassen,« sagte er.

»Ja, allerdings, Otto. Ich bin doch etwas weltfremd geworden, wie ich merke. Es wird wohl nicht so schlimm stehen. Und was macht sie sich schließlich aus einem Gruße von mir? ... Der Baronin bin ich ja sehr dankbar für den Besuch – man merkt doch die urvornehme Frau –, aber Annie suchte es so ängstlich zu vermeiden, mit uns allein zu sein, daß ich es nur natürlich fände, wenn dieser erste Besuch auch ihr letzter wäre. Wir sind den Leuten nicht dekorativ genug ...«

»Siehst du – so bist du, Mo!« tadelte er. »Ein Nadelstich genügt.«

»Meinst du?« fragte sie bitter zurück. »Wenn ich mich umsehe: lauter Nadelstiche! ... Der Besuch hat vieles in mir aufgewühlt, was ich schon tot glaubte.«

»Deswegen habe ich auch nicht mehr hierher zurückgewollt, lieber Schatz.«

»Weiß ich, Otto. Aber ich habe es nun einmal gewollt. Und wer schließlich am meisten leidet darunter, das bin doch ich.«

»Aber du sollst nicht darunter leiden!« rief er zärtlich.

»Du warst immer der Bessere,« sagte sie nachdenklich. »Du bist's auch jetzt.«

»Ach, red doch keinen Unsinn!« wehrte er.

Sie waren bis zu der kleinen offenen Holzveranda gekommen vor dem Haus, wo der alte Eller so manchen Sommernachmittag gesessen hatte mit der Jagdpfeife und der Zeitung. Der braune Unhold erwartete sie dort wedelnd. »Siehst du, Modeste, den hast du auch überall mit dir herumgeschleppt, obgleich du ihn teuer hättest verkaufen können ...«

»Ja, Tiere, Otto! – Tiere habe ich immer gern gemocht. – Aber Menschen ...«

»Wart nur ab! Du mußt immer einen Ruck bekommen ...«

Der Herbstwind blies jetzt aus vollen Backen und wehte ein Blatt Papier bis zu der Holzveranda.

Herr Romeit hob es auf. »Es sieht so neu aus!« Und er begann die wenigen Zeilen zu lesen, die es enthielt. Dann reichte er es Modeste, die finster vor sich hingestarrt hatte. »Lies und schäme dich!«

Es war der Kartenbrief an Frau von Bussard und lautete:

»Gnädigste Baronin!

Die Baronesse wird voraussichtlich die Nacht nicht überleben. Es war ein Zufall, daß ich bei Ihnen vorsprach. – Kommen Sie sofort! ... Ich selbst muß leider weiterfahren.

Doktor X. X.«

»Nun?«

»Ich werde selbstverständlich sofort nach Bussardshof fahren, Otto! ... Judith war die einzige, die an mich geschrieben, mir Hilfe angeboten hat, als es uns schlecht ging ... Ich mag keine Almosen – du kennst mich –, darum habe ich ihr auch nie geantwortet ... Jetzt fällt mir das schwer aufs Herz. Wenn sie nun sterben sollte mit dem bitteren Gefühl ... Die Leute, die es gut mit mir meinten, die hab' ich immer von mir gestoßen. – Ach Gott, wenn ich sie doch nur noch am Leben träfe!«


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