Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Sie hatte das Gefühl: »er« müsse es sein. Sie stand auf. – Ein Mietswagen mit mageren Kleppern. Der weiße Mützenstreif der 25. Dragoner leuchtete aus dem Fond. Es war wahrlich zum Lachen! – Der dicke Major und Bezirkskommandeur, der grundsätzlich nur zum Schüsseltreiben kam, und von dem Modeste in übermütiger Laune einmal gesagt hatte: sie könne nie begreifen, daß er unverheiratet sei, denn er beanspruche doch überall den Raum einer größeren Familie. In der Tat hatte der Brave nur eine Geliebte, die Uniform seines Regiments – und der war er treu.

Modeste ging sofort zum Fauteuil zurück. Wenn Träume in der Wirklichkeit so ausschauen! – Es kamen noch andre Wagen. Sie aber schaute geflissentlich nicht mehr auf, obgleich es nur einer leichten Biegung des hübschen blonden Kopfes bedurft hätte. Sie blieb lieber gedankenlos sitzen, während sich die Gesellschaftszimmer nebenan schon füllten. Sprechen, Lachen, ein klirrender Sporn. Sie wäre am liebsten so den ganzen Abend geblieben – träge, stumm, vergessen. Es war wohl der Herbst, das dumpfe, schwere Rieseln, das sie umfing mit müder Dämmerpoesie.

Draußen stieg der Mond auf. Sein Gespensterlicht kroch durchs Zimmer. Sie hielt einen Augenblick die Hände vor die Augen. Sie taten ihr weh. – Als sie die Hände wegnahm, hing der Mondschein gerade weich blinkend auf einem Bild. Eine Photographie, eine verblaßte, alte in einer verlorenen Ecke. Das Bild starrte so tot und doch so hell, daß Modeste es ansehen mußte. Sie kannte es nur zu gut und verachtete es nur zu sehr. Aber es hatte seine Geschichte. An diese Geschichte mußte sie denken... Ein schöner, regelmäßiger Frauenkopf, die roten Lippen weich, wie geöffnet zum Kuß, aber die Augen groß und tief. Ein Bild, bei dem man nach dem Original fragt. Aber die Lindts fragten danach nie. Es war die Schwester ihres Vaters, als junge Frau dem Manne, den Kindern davongegangen, ohne Reue, ohne Scham, der Liebe folgend, die sie bei Nacht und Nebel aus dem Hause trieb – verdorben – gestorben später, man wußte nicht einmal, ob in einem Bett oder auf Stroh. Lindts war diese Frau wie der Fleck auf der Ehr'!... Aber als Modeste so hinstarrte, widerwillig, mit gefalteter Stirn und zusammengekniffenen Augen, da senkte sich der tiefe, leidenschaftliche Blick der Verfemten in den ihren und gleißte in eisiger Verachtung. Und Modeste fühlte, wie diese Augen langsam Macht über sie gewannen, sie zwangen, besiegten... Strahlte ihr da von der Sünde das große einzige Gefühl entgegen, die Liebe, die keine Moral kennt, weil sie die Moral selbst ist? Oder wollten sie diese Augen nur warnen vor einem ganzen Schicksal, das die halben Menschen niemals zu tragen vermögen? – Das Bild verblaßte. Der Mond war höher gestiegen.

Modeste stand auf. Sie lächelte hochmütig: »Schicksal? Was ist Schicksal? Man liest davon in Büchern – und es sind allemal Toren.« ... Ein Tor aber war der Stern von Barginnen wahrhaftig nicht...

Sie ging sehr ruhig in den Salon hinüber. Das künstliche Licht floß ihr entgegen – ihr Licht.

Die Gesellschaft war bereits versammelt. Bis auf die Lindtschen Damen nur Herren. Modeste trat unter sie wie immer, keck, sicher, elegant – freudig empfangen als die junge Königin dieses alten Schlosses. Sie streckte in lässiger Kameradschaft allen die Hand hin. Den alten Herrn, der diese Hand küssen wollte, zwang sie fast aufs Knie und lächelte dazu.

»Wird bald gegessen?« fragte sie kurz.

»Es wird schon gemeldet werden, liebes Kind!« verwies der alte Lindt würdevoll. Sie sah sich im Kreise um. »Ach, ihr erwartet noch jemand!«

»Allerdings, liebes Kind!«

»Na, auf den Falkner von Öd könnt ihr noch lange warten, lieber Papa!«

»Und werden auch warten, liebes Kind!«

»Ich hätte lieber nicht gewartet.« Sie zuckte gleichgültig die Achseln. Dann setzte sie sich auf einen Hocker und zupfte die Fransen der Tischdecke zurecht.

Ihr Tischherr, der Leutnant von Häwel, gesellte sich zu ihr. »Ich werde den Vorzug haben, gnädiges Fräulein.«

»Ich wünschte, den hätten Sie schon jetzt!« – Als der junge hübsche Herr, den sie noch als großen Jungen kannte und an dem ihr eigentlich nichts interessant war wie ein falscher Augenzahn, der mit zu seiner Offiziersequipierung gehört hatte – sich mit einer liebenswürdigen Eloge tiefer zu ihr beugte, sagte sie gelangweilt: »Ich habe Hunger, reellen Hunger, Herr von Häwel! Den möchte ich mir nicht mit Süßigkeiten vorher verderben.«

Herr von Häwel trat darauf steif zurück: »Bitte untertänigst um Verzeihung, gnädiges Fräulein.«

Modeste aber zupfte ihre Fransen ruhig weiter.

Die Gräfin Axsil spielte unterdessen auf ihrem Sofaplatz mit dem Stiellorgnon, die Mutter Lindt lächelte verbindlich, der alte Knochenmehlhändler aber ging mit der Uhr ungeduldig auf und ab. Frida schielte nach der Tür. Indessen standen die andern Herren im Halbkreis umher – eine lebhafte Debatte, der Graf Axsil mit höflicher Interesselosigkeit folgte.

