Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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10

Einen Augenblick stand Modeste starr, leblos – nur die Augen brannten.

Der Wendepunkt in ihrem Leben ...

Da nahten Schritte. Sie nahm den Rest ihrer tödlich verletzten Eitelkeit zusammen: zu lächeln, zu lügen. –

Es war Herr Romeit.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich wußte nicht ...« Er wollte sich mit steifer Verbeugung wieder zurückziehen.

Sie ließ ihn nicht. Er schien ihr der Retter. Mit hastiger, vibrierender Stimme sagt sie leise: »Herr Romeit, mir ist nicht wohl. Ich möchte nach Hause ...«

»Um Gottes willen, gnädiges Fräulein! Ich werde sofort jemand rufen. Ein Stabsarzt ist hier ...«

»Sie werden niemand rufen, Herr Romeit, niemand! Nur dem Kutscher werden Sie sagen, daß er den kleinen Schlitten anspannt. Ich will weg – und zwar sofort.«

Er besann sich rasch. »Erlauben Sie, gnädiges Fräulein, daß ich selbst anspanne und fahre? Dem zweiten Kutscher kann ich Sie nach Mitternacht unmöglich anvertrauen, er torkelte schon um zehn.«

Sie machte eine abwehrende Bewegung. »Aber Herr Romeit, es ist wirklich nichts Schlimmes. Ich verderbe Ihnen den Abend.«

»Sie verderben mir gar nichts, gnädiges Fräulein. Was hätte ich hier noch, wenn ...« Er sprach nicht zu Ende. »Also gehen Sie! Gehen Sie!« drängte Modeste. Der Tanz begann wieder, die Musik tat ihren Nerven weh.

In der Garderobe schrieb sie noch rasch ein paar Zeilen an die Mutter.

»Bin nicht wohl. Darum nach Hause gefahren. Aber derangiert Euch meinetwegen nicht! Ich war wohl nur etwas zu fest geschnürt.«

Es war eine so plausible Lüge für den Stern von Barginnen! – Dann ging sie, bis an die Augen vermummt, hinunter in die Eiskühle der Winternacht.

Es hatte zu schneien angefangen – feiner, sprühender Schnee, der in dem nebligen Laternenlicht glitzerte. Ein paar Neugierige trieben sich vor dem Haus herum und starrten fröstelnd nach den hellen Saalfenstern und dem warmen Menschenwogen. Der Nachtwächter schritt würdig. Aus der Nebengasse glitt rasch und lautlos der kleine russische Schlitten heran.

»Sie haben sich sehr gesputet, Herr Romeit.«

»Oh, ich kann schon schnell anspannen, und die Pferde können schon schnell laufen! Es sind die jungen aus dem Arbeitsstall. Haben gnädiges Fräulein bemerkt?«

»Ja, ja,« antwortete Modeste zerstreut. »Aber nun fort ... Es könnte noch in der letzten Minute jemand kommen.«

»Darum habe ich auch die Glocken abgenommen,« meinte er.

»Ich danke Ihnen, Herr Romeit. Sie denken an alles.«

Als sie durch die toten Gassen der kleinen Landstadt fuhren, Seite an Seite in die dicke Pelzdecke gehüllt, so daß die Jugendwärme von Körper zu Körper strömte, sagte er besorgt: »Ist Ihnen jetzt besser, gnädiges Fräulein?«

