Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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16

Modeste erwachte am nächsten Morgen mit dumpfem Kopf. Der erste klare Gedanke: ›Ich kann ihn doch nicht heiraten! ... Wenn er nur schon fort wäre! ...‹ Bei dem Gedanken atmete sie wie befreit auf. – ›Und wenn er nun schon fort wäre?‹ Da fühlte sie wieder einen stechenden Schmerz. Sie wühlte sich von neuem in die Kissen ein, den Kopf nach der Wand, einem Traume nachzuhängen, der kein Traum war.

Als sie am späten Vormittag wiederum erwachte, stand Frida vor ihrem Bette. »Die Schwadron ist schon längst da!«

Modeste reckte sich träge. »Welche Schwadron?«

»Ach Gott, tu doch nur nicht so! Es sind die vom Distanzritt.«

»Ich dachte, die kämen erst nächste Woche ...«

»Wo bist du denn eigentlich mit deinen Gedanken gewesen die ganze Zeit über?«

»Wo ich gewesen bin?« wiederholte Modeste und drehte sich, um weiterzuschlafen. Sie schlief aber nicht weiter. Sie überlegte nur, ob sie überhaupt hinuntergehen sollte zu den frühstückenden Offizieren. Am Ende entschloß sie sich doch. Das quälende Alleinsein, die Gene vor sich selbst – lieber nicht! – Sie suchte lange unter den Kleidern. Endlich wählte sie ein weißes, sommerliches, wie es die trunken piepsenden Spatzen vorschlugen und die hellfunkelnde Sonne. Als sie vor dem Stehspiegel sich noch einmal beschaute – sie sah wunderhübsch aus – schüttelte sie den Kopf und wollte sich wieder ausziehen.


Unten im Eßzimmer saßen die Herren schon bei der Zigarre. Der Importgeruch wallte. Es waren: ein sehr eleganter Rittmeister mit einer Flötenstimme und ein sehr häßlicher Leutnant mit einem verbundenen Finger. Dabei die Familie Lindt, lächelnd, liebenswürdig, mit einem halben Blick auf die reichen Reste der Tafel, als frühstücke man in Barginnen grundsätzlich nur Hummern. Der Alte konnte sich heute nicht entschließen, die prahlerische Leibbinde der langen Afrikana abzustreifen, bis ihm der brenzliche Geruch des verbrannten Papiers warnend in die Nase stieg.

Da trat Modeste ein. Die Offiziere starrten in angenehmster Überraschung. Der unausstehlich feine und gemessene Rittmeister, der persönlicher Adjutant eines königlichen Prinzen gewesen war und von dem Kommando bei Seiner Königlichen Hoheit nichts mitgebracht hatte als die königliche Schwäche für tadellose Hosenfalten und brühend heiße Bäder, sagte gerade:

»Hier in der Gegend muß auch der Öd sein Majorat haben. Wir sind kurze Zeit in einer Brigade gewesen. Vergangenen Winter traf ich ihn noch in Berlin. Merkwürdiger Mensch! Alle Öds sind merkwürdig – mal sehr verbindlich, mal sehr brüsk – mit einem kleinen Anflug von Jakobinermütze, wenigstens nach Liebesmahlen. Hätte ihn ganz gern aufgesucht. Fragte ihn früher mal nach Ostpreußen, wo ich gerade hinversetzt war. Er antwortete darauf sehr despektierlich: ›Baden sich ungern da, die Leute – genau wie der kleine Prinz von den Papsthusaren, den wir immer erst unter die Pumpe schicken mußten.‹ Na, nun kenne ich zwar Öd und seine absprechende Art gerade zur Genüge – aber die Herrschaften mögen's mir nun glauben oder nicht – im vorigen Manöver hatten wir Notquartiere. – Ich lag mit meinem eignen Fähnrich zusammen in einer entsetzlichen Bauernkate ... lasse mir von meinem Burschen die beste Uniform rauslegen, namentlich die erste Garnitur Lackstiefeln – Königliche Hoheit pflegte immer zu sagen: ›Je gemeiner das Quartier, je feiner der Lackstiefel, der daraus hervorgehen muß‹ – betete das auch dem Fähnrich vor... War ja allerdings 'n bißchen spät in der Nacht, und die Leute sehr pauvre, aber wie ich mir persönlich ein warmes Bad bestellen will – haben Sie Worte? – die Leute hatten in ihrem ganzen Leben überhaupt noch keine Badestube gesehen! Doch unglaublich – 'n Haus ohne Badestube, wenn sie auch noch so primitiv ist... Mußte damals sehr lebhaft an meinen guten alten Öd denken!«

Die Lindts schwiegen etwas betroffen, indem sie der Pelzhosen gedachten, welche die litauischen Bauern im Winter von der linken und im Sommer von der rechten Seite tragen und deren dazugehörige Beine niemals durch Wassergebrauch entheiligt werden. Schließlich lächelte der Alte aber doch zustimmend – er war ein äußerlich sehr properer Mann.

Der Leutnant aber flüsterte Modeste zu: »Der Rittmeister hat 'ne Ahnung von unserm Lande! Tut sich überhaupt so... Wenn er einen Sattelappell angesetzt hat, tippt er mit dem tadellosen Handschuhfinger ausgerechnet immer auf die Schlaufen, die noch nie ein Dragoner gereinigt hat, solange Dragoner existieren. Und dann fährt er jedem Karl so ganz langsam und vornehm mit derselben Fingerspitze unter der Nase weg: ›Schwein! Morgen zum Strafrapport‹ ... Hat sich so angefeinert, der gute Mann.«

Modeste fand das zwar auch, aber sie war nicht recht bei Laune. Irgend etwas in der dialektlosen Art des eleganten Rittmeisters erinnerte sie an Falkner von Öd. Sie spürte schmerzlich den verächtlichen Hochmut des Aristokraten und mußte dabei immer an Herrn Romeit denken mit seinem abgeschabten Wirtschaftsanzug und seiner tiefgebräunten Reiterhand.