Es waren ungefähr ein halbes Dutzend Herren: der Bezirkskommandeur, dann Herr von Roden, ein alter wackliger Edelmann mit einem töricht gutmütigen Vogelgesicht, bekannt unter dem Spitznamen: die siebenzinkige Ahnensuse. Unzählige törichte Geschichten von ihm kursierten. Vor allem ein Depeschenwechsel mit dem Kreiswundarzt: »Knecht das Bein gebrochen. Was tun?« – Der Arzt depeschierte zurück: »Wo Bein gebrochen?« – Darauf die Ahnensuse prompt: »Direkt hinter dem Schafstall.« – Modeste konnte sich seitdem keinen Schafstall mehr ohne Herrn von Roden vorstellen.

Weiter ein adeliger Gutsbesitzer aus dem Mecklenburgischen, sehr behäbig, sehr liebenswürdig, ein früher erfolgreicher Kurmacher der Gräfin Axsil... Außerdem die drei Kletteraffen – Herr von Falkner sollte sie so getauft haben. Der schwarze Barbarossa: vom jüngsten Adel, schöner Mann. – Die »Wühlmaus«, klein und rasch, mit den aufgesträubten Schnurrhaaren und den Augen eines Nagers. – Die »Ziege«, so genannt, weil sie beim Lachen meckerte. Alle drei vorzügliche Landwirte, wohlhabend, ehrgeizig, an der gesellschaftlichen Kletterstange hängend wie die Affen und fest entschlossen, die höchsten Ehren zu erringen. Bei Lindts standen gerade sie im wohlverdienten Ansehen. Der alte Ehrenmann vom Rhein war selbst viel zu sehr Parvenü, um nicht wie sie die willige Wetterfahne für jeden Wind von oben zu sein.

Dann ein bekannter Viehzüchter, krummer Riese, gutmütig, von schlechten Manieren; aber selbst durch den dichtesten Weinnebel hindurch sahen diese verschwommenen Trinkeraugen den geringsten Fehler an Kalb oder Stier. Sein Freund, ein Herr Eller, kleiner grauhaariger Gutsbesitzer mit schlauen Augen und beißendem Witz, der in dieser Gesellschaft wohl nur deswegen so wohl gelitten war, weil er so wenig zu ihr gehörte. Modeste kannte ihn von Kind auf und liebte ihn sehr.

Ein dicker Referendar und der bürgerliche Bezirksadjutant waren Modeste höchst gleichgültige Zugvögel.

»Aber Herr von Roden,« sagte der dicke Referendar eben, »warum in aller Welt sollen denn eigentlich die Reserveoffiziere bei den Leibkürassieren weniger vornehm sein als bei den Königshusaren? Vielleicht weil Bülow da steht? Bülows gibt's wie Sand am Meer!«

Der alte Edelmann lächelte. »Rangliste!«

Graf Axsil reichte höflich den etwas abgegriffenen Band herüber: »Bitte!«

Die siebenzinkige Ahnensuse setzte umständlich den Klemmer auf. »Sehen Sie, Herr Referendarius: von – von – Graf ... selbstverständlich...« Darauf legte er den Klemmer kopfschüttelnd beiseite: »Augen werden wirklich schwach.«

Der dicke Referendar bemächtigte sich des Bandes und rief sofort triumphierend: »Aselmeyer steht da, einfach Aselmeyer!«

»Ja, stimmt, Aselmeyer, einfach Aselmeyer!« ... bestätigte Herr von Roden. »Aber das ist ja auch ganz nebensächlich, nicht wahr, meine Herren?«

Die drei Kletteraffen nickten stumm, der dicke Referendar aber sagte revolutionär: »I wo nebensächlich!« –

Da klopfte ihm der alte Eiler freundlich auf die Schulter und sagte im breitesten Litauisch: »Ja, lieber Freund, da kennen Sie unsern Herrn Baron hier ganz richtig. Dem ist das gar nicht egal – im Gegenteil! Der fragt später noch mal im Himmel die sämtlichen Erzengel nach ihrem Stammbaum... Das muß auch so sein!« ... Und zu dem krummen Riesen gewendet: »Nicht wahr, Wagner, du hältst bei deinem Rindvieh doch wahrhaftig auch auf Stammbaum!«

Die Herren lachten, lächelten, schwiegen, wandten sich ab. Herr von Roden aber sah sich töricht im Kreise um und lächelte mit.

Modeste hatte am lautesten gelacht und am schnellsten aufgehört. Sie liebte die derbe litauische Art sehr. Aber wie sie so über die ganze Gesellschaft hinsah mit dem hellen, scharfen Blick, dem jede Gutmütigkeit fehlte, da zuckte sie plötzlich innerlich zusammen. Sie durfte den Adel nicht verlachen – sie nicht! – Dabei fragte sich der kluge Kopf zugleich: ist das hier nun eigentlich der Adel oder nur sein Phantom? – Nein, das war wahrhaftig der Adel nicht, der dieses Ordensschloß erbaut, der bei Tannenberg bis zum letzten Atemzug geblutet! Das war sein Zerrbild, diese Ahnensuse, ein Hohn auf seine Geschichte... Wenn der letzte Schloßkomtur von Barginnen jetzt hier eingetreten wäre, er hätte laut auflachen müssen über diese Epigonen, deren Blut sich verdünnt bis zur höflichen Gleichgültigkeit der Axsils, dem greisenhaften Dünkel der Rodens! – War alles Schatten geworden, wie diese Tradition selbst? Oder gab's noch das echte adlige Blut, das so gut und so blau war, daß es sich niemals mit dem brennendroten der Lindts mischen konnte? – Und sie schaute unwillkürlich nach der Tür – fast ängstlich. Wenn dieser heiß ersehnte Falkner von Öd jetzt hereintrat, und wenn er dieses blaue Blut besaß, was konnte er jemals ihr sein, was sie ihm?

Es waren unklare Gedanken, die ihr da vorüberzogen. Mädchensehnsucht nach dem Unbekannten, Mädchenscheu vor dem Unbekannten.


Der Panierherr von Eyselin kam übrigens nicht.