»Ja, viel besser. Aber sprechen Sie lieber nicht mehr mit mir, Herr Romeit. Mir wird das Antworten schwer.« Darauf lehnte sich Modeste weit zurück und starrte unverwandt in den feinen, rieselnden Schnee, der die Landschaft verhüllte. Es war eine so reine, köstliche Luft. Keine Menschenseele auf der Chaussee. Kein Laut in der Natur. Nur zuweilen das leise Schnauben der flüchtig trabenden Tiere. Hüben und drüben die Schneemauern – weiß, endlos, verschwommen, an den Böschungen zu phantastischen Bogen gewölbt. Der Schlitten glitt weich hindurch. – Modeste wollte aufatmen. Es lag so viel hehre Ruhe über dieser keuschen, weißen, stummen Winternacht – Aber da mußte sie wieder an die Herbstfahrt denken, ihr ehrgeiziges Träumen – und der Alp drückte schwer ... Der Schnee begann lichter zu rieseln, immer lichter, bis zwischen verirrten Flocken Sterne schläfrig aufblinkten. – Ein Reiter glitt vorüber auf flüchtigem Pferde, den Livreemantel hochgeschlagen. Die scharfen Eisen klirrten auf dem gefrorenen Grunde. Modeste sah ihm nach.

»Es ist der Groom aus Eyselin,« sagte Herr Romeit ohne aufzusehen und ließ die Pferde schärfer traben.

Modeste tat, als wenn sie nichts hörte, und sah gedankenlos auf die Ebene, die sich jetzt scharf zeichnete. Auf weißem, totem Grunde die schneebedeckten Bäume. – Gehöfte, dunkel umrissen, tot – ein Bild starrer Öde.

Sie waren wohl eine Stunde gefahren. Modeste wie zerschlagen, müde, mit dem einzigen vagen Wunsch, daß dieser Tag nur ein böser Traum gewesen sein möge. Herr Romeit, in sich gekehrt, unbeweglich, den Kopf auf die Pferde gerichtet. – Da klang fernes Schlittengeläut. Die beiden horchten auf. Es klang vom Rücken her, aber es klang so scharf, so rasch, und näher, immer näher. Dabei gingen die jungen Braunen einen sehr schlanken Trab.

»Wer kann das sein?« fragte Modeste.

Herr Romeit hob als Antwort nur die Peitsche und wippte dem Leinenpferd einen leichten Schmiß zu. Die Tiere streckten sich.

»Wer kann das sein?« fragte Modeste wieder. »Der muß ja Galopp fahren!«

Herr Romeit hob wieder die Peitsche, und ein scharfer Hieb pfiff auf die beiden Rücken.

»Er wird uns doch überholen, Herr Romeit.«

»Er wird uns nicht überholen!«

Aber wie scharf auch die Braunen austrabten, das Geläut klang immer näher.

»Wer kann das sein?«

»Wer kann das sein!« wiederholte Herr Romeit verbissen. »Nur der Baron aus Eyselin. Es sind seine verwünschten ungarischen Jucker, und er fährt selbst. Das höre ich raus. Aber er soll uns nicht vorbeifahren – er soll nicht!«

Da zog Modeste den Baschlik übers Gesicht und sagte nichts mehr. Sie saß wie in einer Lethargie. Der fremde Schlitten war ihnen so nahe, daß das Schnauben der Pferde deutlich durch sein Geläut klang.

›Wenn er nur erst vorüber wäre!‹ dachte Modeste. Sie hatte keinen Ehrgeiz mehr.

Aber Herr Romeit hielt die Zügel in der Linken, daß die Leinen brummten, und hieb mit der Rechten unbarmherzig auf die Tiere ein ... Einige Minuten schien's, als wenn die Litauer die Pace durchhalten würden. Da rief eine scharfe, befehlende Stimme: »Vorbeilassen oder rascher fahren!« – Herr Romeit schien es nicht zu hören. Die jungen Braunen gingen langen Galopp, und die Schlittenkufen ruckten und stöhnten.

»Vorbeilassen!« rief die Herrenstimme heftig.

Da sagte Modeste müde, matt: »Lassen Sie ihn vorüber, Herr Romeit! Es nutzt ja doch nichts ...«

Herr Romeit parierte. Im Augenblick glitt auch schon der andre Schlitten vorüber, halb auf dem Schneewall hängend. Die Tiere naß, der Kutscher an die Rücklehne geklammert, um nicht abgeschleudert zu werden.