»Ja, ja,« wiederholte der alte Lindt noch einmal würdig, »wir sind hier etwas sehr östlich, Herr Rittmeister! Aber der königstreue Geist namentlich bei den größeren Besitzern muß Ihnen doch wohltun. – Ich war früher am Rhein bei kaufmännischen Unternehmungen beteiligt und natürlich im jugendlichen Unverstand Freihändler. Jetzt, wo ich fest auf meiner Scholle sitze, wie ja auch meine Vorfahren auf ihrer Scholle gesessen haben, denke ich vernünftiger und bin schon aus reinem Patriotismus für die höchsten Schutzzölle.« Der würdige Mann gedachte in letzter Zeit besonders gern seiner Ahnen, die allerdings im Kleveschen gesessen hatten, aber als Hörige, woran er nicht gern gedachte... »Im übrigen haben Sie nur zu sehr recht! Die Bauern hier sind echte Meineidsbauern und die Inspektoren wie überall Schwefelbande.«

»Wer Ihrer doch nicht!« rief der häßliche Leutnant. »Ich traf ihn vorhin bei den Pferden. Macht 'nen famosen Eindruck. Ich habe ihn sogar zum Überfluß Herr Kamerad genannt, weil ich der Überzeugung war, er müsse Reserveoffizier sein. Scheint sehr viel von Pferden zu verstehen.«

Der Alte bewegte geheimnisvoll den Kopf, als wenn eine besonders fatale Geschichte dahinterstecke. »Ja, ja... Man sagt nichts... Man ist eben zu anständig...«

Modeste wurde rot und wollte heftig entgegnen.

Der Alte sah's und machte eine besonders würdige Handbewegung. »Jedenfalls nicht mein Geschmack, der junge Mensch. Andre, wie zum Beispiel mein lieber Nachbar Falkner, haben direkt einen Narren an ihm gefressen. – Ich aber gebe ihn billig ab, ganz billig!«

Das Stubenmädchen kam herein und flüsterte dem Schloßherrn etwas ins Ohr.

»Soll warten!«

»Will aber nicht warten, gnädiger Herr.«

»Na, dann meinetwegen.« Er erhob sich steifbeinig. »Ja, da sehen Sie's schon selbst, meine Herren! Mein Inspektor kommandiert mich und nicht umgekehrt.« Im Eßzimmer entstand eine Pause, während sich im Salon gegenüber ein gedämpftes Gespräch entwickelte.

Der Schloßherr kam langsam zurück, dabei ernst und feierlich nickend: »Vater von Herrn Romeit gestorben,« lispelte er salbungsvoll. »Tut mir von Herzen leid. Tod doch immer sehr ernste Sache. Menetekel auch für unsereinen. War, glaub' ich, im gleichen Alter...« Danach schenkte er sich etwas zittrig das Portweinglas voll und schlürfte umständlich den braungoldigen Trank. Und da war's auch glücklich vorbei mit der Rührung, die das sonst so schön gefältelte Moralgesicht auf einen Augenblick entstellt hatte. »Merkwürdig! So was fällt immer in die Saat oder in die Erntezeit, wenn's Arbeit gibt. Genau wie bei den Dienstmädchen. Denen sterben die Tanten auch regelmäßig 'nen Tag vor der großen Wäsche.«

Die Herren verzogen etwas säuerlich den Mund. Modeste aber war todblaß geworden, so daß die Schwester argwöhnisch herübersah. »Ich habe mein Taschentuch, glaube ich, vergessen ...« Sie stand auf.

»Hast du es wirklich vergessen?« rief Frida ihr nach.

Modeste hörte es nicht mehr. Sie war, so schnell sie konnte, hinabgeeilt in den Hof, ihn vielleicht noch zu sehen, zu sprechen, bevor er abfuhr. Aber als sie zum Lindengang einbog, dröhnte gerade der Wagen dumpf auf der Chaussee. Es war Herr Romeit.


Am Nachmittag ritt die Schwadron ab. Falkner von Öd, der noch im letzten Augenblick zum Diner eingeladen worden war, des Rittmeisters wegen, hatte sich mit Unpäßlichkeit entschuldigen lassen. Die Familie sah noch lange befriedigt den Dragonern nach, wie die hellblauen Röcke zwischen dem Frühlingsgrün durchschimmerten. Bis auf das letzte ersterbende Pferdegetrappel horchten sie. Dann ging Frida trällernd ins Turmzimmer, Modeste aber wandelte nachdenklich durch den Park. Der braune Unhold bummelte mit, das dumm-pfiffige Jagdhundsgesicht in argwöhnischen Falten – er hatte noch nicht vergessen, wie treulos ihn die Herrin gestern allein gelassen hatte bei ihrem leichtsinnigen Ritt. Das Fichtenharz duftete heiß in der Sonne, die Hyazinthen auf den Rabatten hoben sich bunt. Modeste hatte heut gar kein Frühlingssehnen. Sie wiederholte sich nur immer wieder: »Lieb' ich ihn denn? Lieb' ich ihn denn wirklich? – Oder war's nur der Frühling?« Sie konnte sich darüber nicht klar werden. Aber als sie an die Ehe dachte, zuckte sie förmlich zusammen. »Niemals!« ... Dennoch empfand sie weder Bedauern, noch Reue...

Und wenn's nun doch der Kuß gewesen wäre, der das Herz öffnet, wie der Lenzhauch die Knospe? ...

Später ließ sie sich den Vierjährigen satteln und ritt durch die Felder im matten Trab. Der braune Unhold, der leidenschaftlich der Froschjagd oblag, war sehr zufrieden mit der Herrin. Erst als sie beinahe auf einen Reiter stieß, erwachte sie. Und auch der Reiter zuckte zusammen, als habe er gleichfalls tief geträumt. Er grüßte. Sie aber gab als Antwort dem Pferde nur einen Schlag mit der Reitgerte, um rasch davonzukommen. Es war Falkner von Öd gewesen und Eyselinsche Feldmark.

»Du bist ja doch an allem schuld, du!«


Nun kamen auch wieder Besuche. Die »schöne« Frau Murrmann, die beiden Gadebusch. Aber weder der Danziger Ballwinter noch die falschen Fremdwörter interessierten Modeste sonderlich.

»Was hat sie nur eigentlich?« fragte die Frau Murrmann bei der Nachhausefahrt.

»Ja – was hat sie nur?« wiederholten die Mädchen. »Vielleicht ist sie heimlich verlobt.«

»Oh, so sieht sie nicht aus, Kinder!« rief triumphierend Frau Murrmann, »darin täusch' ich mich nie. Dazu war mir ihr Kleid lange nicht eklatant genug! Verliebte und Verlobte ziehen sich besonders gut an. Ja, nicht eklatant genug, liebe Marga!«

Die Schwestern zwinkerten sich darauf gegenseitig zu und mußten plötzlich über einen Chausseestein furchtbar lachen.