Herr Lindt klappte den Deckel der Remontoiruhr vorsichtig zu: »Luise, ich dächte –«

»Ja, gewiß, Fritz!«

Der als Diener frisierte Gärtner stand zwischen den Portieren der Tür unbeweglich wie eine Pagode. Frau Lindt blinzelte ihm mit den Augen zu, und der bäurische Bursche blinzelte naiv zurück.

Modeste lachte, daß ihr die Tränen in die Augen traten. »Strauß, es soll gegessen werden! Sie sollen melden!« rief sie. »Ach, Kinder, es geht doch nichts über wohlgeschulte Dienstboten!«

Die Paare ordneten sich. Die Mutter mit Herrn von Roden, die Gräfin mit dem schwarzen Barbarossa und so weiter. Frida sah sich verlegen um. Herr von Häwel zögerte absichtlich. Modeste, die das merkte und sich als star jede graziöse Ungezogenheit gestattete, rief der Schwester zu: »Ehre, wem Ehre gebührt – ich trete dir Herrn von Häwel feierlich ab. Ein kurzer Arm, ein langes Schwert... Du weißt ja.« Und noch ehe jemand diese kecke Diversion hindern konnte, ging sie rasch auf den alten Eller zu: »Kommen Sie, Ellerchen, ich engagiere Sie!... Aber Sie müssen mir dafür auch alle Neuigkeiten erzählen, die in den drei letzten Monaten in der Gegend passiert sind!«

Der kleine alte Herr schmunzelte und rieb seinen ruppigen Schnurrbart galant an Modestes Hand. »Alles, gnädiges Fräulein – ja noch mehr, wenn's möglich wäre ... Sie sind doch das reizende Marjellchen geblieben, das Sie immer waren!«

Das Essen exquisit, die Stimmung feierlich.

Modeste saß sehr weit unten und schien sehr lustig. Der Diener Strauß stieß ein Weintablett um und goß gleich darauf mit verhängnisvoller Sicherheit der Gräfin Axsil die Fischsauce in den Rückenausschnitt. Während die Dame entsetzt aufsprang und die Gesellschaft nicht recht wußte, ob sie lachen oder weinen sollte, klang die Stimme des Mecklenburgers markiert behäbig durch die bange Stille: »Meine gnädigste Frau, ich ziehe unter allen Umständen die Brust dem Beine vor.«

Der alte Eller, ein großer Vokativus, flüsterte darauf pfiffig dem krummen Riesen zu: »Nicht wahr, das kommt drauf an, Wagner?«

»Na, ob's drauf ankommt, alter Otter!« grinste der.

Als die Gräfin etwas leidend wieder erschien, hielt Herr Lindt das Sektglas bereits in der Hand: »Meine Herrschaften, es freut mich sehr, Sie hier alle so frisch und munter begrüßen zu dürfen! Zwar der Landwirtschaft geht's hundeschlecht, aber der Jagd ist's dafür um so besser gegangen. Und ob ich auch selbst nur ein alter Krippensetzer bin, der alles jüngeren Leuten überlassen muß, auf dem Hof wie auf dem Feld, so reichen meine schwachen Augen doch noch so weit, um aus der Schußliste erkennen zu können, daß fünfundneunzig Hühner zur Strecke gebracht sind. Gepudelt hat keiner. Wer den alten Rebhahn 'runtergeholt hat, weiß ich nicht, doch will ich zu des Herrn Referendars und des Herrn Leutnants Jägerehre annehmen, daß ihn der eine von rechts, der andre von links totgeschossen hat. Jagdkönig ist...« Herr Lindt suchte nach seinem Klemmer.

»Der Jagdkönig ist nicht da!« rief der Referendar.

»Aber er ist wirklich nicht da, Papa,« bemerkte halblaut der Graf.

Herr Lindt räusperte sich kräftig: »Jagdkönig ist – mein lieber Schwiegersohn, der Graf Dagobert von Axsil. Horrido!«

»Joho!«

Die Gläser klangen.


Aber Graf Axsil erhob sich gleich darauf und schlug leicht an den Kelch: »Herr Inspektor Romeit ist Erster mit zweiunddreißig Hühnern; erst viel später komme ich mit siebenundzwanzig. Da ich aber den Herrn leider nicht in unserm Kreise erblicke, denke ich in seinem Sinne und dem aller Jagdteilnehmer zu handeln, wenn ich mein Glas leere auf das Wohl der Damen und des Hauses Lindt!«

»Na, das sind Leute!« brummte der alte Eller und fuhr sich mit einer komischen Geste über den grauen Kopf. »Laden den Jagdkönig nicht mal ein!«...

Modeste, die ein sehr scharfes Ohr hatte, fragte darauf zum Vater herüber: »Warum ist Herr Romeit denn nicht hier, Papa?«

»Weil der Inspektor in die Wirtschaft gehört, liebes Kind! Wenn er nachgesehen hat, ob die Pferde auch gut abgefüttert sind und die Ställe abgeleuchtet, wird er schon kommen. Ich hab's ihm wenigstens freigestellt.«

»Aber an so 'nem Tag, Herr Lindt!« rief der alte Eller dazwischen. »Die Bullen werden doch nicht gleich krepieren, wenn Ihr Beamter eine halbe Stunde früher Feierabend macht... Junger, einfacher Mensch! Wann hat der denn sonst Gelegenheit zum Jagdkönig und zum Jagddiner?«

Darauf antwortete der alte Lindt gewichtig: »Alter Freund, wenn Sie sich Ihre Beamten für die Jagddiners halten, ich halte mir meine für die Wirtschaft.«

Der alte Eller schwieg. Die Kletteraffen lächelten verständnisinnig. Der Mecklenburger sagte: »Darf ich Ihnen das Kompott noch einmal reichen, Frau Gräfin?«

Der Graf aber hüstelte leicht. »Ich jage sonst nicht mit Inspektoren – aber wenn schon, denn schon!«

Darauf nickte Herr Lindt nochmals befriedigt. »Lieber Dagobert, das war alles reiflich überlegt. Zehn Schützen schießen eben mehr wie neun. Kaufmännisch stimmt die Rechnung auf den Punkt. Warum soll ich also den jungen Menschen, der gut schießt, nicht mitgehen lassen? ... Strauß, trippen Sie nicht immer beim Eingießen!«

Modeste sah und hörte und wußte nicht, wem recht geben. Daß Herr Romeit schlank und hübsch war, fiel bei ihr ins Gewicht – sonst empfand sie als echte Lindt. Doch ihr Nachbar schien verstimmt.

Nach einer Weile sagte der alte Eller wie von ungefähr: »Ich war übrigens auch Inspektor, gnädiges Fräulein, ehe ich die Pachtung vom Baron übernahm...«

»Aber, Ellerchen, das ist doch ganz was andres, und dann ist's doch schon so lange her!«

»Aber ich war doch Inspektor!« wiederholte er widerhaarig. »Wenn einer im Zuchthaus gesessen hat vor fünf oder fünfzig Jahren, das kommt doch auf eins heraus... Ich schätze Ihren Herrn Vater ungeheuer hoch, aber so was bost mich. Der Mensch kann doch nicht erst beim Baron anfangen!... Wissen Sie, ich habe gewiß was übrig für vornehme Leute. So 'n alter, echter Edelmann – Hut ab!... Aber da macht vorher schon der Roden die Dammeligkeit, kann Aselmeyer auf einmal nicht mehr lesen, weil kein ›von‹ davor steht – und jetzt kommt Ihr gutes Papachen... Äh! Äh!« Er schlug indigniert mit der Hand in die Luft. »Ich bin bei dem alten Baron in Eyselin in der Wirtschaft gewesen als Eleve. Das war doch gewiß 'n vornehmer Mann! 'n Kribbelkopf sonst und ein ›Bos‹ auf den Neffen, der es jetzt hat!... Da muß übrigens was dahintergesteckt haben... Denn sagen Sie selbst: den Sohn von seinem leibhaftigen Bruder, den erklärt man doch nicht schon in der Windel für 'n Taugenichts!... Aber die Brüder sollen immer so stehen bei den Falkners. – Dabei ein Gentleman der ›Alte‹ durch und durch, wie der Junge auch!... Der Alte – das heißt, er war fünf Jahre älter als ich – nannte mich immer Kleinerchen. 'n großer stattlicher Herr übrigens... Und da war der Rendant mal krank, ich mußte die Gelder einkassieren für die Ziegelei – ich, 'n Jung' von achtzehn oder neunzehn Jahren und 'n Leichtfuß obendrein. Und es stimmt und stimmt mit dem Geld immer nicht, weiß der Deiwel! Ich geh' also flugs zum ›Alten‹ und sag': ›Herr Baron, nehmen Sie mir die Ziegelei ab, ich komm' mit dem Geld nicht zu Rand.‹ – Und da sieht er mir erst so scharf ins Gesicht und dann faßt er mich so unters Kinn und sagt: ›Kleinerchen, regen Sie sich deswegen nur nicht auf! Daß es mal nicht stimmt, das kommt in den besten Geschäften vor. Aber was mir die Hauptsache ist, Sie sind ein anständiger Mensch! Und anständige Menschen müssen sich anständig untereinander behandeln. Geben Sie mir die Belege!‹ – Und ratsch, ratsch! die Papiere mitten durchgerissen, nach dem Diener geklingelt: ›Da, Ferdinand, verbrennen Sie das hier auf der Stelle!‹ – Und zu mir: ›Na, Kleinerchen, stimmt nu die Rechnung?‹ – Dabei reißt er mich beim Ohr und sagt: ›Aber 's nächstemal sehen Sie gefälligst weniger auf die hübschen Marjellens und ein bißchen mehr in die Kontobücher!‹ ... Na, wissen Sie, gnädiges Fräulein, für so 'n Prinzipal lass' ich mir 's Fell lebendig abziehen, noch heut!«

Modeste hörte ihm lächelnd zu. »Ich höre Sie furchtbar gern erzählen, Ellerchen – und Litauisch sprechen Sie!«

»Warum sollt' ich eigentlich nicht? 'n alter litauischer Bauer wie ich.«

Modeste sah ihn von der Seite an. »Und der Junge? Ich meine, der jetzige Baron Falkner?«

Der alte Eller zuckte die Achseln. »Unsteter Mensch. Mehr weiß ich auch nicht. Jedenfalls fliegen die Groschens nur so! Klug ist aus dem nicht zu werden .... Aber giftig kann der Kret sein! – Ich habe neulich mal zugesehen, wie er auf 'n Knecht losging .... Sonst ein äußerst liebenswürdiger, feiner Herr! Aber stimmen tut da nicht alles. Ob's so 'ne delikate Angelegenheit mit Damen ist – Sie verzeihen schon, gnädiges Fräulein – es mögen auch vielleicht alte Leutnantsschulden sein. Jedenfalls ein ewiges Gejackel nach der Bahn und nach der Post. Und fahren tut er wie der leibhaftige Satan. Die Trakehner Rappen immer weiß vor Schaum, wenn sie in den Stall kommen ...« Er blinzelte Modeste pfiffig an. »Na, wie wär's, gnädiges Fräulein? Die Güter grenzen – alles da. Ja, wenn nich wär'!... Bildhübsche junge Frau, wo er auf Zügel gehen muß ... Tut ihm wahrscheinlich recht not!«

Modeste hielt ihm die Hand auf das Sektglas: »Sie sind beschwipst, Ellerchen! Sie kriegen keinen Tropfen mehr. Und wenn ein Mensch das hörte – diesen Wahnsinn!... Auch nicht im Traum...« Sie war doch etwas rot geworden.

Der alte Vokativus schlug resigniert mit der Hand in die Luft: »Und wenn's wär', würden Sie mir die Wahrheit erst recht nicht sagen! Ich kenn' doch die Welt... Die Jungen beschwipsen sich an der Phantasie, die Alten am Buddelchen. Ein kleiner Schwips – so oder so – gehört zum Leben von Zeit zu Zeit – es darf nur um Gottes willen kein großer daraus werden. Denn danach gibt's Katzenjammer.«

Modeste, der der ganze törichte Eitelkeitstraum wieder auflebte, sah scheinbar interessiert über die Tischgesellschaft weg, die ihr so gleichgültig war. Er ließ ungern in sich hineinsehen, der Stern von Barginnen.