Die kleine Meyners hatte ihre Zeit besser ausgenutzt. Sie hatte sich in Montreux tatsächlich verlobt. Er hieß Pescatore, auf gut deutsch Fischer, und schien ein arger Windikus. Doch die kleine Meyners hing mit allen Fasern an ihm und stellte kurz entschlossen denen zu Hause die Wahl zwischen einer todunglücklichen Jungfrau tief unten im Genfer See und einer überglücklichen Frau hoch oben in Ostpreußen. Danach hielt die Mutter Meyners es für angemessen, bei sämtlichen Nachbarn vorzufahren und mit gewissen Daten zu belegen, daß die Pescatore eigentlich päpstliche Grafen und den Hohenzollern mindestens ebenbürtig seien. Man gäbe nur nichts auf Titel im sonnigen Italien. – Die Tochter aber gestand in einer vertraulichen Unterredung, daß das mit dem Marquisat eitel Einbildung sei, der Mann ihr aber lieber als ein Königssohn. Die Kürassierdamen räusperten sich hierauf verlegen und starrten nachdenklich auf ihre grauwollenen Strümpfe. Die Jüngste hatte sich beinahe in einen Leutnant Müller verliebt und machte sich nachträglich wegen dieser Gottlosigkeit bittere Vorwürfe. Und seltsam, auch Modeste rückte innerlich etwas von der kleinen Freundin weg.

Die lächelnde Verstandeskühle senkte sich überhaupt wieder auf Modestes Herz wie häßlicher Meltau. Herr Romeit war schon fast acht Tage weg. Wär's ihm so heiß ums Herz gewesen, er wäre früher zurückgekehrt. Bei ihm waren's eben nur die Sinne, bei ihr nur der Frühling. Der Stern von Barginnen machte sich das sehr vernünftig klar und beschloß darum, zu vergessen. Er vergaß auch.

Am nächsten Vormittag beim Frühstück kam ein Telegramm, das der Alte brummend beiseitelegte. »Na, endlich! Ich werde übrigens die Gelegenheit benutzen und auf zwei Tage nach Königsberg fahren. Der Wagen bleibt dann gleich in der Stadt und wartet auf den Inspektor. – Da gehe ich auch dem Geburtstage von dem alten Eller aus dem Wege. Allein ist mir der Mann ja ganz lieb – aber an so einem Tage kommt natürlich Krethi und Plethi, um sich voll zu essen und voll zu trinken.«

Modeste zitterte doch die Hand ein wenig, als sie das Telegramm las.

»Komme mit dem Sechsuhrzuge abends. Bitte Fuhrwerk. Romeit.«

Den ganzen Tag scheuchte sie eine quälende Unruhe. Wenn der Mann nun nicht vornehm vergessen konnte? Oder wenn er vielleicht vornehm schon vergessen hätte? ... Noch vor Kaffee lieh sie den Sommerrappen satteln, ritt ohne Freude durch das sprossende, duftende Grün. Die Luft schwer, die Sonne heiß. Hinter dem Eichenwald ballte sich graues Gewölk. Ein Unwetter lag in der Luft. Und wider Willen dachte Modeste an eine Jahrmarktsprophezeiung, die sehr poetisch gelautet hatte:

»Wenn des Himmels Donner hallen,
Deines Schicksals Lose fallen –
Denn ein Blitz scheucht in den Arm
Dir ein Lieb einst, jung und warm.«

Das war Jahre her, und Modeste hatte eigentlich längst aufgehört, von Gewittern etwas Besonderes zu erwarten. Fliegen schwärmten zudringlich, das junge Pferd biß und teilte nach den Quälgeistern. Es war ein unruhiges Reiten.

»Na, dann lauf, was du kannst!« sagte sie endlich ärgerlich, als der Rappe schnaubend vorwärts drängte. Er streckte sich willig zu einem langen Galopp, und wieder blieb der braune Unhold winselnd zurück. Das Ellersche Gut tauchte auf – klein, gemütlich. Schindeldächer, ein niedriges Herrenhaus. Modeste gedachte dem alten Herrn wenigstens »Guten Tag« zu sagen an seinem Geburtstag. Als sie über den Hof ritt: eine schwankende Ehrenpforte aus Tannengirlanden, vor dem Stalle fremde Wagen, Kutscher in weißen, groben Hemdärmeln. Ellers stets etwas angeheiterter Stallbursche half ihr vom Pferde. »Aber nicht absatteln, nur führen!« rief sie zurück. – Dann ging sie zum Wohnhaus, das halb im Grünen lag, den Blick auf einen kleinen Hofteich. Fliedergebüsch spiegelte sich in der trüben Flut. Ein schnatternder Erpel hob sich mit sehnsüchtigem Flügelschlag. – Die Fenster waren weit geöffnet. Herrenstimmen, Herrenlachen.

Modeste stand halb neugierig, halb unentschlossen still. Sie konnte den alten Eller genau erkennen, wie er sich zwischen den Stühlen durchwand und im breitesten Litauisch rief: »Na, Kinder, ihr sauft ja das Zeug wie Sprindwasser!« Dabei schmunzelte er und fuhr sich nach dem Kopf. »Ihr sauft mich arm! Denn das ist nicht etwa Fusel – das ist echter Jamaika von Königsberg aus dem ›Blutgericht‹...« Er hob lachend die Flasche. »Auf der Etikette wenigstens steht's – aber der Deiwel trau'! ... Die ganzen Städter lügen ja wie gedruckt.«

Der dicke Referendar dankte darauf etwas eingeschüchtert. Da rief der alte Eller strafend:

»Na, da hört doch wahrhaftig die Weltgeschicht' auf! Kommt aufs Land nach Litauen und geniert sich. Junger Mann wie Sie! Die ganze Flasch' müßt' der auf einmal auslutschen und gleich nach der zweiten verlangen.«

Der Referendar lachte und trank.

»Na, warum geht's denn jetzt? Das war brav! ...« Er klopfte dem Referendar auf die Schulter. »Sie sind mein Mann, Staatsgewalt. Schießt gut, trinkt gut, spielt auch gut... Wo sind die Karten?«

»Wo sind die Karten?« wiederholte dumpf aus seiner Sofaecke der krumme Riese.