Beim Eis entstand leichte Unruhe. Die Gäste sahen nach der Tür, und Herr Lindt erhob sich steif.

Zwei Herren traten in kurzen Zwischenräumen ein. Der Inspektor Romeit. Er trug einen Taillenrock und Lackstiefeletten und bewegte sich linkisch wie ein Arbeiter im Sonntagsstaat. Modeste ärgerte sich innerlich, wie der junge Mensch so unentschlossen und mißgelaunt an der Portiere stehenblieb. – Dann ein mittelgroßer, fast stutzerhaft eleganter Herr: verschlossenes Gesicht, fast rasiertes Haar, im starren Dunkelauge das Monokel. Es war Fallner von Öd; in der Erinnerung schwebte er ihr weit hübscher und aristokratischer vor. Er ging an Herrn Lindt, der ihm würdig entgegenkam, mit einem flüchtigen Händedruck vorüber zur Hausfrau,

»Verzeihen, Gnädigste – ich komme eben aus Königsberg. Der Zug hatte leider über eine Stunde Verspätung.«

Die Dame lächelte und reichte ihm verbindlich die Hand, die er aber nicht küßte.

Herr Lindt stellte feierlich vor. »Die übrigen Herrschaften, Herr Baron, kennen Sie ja wohl schon – hier mein Schwiegersohn: Graf Axsil, meine Tochter: Gräfin Axsil... Liebe Erika, es ist unser Gutsnachbar, der Majoratsherr auf Enselin.«

Die Gräfin verbeugte sich mit ihrem gewinnendsten Lächeln.

Auch der Inspektor war zögernd näher gekommen.

»Und hier, meine Herrschaften,« fuhr der Knochenmehlhändler etwas weniger feierlich fort, »Sie kennen ihn ja fast alle: Herr...« –

Die Gräfin, die das Lorgnon fallen gelassen hatte und einen besonders lieben Nachbar vermutete, holte zu einem halben Courknix aus.

»Herr – Inspektor Romeit!«

Da zuckte die Dame sofort zurück und nickte nur ganz von oben herab.

Falkner von Öd, der sich sehr höflich vor dem Inspektor verbeugt hatte, fragte gleich darauf: »Wo ist der Jagdkönig? Bei dem möchte ich mich noch vor allem entschuldigen.«

»Der da!« rief der alte Eller über die Tafel weg und zeigte nach dem Inspektor.

Herr von Falkner reichte dem Herrn die Hand. »Ich gratuliere, Herr Romeit. Selbst bin ich beinah' gar nicht Jäger... Übrigens,« fügte er mit beflissener Liebenswürdigkeit hinzu, »kennen wir uns schon par distance. Ich habe Sie, vorgestern glaube ich, auf dem Felde gesehen. Sie ritten einen Braunen, der vorn nicht mehr recht rauskann, aber Sie nahmen ihn beim Sprunge über den Graben ganz famos zusammen.«

»Herr Baron,« lispelte der Alte, »wollen Sie vielleicht die Güte haben, neben dem Grafen Axsil Platz zu nehmen! Es hat sich alles etwas verschoben... Lieber Romeit, suchen Sie sich einen Platz da unten! Der Diener wird gleich noch ein Kuvert einschieben.«

Der Inspektor nahm ohne sonderliche Freude nahe bei Modeste Platz, die ihn aber kaum ansah. Er kam ihr so über die Maßen plebejisch vor – auch die dunkel verbrannte Hand unter der weißen, losen Manschette. Sie begann darum mit dem alten Eller Weiterzusprechen, aber oberflächlich, zerstreut. Ihre Gedanken waren bei dem Panierherrn von Eyselin. Er saß so weit von ihr, das stumpfe, harte Profil sagte so wenig. Dabei fiel ihr ein, daß einer gesagt hatte, dieser Falkner von Öd sei ein großer Verführer gewesen, sei es noch jetzt. Der Glaube wurde ihr schwer. Auch als sie ihn sprechen hörte... Die Gräfin Axsil hatte sich seiner nämlich angenommen.

»Es gibt auch Grafen von Öd, Baron?«

»Zu dienen, Gräfin – mein älterer Bruder, der Chef der Familie.«

»Aber das ist ja sehr interessant,« flötete Erika.

Die kühle Antwort: »Nein, Gräfin, das ist gar nicht interessant! Er hat fünf Minuten vor mir das Licht der Welt erblickt – das ist sein einziger Vorzug.«

»Nicht wahr, Sie sind Westfale?«

»Allerdings.«

»Sie wären wohl auch lieber in Westfalen geblieben. Baron?«

»Kaum, Gräfin. Seit meiner Fähnrichszeit bin ich nicht mehr dort gewesen. Wer aus dem Münsterland ist, der will allerdings meistens nicht heraus – und wer heraus ist, will meistens nicht wieder herein... Übrigens wundervolle Herrensitze. Nur daß leider der Horizont grundsätzlich über diesen Herrensitz nicht hinausgeht!«

»Das ist aber sehr merkwürdig!« lispelte die Gräfin.

»Es ist wie überall auf dem Lande.«

Da mischte sich Frida ein. »Nicht wahr, Sie lieben das Land auch nicht besonders?«

»Wenigstens kenne ich keinen Lolalpatriotismus, gnädiges Fräulein. Ich verstehe weder Litauisch noch Ostpreußisch, gnädiges Fräulein. Mich verbindet hier mit dem Lande also nichts, ausgenommen vielleicht einige Nachbarn.« Er nahm den Eislöffel und begann zu essen.