»Ach, laßt doch die dummen Karten zu Haus!« rief ein andrer, im Zigarrenrauch Unsichtbarer. »Erzähl lieber 'nen lustigen Schwank aus deinem Leben, Eller... Wie war's doch mit der hübschen Französin aus Eyselin? – Verstehen tatet ihr über Tag kein Wort voneinander – aber wenn der Eller so gegen elf Uhr abends ans Fenster klopfte, da verstanden sie sich auf einmal ganz gut.« Die Herren lachten schallend, und Modeste erkannte verwundert in dem Sprecher den sehr wohlerzogenen Gatten der Frau Murrmann. – Er fuhr auch sogleich satt lächelnd fort: »Ich war neulich in Königsberg. Schneidige Weiber. Namentlich eins – direkt Jötterweib!« Er schnalzte begehrlich mit der Zunge.

Der alte Eller schlug jetzt mit dem Zeigefinger warnend auf den Tisch: »Gräbt der aber alte Geschichten aus, der Kreth! ... Aber wart, wart, du dicker Kujon! Ich lass' auf der Stell' anspannen und die schöne Frau Murrmann holen. Und dann sag' ich: ›Gnädige Frau, hören Sie sich nur einmal den Lunterus an, wie er renommiert!‹ – Jötterweib! Zu Hause ist der Kreth so duckmäuserisch und scheinheilig und geht wie ein Schudelchen gehorsam an der Stripp' – aber wenn die Bestie losgelassen ist, da wiehert sie und keilt aus wie ein Zweijähriger, wenn er zum ersten Male wieder in den Roßgarten kommt.« Er hob sein Grogglas, trank aber, mäßig wie immer, nur einen Schluck. Dann legte er dem Gatten der schönen Frau Murrmann väterlich die Hand um den Hals. »Dicker, wenn ich so denk'! Waren doch schöne Zeiten... Die Französin – es war ja eigentlich 'ne Schweizerin – aber Feuer! So 'ne echte Südländerin! ... Du warst auch ein höllischer Durchgänger, Dicker! ... Aber alles vorbei... Jetzt ist unser Murrmann so 'n echter Pomuchelskopf geworden – nur manchmal noch schlackert er mit dem Schwänzchen wie ein fetter Karpfen im Netz, den man eben gegriffen hat! ... Ist ja auch besser so – das heißt: Nei!« Er lächelte pfiffig. »Was sind das überhaupt für junge Leute heutzutage! Keine Jugend mehr, kein Mark in den Knochen... Da ist zum Beispiel da drüben der Duschack, der Romeit! 'n Mensch zum Gernhaben, tüchtig, gescheit und ein Pferdekenner – da sind wir alle Waisenknaben dagegen! Dabei 'n auffallend hübscher, adretter Mensch, gar nicht so wie gewöhnliche Inspektoren. Aber spielt nicht, trinkt nicht, raucht nur immer Zigarren... So einen mögen doch die Marjellens. Braucht bloß zuzugreifen. Ich sag' auch immer: ›Romeit, Sie werden's noch bereuen! Sie gehen mit Scheuklappen durchs Leben... Die Modestchen, die ist so allein und langweilt sich so... Trösten Sie sie doch 'n bißchen!‹ – Ich sag' Ihnen, wird da aber der Kreth falsch. ›Was ich von ihr dächt' und von ihm dächt'!‹... Ich schlackere dann nur so mit der Hand: ›Lieber Romeit, Sie sind jung und sie ist jung. Und ob sie nun auch 'n gnädiges Fräulein ist und am liebsten 'nen Prinzen heiraten möcht', und Sie sind nur so 'n einfacher Inspektor – was heißt das? – Jugend ist Jugend! Da gibt's keinen Rang und keinen Stand ... Die Modeste ist gewiß 'n anständiges Mädchen – aber wenn man ihr so ordentlich in die Augen sieht... Ich möcht', ich wär' dreißig Jahr jünger! Da wollt' ich Ihnen allen mal zeigen, was 'ne Harke ist‹ Aber der Kreth ist und bleibt dammlig!«

»Na, der Baron drüben soll ja Absichten haben,« knurrte der krumme Riese.

»Ja, Absichten! Hat sich was ... Der küßt die Marjellens ab und läßt sie stehen. – Aber heiraten? Da kennen Sie Öds schlecht! Vornehme Leute – und einen Riesennagel! ... Außerdem hat der bereits sein Teil. Lungert nicht umsonst den ganzen Winter an der Riviera 'rum!«

»Bis es mal zu Ende ist mit den Moneten,« brummte der krumme Riese.

»Ja, wo wird's nicht mal zu Ende gehen!« rief der Alte fröhlich. »Neulich hat er so 'n paar Berliner Lebemänner bei sich gehabt zum Schnepfenzug. Da soll der Pommery in Strömen geflossen sein ... Und wenn die Majoratsherren schon solche Sektfrühstücks geben, dann seh' ich mich immer heimlich um, ob nicht vielleicht der Sequester gerad' in den Gutsweg einbiegt. – Einmal ist der Öd mit seinem Vermögen schon fertig geworden. Warum soll er nicht das zweitemal mit seinem Vermögen fertig werden? Die besten Absichten hat er. – Ja, Kinder, das Geld ist dazu da, daß es rollt, und die hübschen Mädchen, daß man sie abknutscht!«

Wieder antwortete das wiehernde Gelächter. Das war doch etwas zu viel Grogparfüm. Modeste wollte sich leise zurückziehen.

Da erblickte sie noch der alte Eller, der gerade ans Fenster trat. »Guten Tag, gnädiges Fräulein!« rief er lustig. »Je später der Abend, je schöner die Leute.« Rasch kam er heraus.

»Ich gratuliere herzlich,« sagte Modeste, aber ohne besondere Wärme.

»Ach, gratulieren Sie nicht!« scherzte er, »wieder 'n Jahr älter und nicht klüger. Ich bin schon ganz wie gewisse Jungfern – ich sag' gar nicht mehr, wie alt ich bin.« – Modeste wollte nicht mit ins Zimmer, er aber zwang sie sänftlich: »Ich lass' Ihre Hand nicht eher los als in der Stub'!«

Kaum war Modeste in das niedere, altmodische Zimmer getreten, mit dem Groggeruch, dem Tabaksrauch, den litauischen Gesichtern, die abenteuerlich genug in dieser künstlichen Dämmerung ausschauten, da tönte Hufschlag – leicht, scharf.

Der alte Eller spitzte die Ohren. »Das ist der Baron! Der wird schon keinen Geburtstag vorübergehen lassen, ohne zu gratulieren! Ja, der alte Adel, der weiß... Nicht wahr, Fräulein Modeste?«

Aber der Stern von Barginnen war im Augenblick wieder aufgestanden. »Ich vergaß vollkommen... Es ist die allerhöchste Zeit!«

»Aber gnädiges Fräulein, da geht ja die Sonn' aus dem Zimmer!« schmeichelte der alte Vokativus.

Modeste jedoch grüßte nur lächelnd und flüchtig nach allen Seiten. Als sie in der Tür Herrn von Falkner begegnete, vermochte sie es nicht über sich, den hübschen Kopf zu neigen. – Im Weitergehen hörte sie noch, wie der Baron in seinem dialektlosen Deutsch sagte: »Herr Eller, ich komme nur auf fünf Minuten, ich erwarte Besuch« – und wie der alte Eller mit komischem Pathos erwiderte: »Der Adel bittet nicht, er gewährt nur! Und nun lassen Sie den Fuchs absatteln, Herr Baron...«

Der Stern von Barginnen ritt im trägen Schritt bis zur Gartenhecke, dann aber flog der Rappe. Das hübsche Mädchen sah wieder finster vor sich hin und murmelte: »Ach, wäre er doch tot – wäre er doch tot!« – Auf der Chaussee beruhigte sie sich etwas. Fuhrwerke ratterten, Leute grüßten. Ein auffallend städtisch angezogenes Mädchen bog vor ihr in einen Feldweg ab. Sie sah ihr sehr bekannt aus, die feine schlanke Gestalt. Modeste wollte weiterreiten. Da leuchtete es rot unter dem Strohhut der Fremden auf.

Es war das Fräulein aus Bussardshof.

»Judith, Judith!« rief Modeste durch die hohle Hand hinüber.

Die Dame schritt nur schneller weiter.

»Judith!« rief Modeste noch einmal, so hell sie konnte. Dann nahm sie das Pferd zum Grabensprung zurück und hielt eine Minute später neben der Kränzchenfreundin.

»Guten Tag. Wie geht's dir?« »Oh, ganz gut. Es ist ja Gott sei Dank endlich Frühling.«

»Du bist so sonderbar. Judith!«

»Ich bin nur eilig, Modeste. – Ich möchte dem alten Eller noch gratulieren, auch in Mamas Namen. Sie kennt ihn so lang' und mag ihn so gern! Sie selbst konnte nicht. Sie hat in Eyselin zu tun und wird mich dort an der Chaussee wieder erwarten... Adieu.«

»Adieu.« Modeste wußte nicht recht, was tun. Endlich sagte sie im Weiterreiten: »Es ist so dumm – einer zu Pferd und einer zu Fuß! Ich steige 'runter.«

»Aber warum denn?«

»Weil ich will, Judith.«

Sie schritten eine Weile stumm nebeneinander – die schöne, junge Gestalt mit allem Reiz von Kraft und Frische, und die anmutige Zarte, den kranken Rosenhauch auf den Wangen.

»Warum bist du eigentlich so, Judith?«

»Frag lieber nicht, Modeste!«

»Dann frag' ich erst recht!«

»Ach, Modeste, wir verstehen uns nicht, wir werden uns nie verstehen...«

»Weil du eine Baronesse bist und deine Mutter Gräfin war, und ich Fräulein Lindt und mein Vater früher Kaufmann... Aber so seid ihr im Grunde alle!«

»Das sagtest du schon einmal bei uns. Mich traf's damals nicht – mich trifft's auch heut nicht. Aber wenn du meine gute, kluge, vornehme Mutter angreifst, so sage ich dir: wirf sie lieber nicht mit der alten Gadebusch zusammen!... Und wenn du unter Adel nur albernen Hochmut verstehst – meine Mutter jedenfalls weiß nur von adligen Herzen.«

»Und ich habe doch recht!« fuhr Modeste erbittert fort. »Ob ihr nun Bussard heißt oder Gadebusch oder gar Falkner von Öd ...«

»Was hat der damit zu tun?« unterbrach Judith eisig.

»Ich denke, er hätte genug mit euch zu tun – wenigstens gehabt.«

»Modeste!«

»Judith!«

»Herr von Falkner ist...«

»Ein Schurke! Damit du's weißt.«

Beide Mädchen waren dunkelrot geworden und standen sich mit blitzenden Augen gegenüber.

»Was wagst du?« Es war Judith von Bussard, die zuerst das Wort fand. »Herr von Falkner ist ein Gentleman – hörst du? – ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. – Aber du bist keine Lady – nein, du bist keine Lady!« Sie war vor Aufregung zitternd auf Modeste zugetreten, die unwillkürlich zurückwich. »Du bist keine Lady,« wiederholte sie noch einmal. »Du bist eine Lindt.«

Modeste hatte die Reitgerte erhoben, als wenn sie den Schimpf mit einem Hiebe rächen wollte.

»Ja, schlag nur, schlag! Du bist so viel stärker wie ich. – Aber ich werde nicht einen Zoll zurückweichen, ich werde nicht schreien.«

Modeste senkte die Reitgerte. »Du bist krank, Judith,« sagte sie achselzuckend. »Du tust mir leid.« »Ich bin allerdings krank, sehr krank! Aber ich glaube nicht, daß das irgendeine von euch jemals beunruhigt hätte ... Ich liebe die Menschen sonst – ich möchte sie wenigstens lieben –, aber in diesem einsamen Winter habe ich erkennen gelernt, daß es für mich nur zwei Menschen gibt: meine Mutter –«

»Und Falkner von Öd,« ergänzte Modeste kalt.