Graf Axsil hatte derweilen seinen neuen Nachbar mit augenfälligem Interesse gemustert. Endlich fragte er verbindlich: »Sie lieben den Süden mehr, Baron?«

»Den liebe ich allerdings mehr! In dem litauischen Winter friert mich immer nach... Sonne und Süden.«

»Sie waren oft dort?«

»Sehr oft.«

Der Graf lächelte. »Dann glaube ich Sie auch bestimmt wiederzuerkennen, Baron. Sie waren im Winter 95 in Cannes?«

»Das kann sein.«

»Oh, man beschäftigte sich sehr viel mit Ihnen, Baron!«

»Das glaube ich weniger. Ich wüßte wenigstens nicht, warum...«

»Und wenn es nun im Zusammenhange mit der sogenannten Löwin der Gesellschaft gewesen wäre?«

»Die Sie kennen, Graf?«

»Nein, die ich leider nicht kenne, lieber Baron.«

Falkner von Öd zuckte darauf die Achseln. »Sie tun mir wirklich viel zu viel Ehre an! Gerade in dem Winter habe ich ganz außerhalb der Gesellschaft gelebt... Aber vielleicht verwechseln Sie mich auch mit meinem älteren Bruder; er ist ein sehr frommer Mann – und wie viele fromme Leute jenseits seines Bischofssprengels zuweilen recht weltlich. Übrigens kann ich ihm auch unrecht tun. Wir haben uns in zwanzig Jahren nur zweimal, und zwar ganz flüchtig gesehen.«

Graf Axsil verbeugte sich höflich. »Dann irre ich mich eben... Es war übrigens ein großes Kompliment für Ihren Doppelgänger, dies Gerede!«

»Gönnen wir es ihm, lieber Graf,« schloß Herr von Falkner süffisant.

Aber der Gatte von Erika Lindt, der in seinem Leben nichts mehr geliebt hatte als die Weiber und die Jagd, dachte vergebens hin und her, in welchem Botschaftspalais, ob in Petersburg oder Paris, er das sprechend ähnliche Medaillonbild dieses Mannes gesehen hatte – und zwar in einem Boudoir und an einem verschwiegenen Platze.

Modeste hatte mit bebender Aufmerksamkeit gelauscht. Die große Welt, nach der sie sich so oft gesehnt, stieg ihr wieder auf. War er ein großer Verführer?

Die Schwester Frida, die nach dem ersten Anlauf schon das Hoffnungslose erkannt hatte, begann darauf mit dem Leutnant von Häwel zu flüstern und zu kichern. Sie gab sich gern ganz frei und am liebsten vor ganz jungen Herren. Zum Nachtisch wurde noch der kleine Dagobert vorgeführt. Der Gräfinmutter traten die Rührungstränen in die Augen, als der Knabe auf einem Steckenpferd um die Tafel trabte: ganz Graf, wie sie meinte, in Wahrheit aber von den steifeckigen Bewegungen des alten Lindt... Der alte Eller schlug sich mit der Hand auf das Bein und rief lachend: »Vollkommen wie's Großpapachen, Frau Gräfin!«

Herr von Falkner fügte ohne Wärme hinzu: »Allerdings sehr Herr Lindt.«

Gräfin Axsil, die so neunzinkig fühlte, wie ein Schwarzer mit einem englischen Zylinder weiß, lispelte darauf mit Hauteur dem Kindermädchen zu: »Bringen Sie doch den jungen Grafen zu Bett, Natascha!« – Das Eheprojekt ließ sie endgültig fallen ob solcher Taktlosigkeit.

Der Großvater Lindt aber erhob sich, und als frommer Mann, der seinen Sarg und seine Leichenpredigt schon seit Jahrzehnten bestellt hatte, sprach er ein langes Dankgebet. Er hatte vom Himmel sonderbare Vorstellungen, der alte Knochenmehlhändler.


Modeste war enttäuscht. Ohne sich viel mit Händedrücken zu befassen, war sie in das kleine Eckzimmer zurückgekehrt, wo jetzt eine einsame Stehlampe brannte. Sie warf sich in den Plüschsessel, die Hände hinter dem Kopf geschlossen, und sah ins Licht. Ein Traum zerflattert. – Träumen wir einen andern!... Aber Träume sind wie der Tod; wenn man sie ruft, kommen sie niemals.

Aus dem Salon zirpten ein paar leicht angeschlagene Klaviertakte. Frida würde singen, der Mecklenburger würde sie begleiten. Jetzt wühlte sie wahrscheinlich unter den Noten, ließ sich bitten. Komödie bei beiden. Er sehnte sich nur nach dem Spieltisch, sie nur nach dem neu einstudierten Lied. Wenn ein dreißigjähriges Mädchen vorsingt, will sie immer einen Mann fangen.

Dann dachte Modeste wieder an Herrn von Falkner, diesen kühlen, selbstbewußten Menschen, an dem eigentlich nur die Vergangenheit interessant schien. Denn eine Vergangenheit hatte er! ... Ob er wirklich einmal der Geliebte einer ganz großen Dame gewesen war? ...

Im Rauchzimmer nebenan sammelten sich die Herren bei den Spieltischen. Herr Eller rief im breitesten Litauisch: »Kinder, nu aber die Karten! Man wird ja ganz dammelig bei der ewigen Sitzerei... Nicht wahr, Herr Baron, die Modeste ist doch ein reizendes Marjellchen? ... Wie wär's denn? ... Junger Herr wie Sie! Die hübschen Weiber halten nicht mehr wie gern still, wenn's keiner sieht. Freilich, wenn so 'n Mamachen zur unrechten Zeit um die Ecke schielt – das Geweimer!«

Modeste hörte nicht, was Herr von Falkner antwortete, aber sie fühlte das heiße Rieseln der Scham und lehnte sich weiter im Fauteuil zurück.

Nebenan trat jetzt Herr Lindt ein. »'ne Zigarre und 'nen Schnaps, meine Herren!... Ich kann Ihnen die ›Africana‹ sehr empfehlen und den rigaischen Pomeranzen, Herr Baron.« Er rieb sich vergnügt die Hände, ganz jovialer Hausherr. – Leiser meinte er zu Herrn Romeit: »Nehmen Sie aber aus der flachen Kiste – es ist 'ne gute Inspektorenzigarre – und sorgen Sie für Bier! Wenn der Strauß nicht mit dem Einschenken gerät, springen Sie zu!«

Herr Romeit murmelte etwas und verschwand ohne die Inspektorenzigarre.