»Ja, allerdings Falkner von Öd! – Ihr wißt's wahrscheinlich längst, wißt's wahrscheinlich früher als ich ... Ich müßte lügen, schreien: ›Nein, es ist nicht wahr!‹ – weil es hoffnungslos ist ... Aber ich lüge nicht, ich lüge nie ... Ihr könnt mich übrigens auch nicht verstehen – du zuletzt! – Ja, ich kenne ihn schon sehr lange. Ich erinnere mich seiner, als er mir einmal Muscheln schenkte, wie ich am Strand saß! Damals war ich ein Kind, und er kannte mich nicht. – Ich erinnere mich seiner, als er an demselben Strande entlang ging, im ganz leisen Gespräch mit einer wunderschönen Frau. Dabei wurde mir kalt ... Damals war ich kein Kind mehr! – Ich erinnere mich seiner, als er uns den ersten Besuch hier machte. Und seitdem liebe ich ihn, und seitdem hasse ich die andre Frau! ... Ja, ich hasse sie! Ich habe sie heimlich vielleicht immer gehaßt, weil sie mir nahm, was mir schon gehörte ... Ich bin krank, sehr krank, ich werde bald sterben – ich möchte bald sterben, obgleich meine unglückliche Mutter dann ganz einsam steht ... Ich kann nicht anders ... Aber für ihn hätte ich leben mögen, ewig leben! Und er hätte mich auch gesund gemacht, ganz gesund – er allein... Ich habe gekämpft, gerungen, ich hab's dem Himmel abzwingen wollen – ich hab's nicht gekonnt... Und er hat's auch nicht gekonnt... Und wenn du vielleicht denkst, daß ich dich vielleicht haßte, weil du schon bei uns mit ihm kokettiert hast und weil du die einzige gewesen bist, mit der er getanzt hat damals! Ich hätte mein Herzblut um diesen einen Tanz gegeben – um dieses einen Tanzes willen war ich da! – Es war mein letztes Gebet... Aber es wäre ein andrer Tanz gewesen auch für ihn, darauf verlaß dich! ... Er hat diesen Tanz nicht mit mir getanzt, durfte ihn nicht mit mir tanzen. Dazu dachte er zu hoch, fühlte zu echt. – Ich beneide dich wahrhaftig nicht um diesen Tanz! Ein Tanz mit dir? – Du lieber Gott... Die Sinne haben ihn betrogen. Und du wirst noch vieler Männer Sinne betrügen... Ich bemitleide dich aber auch nicht etwa, wenn er dir die häßlichste Seite seines Wesens gezeigt hat, wie du ja selbst sagst! Er ist auch nur ein Mann – und wer sich einem Manne so entgegenträgt...«

Modeste wollte erwidern, aber Judith von Bussard rief: »Sprich nicht! Schlag mich lieber! Ich kann dein Organ nicht ertragen. Es widert mich an. Du zeigst mir mit jedem Wort nur schrecklich, wie wenig wert wir Frauen sind... Vielleicht möcht' ich auch sein wie du: kalt, berechnend, verlogen. – Und wenn du einmal ehrlich sündigen solltest, so wirst du mit den Sinnen sündigen, aber nie mit dem Herzen, du Glückliche! ... Ich hätte mit ihm gesündigt – ja, ich hätte mit ihm gesündigt! Ich hätte alles getan – das Schlechteste... Aber ich hätte es mit dem Herzen getan! Und Gott sieht nur die Herzen an... Ich mag dir tiefer stehen nach solchem Geständnis – mir steh' ich nur höher... Denn die Liebe muß jedes Opfer bringen, am freudigsten sich selbst. – Du aber wirst niemals etwas von dir opfern können, geschweige denn dich selbst – du wirst niemals das Hochgefühl empfinden können, das schon der Gedanke an dieses heißeste Opfer in uns schafft... du wirft glücklich werden auf deine Manier. – Aber ich tauschen mit dir? Ich? – Ich tausche mit niemand! Ich bin in meinem Unglück doch glücklicher als ihr alle. Und wenn auch sein Herz einer andern gehört – kann ich's ändern? – ich werde ihm doch treu bleiben, und meine Liebe soll erst verlöschen mit mir.« Der Atem verging ihr. Sie winkte Modeste zu gehen.

Aber Modeste blieb kalt stehen und sah ohne Mitleid, wie dieser leidenschaftliche Ausbruch alle Lebenskraft da drüben verschlungen zu haben schien.

»Ich bitte dich, Modeste, geh!« bat Judith von Bussard noch einmal. Und die unzerstörbare Güte der reinen Frau fügte mit wehem Lächeln hinzu: »Vergiß! Tu mir's zum Gefallen! Ich habe jetzt Fieber – ich rede dann sonderbar... Ich wollte dir ja nicht so wehe tun... Aber ich habe den ganzen Winter über so schwer gelitten. Sei doch froh, daß du noch nicht weißt, was leiden heißt!«

Da ging Modeste zögernd, mit zusammengepreßten Lippen, ohne Gruß. – Und so ging sie immer weiter, das Pferd am Zügel, ohne an ein Aufsitzen überhaupt zu denken. Aus einem gelben Rapsfeld sprang ihr der braune Unhold entgegen. Die Herrin hatte ihn wieder treulos verlassen, er aber war ihren Spuren gefolgt und begrüßte sie mit winselndem Freudengeheul. Sie streichelte ihn, den Blick ins Leere. »Gib mir die Quaste! Gib mir die Quaste!« sagte sie vor sich hin. Dann blieb sie wieder stehen: »Hab' ich wirklich nur Sinne? – Bin ich wirklich nur schlecht? ... Sie hat nicht recht! ... Aber wenn sie recht hätte? – Und sie darf nicht recht haben, sie darf nicht! ... Such' ich nicht auch? Leid' ich nicht auch? – Ja, ich bin schlecht – gewiß! Aber wenn ich einmal gut sein will, da steh' ich allein, so mutterseelenallein – ich muß einen Hund an mein Herz nehmen, um etwas Warmes zu fühlen... Sie haben alle gut reden! – Wenn ich empfinden will wie sie, muß ich über Barginnen hinaus, über meine Eltern hinaus, über mich selbst... Was kann ich schließlich dafür, daß ich eine Lindt bin? ... Sie sind alle Pharisäer, alle, alle!« ... Dann sagte sie wieder erbittert: »Ich kenne die Liebe nicht – ich kenne sie nicht! – Die Sinne verstand ich immer. Die Sinne versteh' ich jetzt auch – aber die Liebe?« ... Sie starrte eine Weile so finster vor sich hin, daß sie sich vor ihrem Spiegelbild entsetzt hätte. Dann stampfte sie mit dem Fuß auf: »Meinetwegen – dann bleibe ich eben, was ich bin! ... Habe ich kein Herz? – Auch gut! Ich bin des Suchens danach herzlich satt... Und wenn ich gestorben bin fast an dem Kuß von dem einen Mann und der Kuß von dem andern mir noch jetzt köstlich durch alle Fibern zittert – es ist Sinnlichkeit, es ist Sünde! – aber soll ich noch länger mich sperren gegen mich selbst? ... Das Schicksal von meinen Schwestern möchte ich nicht – das von Judith Bussard erst recht nicht! – Denn der Mann, den ich gern mag, der muß mich auch wieder mögen, oder ich mag ihn nicht mehr... Mir bleibt eben nur die Sünde – und ich reite ihr jetzt schnurstracks entgegen!«

Sie saß rasch auf und ritt in schnellem Trabe weiter. Grau-düsteres Gewölk hatte sich hüben und drüben zusammengezogen, säumte den Horizont wie mit einer Riesenmauer. Die Natur verstummt. Die Saaten fahl, das Rapsfeld blaß, von den Wiesen leises Insektengezirp. Kein Blatt schwankte, kein Vogel sang. Die Wagen auf der Landstraße fuhren rascher. Nach Eyselin zu strebte im Galopp ein Reiter.