Einen Augenblick Stille, wo die Herren ihre Skatplätze auslosten. Man hörte das Glitschen des Kartons auf den Mahagonitischen. Die Kletteraffen fanden sich wie verabredet zusammen mit Herrn Lindt; zu Herrn Eller gesellten sich der krumme Riese und der dicke Referendar. Herr von Falkner hatte refüsiert. Er ging den Läufer des Rauchzimmers langsam auf und ab mit leichtem, leisem Schritt. Modeste sah den Schatten gleiten. Sie hatte dabei das unangenehme Gefühl eines Schuljungen, der beim Lauschen nicht ertappt sein möchte. Das Zimmer zu verlassen war jetzt zu spät. –

Das Bier schäumte, der Zigarrenrauch floß in trägen Wolken herüber. In dem Spiegel konnte Modeste einige Spieler erkennen: den alten Eller, der, die Zigarre in der Mundecke, mächtig paffte, den krummen Riesen, der schon stier blickte, den dicken Referendar, der schmunzelnd nach dem Bierglas griff. Zuweilen brummte der Riese, der Referendar schüttelte den Kopf, der alte Eller aber rief lustig: »Was heißt gut spielen? – Karten ist die Hauptsache! – Sehen Sie das Spiel hier! Und wenn die Bank von England geht... Ich will zeitlebens als Pinscher mit abgeschnittenen Ohren 'rumlaufen, wenn ich da nicht Schneider mach'!«...

Als er aber durch die List des Referendars verloren, warf er die Karten mißmutig hin: »Ach, Kinder, das ist doch kein Spiel! Nicht ein lumpiges Carreau lassen einen diese Gniefkes gewinnen! Und dann freuen sie sich auch noch wie die Spitzbuben, wenn ein anständiger Mensch verliert. Nicht wahr, Wagner?«

Der krumme Riese antwortete phlegmatisch: »Du spielst ja aber auch wie 'n Schwein! Und wenn du das nächstemal so dammelig schabberst, schneide ich dir die Ohren glatt 'runter.«

Darauf der alte Eller mit komischer Gottergebenheit: »Na, schneid, schneid, mein Sohn, ich halt' still wie 'n Lämmchen...! Dafür schneide ich dir nachher auf der Heimfahrt die Kehle ab, oder ich gurgle dich so lange an der Krawatt', bis du blau bist und mir all mein Geld freiwillig zurückgibst und dein eignes dazu. Ich geh' jetzt auch unter die Krawattenfabrikanten – ja, ich tu's!«

Dann tuschelten die drei zusammen und lachten und zeigten nach dem alten Lindt, der ihnen den Rücken zukehrte ...

Modeste kannte das Renommee ihres Vaters nicht.


Eben setzte Frida drüben zu einem Jensenschen Lied ein – und Herr von Falkner stand plötzlich vor dem Stern von Barginnen.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein.«

»O bitte!« Sie zeigte nach einem Fauteuil.

»Gern. Sie sitzen schon lang hier?«

»Ich bin erst im Augenblick gekommen,« log sie.

»Durch die Luft?«

»Ja, wahrscheinlich durch die Luft!«

Sie sprachen beide gedämpft, damit die Spieler es nicht merkten.

»Ihre Schwester singt viel?« fragte er höflich.

»Ja, leider!« antwortete sie.

»Sie singt aber hübsch ...«

»Genau so, als wenn man eine Katze in den Schwanz kneift.«

»Ich habe noch nie Katzen in den Schwanz gekniffen, gnädiges Fräulein.«

»Dann versuchen Sie es einmal, Baron!«

Herr von Falkner lächelte: »Sie lieben sich gegenseitig nicht?«

»Nein, wir lieben uns gar nicht!«

»Das ist schade.«

»Das weiß ich nicht mal, Baron... Übrigens lieben Sie ja Ihren älteren Bruder auch nicht!«

Er beugte sich zu ihr herüber: »Steht zwischen Ihnen und Ihrer Schwester ein Fideikommiß von mehr als zwanzig Gütern? Und hat Ihre Schwester, als sie mündig wurde und damit schwer reich – an demselben Tage, wo auch Sie einundzwanzig wurden und arm waren wie eine Kirchenmaus, gesagt: »Ich fühle nicht die geringste Verpflichtung, deine Schulden zu bezahlen, obgleich ich's könnte!«

»Aber Sie haben Ihre Schulden schließlich doch bezahlt?« sagte Modeste dreist.

»Allerdings, gnädiges Fräulein. Aber wenn Sie's durchaus wissen wollen, mit einem Wuchererdarlehen, gegeben auf das Vermögen meines Onkels hier, der mich sicher enterbt hätte, wenn es irgendwie gegangen wäre... Wissen Sie, was Wuchererzinsen sind? – Nun, ich weiß es.«

»Aber jetzt sind Sie doch reich, Baron?«

Er zuckte nur die Achseln. »Wollen wir uns all unsre Geheimnisse schon am ersten Tage erzählen?«

»Warum nicht? Man weiß ja nicht, ob man sich überhaupt zum zweiten Male sieht?«

»Ich hoffe es wenigstens.« Er sah das hübsche Mädchen mit seinen kühlen dunkeln Augen lange an. »Wissen Sie, daß ich Sie kaum wiedererkannt hätte, gnädiges Fräulein? Was sind Sie hübsch geworden! – Es klingt banal – aber warum soll ich nicht einmal Ihr Spiegel sein, von dem Sie sich dasselbe doch sonst so gern täglich sagen lassen? ... Als ich ins Zimmer trat, fiel mein erster Blick instinktiv auf Sie... auch später... Sie werden es nicht bemerkt haben. Die Menschen, die ich ansehe, die sehe ich scheinbar gar nicht an – und umgekehrt. Es ist nur Sache der Übung ...«

Modeste war rot geworden. Vielleicht witterte sie den großen Verführer, vielleicht ließ nur die Eitelkeit ihre Pulse schneller schlagen.

»Ach, sprechen wir doch von etwas anderm, Baron!«

»Ihr Ernst? – Glaube ich nicht! – Hübsche Frauen hören immer am liebsten von sich selbst ... Und damit Sie sehen, wie aufmerksam ich Sie beobachtet habe und wie genau ich Sie kenne, obgleich unsre letzte Begegnung Jahre zurückliegt und Sie mich damals gar nicht beschäftigten – Sie sind eine sehr ehrgeizige junge Dame geworden. Sie möchten Karriere machen! Sie haben noch in dieser Stunde daran gedacht.«

»Sie reden Unsinn, Baron!« wehrte Modeste hastig.

»Nein, ich rede gar keinen Unsinn!... Freilich, ob Sie Karriere machen werden? ... Ich weiß nicht mal... Sie heißen Modeste. Ein hübscher, seltener Name... Sie wissen vielleicht, daß bei dem lippeschen Thronfolgestreit eine Modeste von Unruh eine große Rolle gespielt hat? Sie hat erst lange nach ihrem Tode Karriere gemacht, die Arme! Das heißt, ihre Nachkommen werden auf einem deutschen Throne sitzen, trotzdem der kommandierende General in Münster den kleinen Lippes im Kinderwagen die prinzliche Ehrung von der Hauptwache versagt hatte. Kommandierende Generale gehen – vielleicht ist der schon gegangen. Aber kleine Fürsten bleiben – und zwar die kleinsten am längsten... Nun, ich wünsche Ihnen, meine Gnädigste, daß diese Modeste hier die große Karriere schon bei Lebzeiten macht!« Er verbeugte sich artig.

Modeste lachte geschmeichelt.

Er aber fuhr fort: »Aber glauben Sie des wegen um Himmeln willen nicht, daß eine große Karriere mit dem Glück irgend etwas zu tun hat! Die sie nicht gemacht haben, behaupten freilich, sie sei das größte Glück; die sie aber gemacht haben, behaupten umgekehrt, »es sei das größte Unglück«.

»Ich verstehe Sie nicht, Baron.«

Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab mit denselben leichten, leisen Schritten.

»Soll ich Ihnen etwas raten, gnädiges Fräulein? Hören Sie nie auf mich!«

»Warum sagen Sie mir das eigentlich?«

»Weil ich genau weiß, daß Sie dann um so mehr auf mich hören werden.«

Modeste kniff die Augen zusammen: »Ich verstehe. Man muß sich vor Ihnen hüten!«

»Vor mir?« Er lachte kurz und trocken... »Ja, ich bin allerdings gefährlich, aber leider nur – mir selbst. Und wenn Sie einen größeren Don Quichotte auf dieser Welt frei 'rumlaufen gesehen haben, so lasse ich mich hängen!«

Modeste war gleichfalls aufgestanden. Mit der eignen Lindtschen Keckheit fragte sie: »Und dieser Löwin, von der mein Schwager sprach, wären Sie niemals gefährlich gewesen?«

Herr von Falkner mochte ein guter Schauspieler sein, aber er verfärbte sich bei den Worten doch, und seine Augen bekamen einen stechenden Glanz. »Diese Dame ist eine Phantasie Ihres guten Schwagers. Aber selbst wenn sie es nicht wäre, so bitte ich Sie dringend, diese Dame nie mehr in unsre Unterhaltung zu mischen... Ich bin ein Narr und war ein Narr, und die Dame könnte es Ihnen vielleicht am besten bezeugen...« Er wechselte wieder zum Konversationston hinüber: »Aber so weit sind wir ja leider noch nicht, daß Phantome etwas bezeugen könnten...«

Modeste schwieg.

Herr von Falkner sah nach der Uhr.

»Verzeihen Sie einen Augenblick! Ihr Herr Romeit nebenan macht Miene aufzubrechen, und ich möchte ihn gern sprechen. Er sieht mir aus, als habe er viel Pferdeverstand. Er soll sich mal meine Fohlen ansehen. Eine Remonte kann ich selbst beurteilen, ein Fohlen nicht... Wenn Sie sich übrigens für Pferde interessieren, ich habe mir Ungarn angeschafft – Vollblutjucker. Ihre litauischen Schinder laufen mir nicht genug – und ich verlange von meinen Kutschpferden zuweilen das Unmögliche.«

Er ging zurück in das Rauchzimmer, wo Herr Romeit mit finsterer Miene in einer Ecke saß. Modeste hörte den Baron einfach und liebenswürdig mit dem Manne sprechen – so ganz anders sprechen, als er es mit ihr getan.

Nach einer Weile kam Herr von Fallner wieder. »Nun muß ich mich auch von Ihnen verabschieden, gnädiges Fräulein. Bei Ihren Eltern entschuldigen Sie mich wohl. Ich erwarte ein Telegramm zu Hause.«

»Ja natürlich, wenn Sie fort müssen,« antwortete Modeste steif.

»Ja, ich muß wirklich. Mein Wagen wartet bereits.«

Er gab ihr die Hand und wollte gehen. In der Tür blieb er stehen und zeigte auf die verblaßte Photographie. »Wer ist das?«

»Irgendeine entfernte Verwandte, die uns aber nichts angeht.«

Er nahm das Bild von der Wand und trug es ans Licht. »Eine schöne Frau... Ihnen übrigens nicht die Spur ähnlich... Trotzdem haben Sie einen gemeinsamen Zug...« Und als Modestes Lippen verächtlich zuckten: »Es ist pur sang, gnädiges Fräulein, pur sang!«


Noch spät nach Mitternacht schlich Modeste hinunter in das Eckzimmer. Die Gesellschaft war längst gefahren – nur der schale Biergeruch und der ekle Tabaksqualm füllten die dunkeln Zimmer. Sie nahm das Bild noch einmal von der Wand. »Nein – das Schicksal dieser Frau nie – nie!«

Dann öffnete sie das Fenster und schaute hinaus in den müden Herbst. Der Moderhauch umwitterte sie, die bange Stille umfing sie. Es war wie ein Alp. Und ohne sich klar zu werden, daß sie doch den tiefinnersten Wunsch ihres Herzens aussprach, murmelte sie: »Ich möchte ein Schicksal, ein ganzes Schicksal.«

Sie hatte das Schicksal gewünscht – sie sollte es haben.

Hieß es Falkner von Öd?


 << zurück weiter >>