An der Chaussee nach Tilsit zögerte Modeste, sich umschauend. Die Wolkenwand reckte sich dunkel und schwer. Ein lauer Windhauch ging durch die Ebereschen. Es mochte gegen sechs Uhr sein, aber es dämmerte schon. In der Ferne dumpfes Grollen, zuckendes Schwefellicht – die Klugen kehren zurück, die Toren reiten weiter. – Der Sommerrappe streckte schnuppernd den Hals seitwärts, wo Barginnen im trüben Dunst verschwand. Aber Modeste nahm die Zügel des Tieres kurz und wandte ihm den Kopf nach Tilsit. Die Chaussee menschenleer – ein einziger zerlumpter Handwerksbursche, der in der Eile, den nächsten Krug zu erreichen, das Betteln vergaß. Der Rappe trabte scharf auf dem weichen Sommerwege. Dann wallte Staub auf. Die Zweige der Chausseebäume begannen sich zu neigen – die Äste zu klagen ... ein Sausen ging hoch durch die Lüfte. Von Westen die düstere Riesenwolke zog heran wie ein Gespensterschiff. Ein Blitz zuckte stechend daraus auf, schwer hallte der Donnersalut. – Der Sommerrappe spitzte die Ohren und schnaubte ängstlich. Modeste setzte sich im Sattel zurück und gab die Hilfen zum Galopp. Aber das Gespensterschiff glitt ihr nach – tief und unheimlich, gerade über ihrem Kopf. Seine ganzen Breitseiten lohten im Gespensterlicht. Die Ebene gab's im tückisch gleißenden Reflex zurück. – Das Pferd zitterte, wollte nicht vorwärts und nicht zurück. Modeste gab ihm die Peitsche. Wieder ging's weiter im ängstlich schnaubenden Galopp. – Da krachte ein Schlag, so nah, so schwer, daß die Baumstämme erzitterten und die Äste sich duckten. Der Sommerrappe stutzte, prallte zur Seite – raste dann in der Karriere davon. Modeste griff vor in die Zügel, den Durchgänger zu halten – sie vermochte es nicht... Es war ein Augenblick, wo auch einem Manne das Herz gepocht hätte. Aber das Mädchen fühlte weder Angst noch Beklemmung. Ihr war, als wenn bei diesem wilden Jagen sich in ihr etwas freudig straffte. – Sie vermochte zu denken: ›Warum findet dich die wirkliche Gefahr immer so viel stärker, als du gedacht? ...‹

Um sie brauste es, seufzte es, ein mißfarbener Staubnebel hüllte sie ein. Da klang ganz von fern ein klägliches Aufheulen durch die Dämmernacht. Es war der braune Unhold und sein kindischer Verzweiflungsschrei. – Sie riß an den Zügeln, und das Tier, dem die tolle Jagd wohl auch zuviel geworden war, stand. Sie rief: »Flock! Flock!« Keine Antwort. – Erst nach Minuten ein klägliches Gewinsel, verschlungen von den Regenströmen, die jetzt in dicken Strahlen niederklatschten. Modeste fühlte die häßliche Kühle durch die Taille auf die Haut rieseln. Auch der Rappe schüttelte sich und drängte vorwärts. Endlich kam der braune Unhold angaloppiert, winzelnd, jaulend, gänzlich verzweifelt und als verwöhntes Kind fest entschlossen, erst auf Modestes Schoß sich zu beruhigen. Modeste lächelte, wie er sich wieder und wieder schüttelte und sich dann jappend auf die Chaussee setzte, als wollte er sagen: »Weiter geh' ich nicht!« – Aber die Herrin rief: »Komm, komm, mein Hundchen! Bis zum nächsten Krug mußt du schon noch aushalten!«

Ganz durchnäßt langten alle drei in dem Kruge an. Es war ein großer einsamer Krug, wo die Frachtfuhrleute Rast machten. Draußen verregnete, kopfhängende Pferde vor leeren Krippen, drinnen wüste Männergesichter beim Schnaps.

Modeste wurde ins Herrenstübchen geführt, mit einem geblümten Kanapee und dicker Stickluft. An der Wand ein verräuchertes Kaiserbild voll Fliegenschmutz, ihm gegenüber ein Buntdruck unter Glas: breitlächelnde Bauern um einen festgeketteten Pumpenschwengel. Die Aufschrift: »Hier wird nicht gepumpt!« Litauischer Kneipenhumor... Die schlampige Wirtin wollte Modeste ein Kleid borgen, aber dem Fräulein graute schon bei dem Gedanken. Sie bestellte für ihren Hund einen Teller Suppe und für sich eine Tasse Kaffee. – Sie fühlte sich gar nicht unglücklich in dieser häßlichen Umgebung. So war eben das Land. – Die Zichorienbrühe dampfte, der Hund schnalzte – Modeste aber dachte zurück an den Ritt und fragte sich wieder: ›Warum kenne ich eigentlich die körperliche Feigheit so gar nicht – und warum bin ich innerlich doch so feige?‹

Die Tür zum Krugzimmer stand weit offen. Der Wirt schlurfte breitspurig auf ausgetretenen Pantoffeln, die Wirtin wischte ein Schnapsglas mit der blauen Schürze aus. Vor der Tombank ein junger Knecht, der mißtrauisch den schwanken Stiel einer neuen Peitsche prüfte. – Draußen Wagenrollen. Der braune Unhold wedelte, als witterte er etwas Heimatliches... Modeste horchte auf: »Ob er halten wird? – Nein, er hält nicht! ... Es ist auch besser so...« Aber in demselben Augenblicke hatte sie auch schon das verquollene Fenster aufgerissen und rief: »Kutscher, halten!«

Der trunkene Mann auf dem Bock lallte, ruckte an den Leinen, und der schwere Landauer hielt vor dem Kruge.

Aus dem Innern eine ärgerliche Stimme: »Was ist das nun wieder? Ihr habt gerade genug getrunken! Vorwärts – hier wird nicht gehalten.«

Da klopfte Modeste an das Wagenfenster. »Ich bin's, Herr Romeit! Ich bin hier nämlich eingeregnet.«

Herr Romeit stieg rasch heraus. »Ach, gnädiges Fräulein! Verzeihung...«

»Ich will mitfahren, Herr Romeit, aber nur unter der Bedingung, daß der Wagen abgeklappt wird.«

»Sofort, gnädiges Fräulein!« Und er griff selbst zu mit der braunen, sehnigen Hand, die leicht zitterte, als das Verdeck endlich knarrend zurückfiel. »Wollen gnädiges Fräulein einsteigen?«

»Aber ich habe den Sommerrappen hier. Ich glaube, er markiert vorne links etwas.«

»Ich lasse ihn morgen ganz früh holen,« beruhigte er.

Da zauderte sie wieder. »Ich könnte ihn eigentlich selbst im Schritt zurückreiten.« Sie sah dabei in die klare, kühle Frühlingsnacht hinaus, die von der wilden Empörung der wilden Elemente vorhin nichts mehr wußte. Nur die Bäume tropften noch. »Also, Sie lassen ihn ganz bestimmt holen, Herr Romeit?« Dann stieg sie in den Wagen, dessen Rücksitz der braune Unhold bereits belegt hatte, um die Kutscherlivree wedelnd zu beriechen.

»Taugt er eigentlich etwas, gnädiges Fräulein?« fragte Herr Romeit, auf den Hund zeigend.

»Vorläufig zernagt er noch alles. Aber ich habe ihn gern.«

Als sie abfuhren, sah die Wirtin kopfschüttelnd nach: »Is ja gelogen! Lahmt ja gar nicht, der Kreth!« Dann wischte sie sich mit der blauen Schürze die Nase und trat gähnend in den Krug zurück.


Lichter Dunst stieg von den Saaten auf, die Wiesen dufteten feucht. Die Luft rein, köstlich. Kein Laut – nur das stumme Wachsen und Sprossen, das Geheimnis des Werdens, das die Frühlingsnacht wie ein Zauber umspinnt. –

Die beiden saßen eine Weile stumm. Der Zauber umspann auch sie. Endlich sagte Modeste etwas nüchtern: »Sie haben Ihren Vater verloren, Herr Romeit? Es tut mir herzlich leid.«

»Danke, gnädiges Fräulein.«

»Sie haben Ihren Vater sehr liebgehabt?«

»Aber natürlich, gnädiges Fräulein.«

»Sie sind lange fortgeblieben...«

»Ich mußte.«

»Und wahrscheinlich auch gern.«

»Gern!« wiederholte er leise. Ihre Augen trafen sich, glitten aneinander vorüber. »Gern? Ich habe die ganze Zeit nur an Barginnen gedacht.«

»Das sollten Sie aber nicht!«

»Ich mußte...«

Dann schwiegen sie wieder. Der Kutscher auf dem Bock wankte und schwankte, indes die Braunen ihren müden Trott gingen. Modeste sah die östliche Ebene vorübergleiten – so stumm, so nebliglicht, wie in köstlicher Erschlaffung dem Morgen entgegendämmernd.

»Sind gnädiges Fräulein mir böse?« fragte er.

»Nein.«

»Gnädiges Fräulein ahnen ja gar nicht...!«

»Ich weiß, ich weiß, Herr Romeit...«

Wieder Schweigen.

Modeste war die Kehle wie zugeschnürt. Aus einem Rapsfeld lugte ein Reh, das große sanfte Auge ohne Scheu... Das gleißende Gelb, die dampfenden Saaten – der feuchte Wiesenduft. Wie ein Traum zog alles vor den Sinnen des schönen Mädchens vorüber, sie zu fangen, zu ketten mit den holden Armen der Frühlingsnacht. – Als sie in den Lindenweg einbogen, fuhr der Wagen mit jähem Ruck auf den Prellstein, hielt, der Kutscher sah sich blöde um.

»Ich will hier schon aussteigen,« sagte sie.

Sie gingen ein paar Schritt.

»Gute Nacht, Herr Romeit.«

»Gnädiges Fräulein, darf ich nicht noch einmal Ihre Hand küssen?« flüsterte er.

»Ja – aber um Gottes willen nicht hier! ... In dem Seitenweg da.«

Dort ließ sie ihm die Hand, den Kopf abgewendet. Aber sie fühlte den heißen Kuß durch den Handschuh durch. Sie begann zu zittern... Dann trat sie auf einmal mit ganz blassen Augen auf den Mann zu, so daß beider Atem sich mischte. »Küssen Sie mich! Küssen Sie mich, wie Sie mich damals geküßt haben...«

Er umfing sie leidenschaftlich.

Sie schloß die Augen. »Mehr – mehr!« hauchte sie.

Er küßte sie zum Ersticken.

Da riß sie sich schweratmend los, trat zurück, schaute ihn an mit einem bösen, heißen Blick. – Dann sagte sie seltsam ruhig: »Ich will dir geben, was du willst – ... Aber nimm's, wie ich's dir gebe, ohne zu fragen, ohne zu sagen... Es ist eine Sünde! – Aber ich will sündigen...« Nach einer Weile fuhr sie wie im Selbstgespräch fort: »Denn ob ich dich liebe, wirklich liebe – das weiß ich noch nicht... Du bleibst ja nur noch zwei Monate hier. Dann ist's aus... Ich wünschte, es wäre erst aus!« Darauf ging sie von dannen, ohne sich noch einmal umzusehen.

Und der Mann trat wieder zurück ans Gebüsch und murmelte glückselig: »Modeste! Modeste – ich habe dich ja so schrecklich lieb.« Er wartete, bis das Licht im Turmzimmer aufflammte, dann grüßte er noch einmal mit Hand und Mund. – Und wenn auch seine Mutter heute noch gestorben wäre, er hätte doch nicht anders können, als jauchzen vor Glück.


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