»Verzeihung, ich muß vorbei! Ich will den Jagdzug in Gumbinnen erreichen und habe dazu noch knappe fünfzig Minuten Zeit.« Die letzten Worte Falkners von Öd klangen schon verschwommen. Modeste antwortete nicht, Herr Romeit brummte etwas für sich. Das Geläut war bereits sehr fern.

Als es verklungen, fragte Modeste wie träumend: »Wie weit ist eigentlich Gumbinnen noch?« »Zwanzig Kilometer.«

»Aber dann ist es doch unmöglich...«

»Oh, für den Baron ist alles möglich! Es ist ja auch nicht das erste Paar Pferde, das er an einem Tage zuschanden fährt.«

Modeste schüttelte verwundert den Kopf. Woher plötzlich diese verschleierte Abneigung auch bei dem? Ahnte er instinktiv? Das war doch seltsam! ... Und sie lehnte sich wieder zurück im Schlitten und starrte wieder auf die Schneemauern, die hüben und drüben vorüberglitten. Und die ganze ekle Szene ward ihr wieder lebendig. Das abgestandene Glas Sekt, der fadenscheinige Fauteuil und sie selbst in den Armen des Mannes. Wieder tönte in ihren Ohren das empörende: »Meine Geliebte, ja – meine Frau nie!« Dazu die Augen, die auf einmal so kalt blitzten... Und die Scham stieg ihr blutrot in die Stirn, und der Haß sengte ihr die Seele. ›Wenn ich doch einen Bruder hätte! ... Wenn ich ihn doch hätte! ... Er müßte ihn erschießen – er müßte! ... Tot möchte ich ihn sehen – tot... So blaß wie der Schnee hier.‹ Diese Vorstellung erfüllte sie mit wilder Freude. – Und dann ebbte die heiße, schwere Woge von Scham und Rache ab. Sie sah das Leben wieder nüchtern, häßlich, wie's von nun an war. Für Modeste Lindt gab es eben keinen Rächer! Und doch sehnte sie sich nach dem Rächer, suchte nach ihm. – Sie war so heiß geworden, daß sie den Baschlik zurückschieben, den Pelz öffnen mußte. Dabei fiel ihr Blick auf den Mann neben ihr mit dem hübschen, energischen Gesicht, der die Leine so sicher hielt und so gut gehorchte, sobald sie befahl ... Wenn er der Rächer wäre – er? Dieser Gedanke beschäftigte sie. Sie blickte lange prüfend auf den Mann. Die Züge schienen ihr lieb, vertraut wie nie. Er war sicher stark, hatte sicher Mut. Wer liebt nicht die Klinge, die einem Todfeind nach dem Herzen zucken soll! – Und wie im Moment der Leidenschaft die Augen rot sehen, aber scharf, so erkannte Modeste Lindt auch in diesem Augenblick den Mann neben ihr erst ganz... ›Aber der liebt dich ja, liebt dich unsinnig!‹... Sie fühlte es, sie wußte es auf einmal. Eine Glut durchrann sie, ein Hochgefühl... Schnell verrann's. ›Nein, so weit wären wir, Gott sei Dank, noch nicht!‹

Als sie ausstiegen, tat ihr der Mann nur leid. Und aus diesem Gefühl heraus drückte sie ihm warm und freundlich die Hand.

Modeste ging sofort in das Turmzimmer. Sie wollte sich ausziehen, schlafen. Man verschläft so vieles im Leben. – Das Ballkleid streifte sie ab. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl. Sie konnte ja doch nicht schlafen, wollte auch nicht schlafen... Das Erwachen am Morgen – unmöglich! ... So sah sie fröstelnd in dem kalten Zimmer, die ausgepfiffene Tänzerin. ›Weißt du, wozu du ihm höchstens gut wärst? Zu – zu...‹ Da ertrug sie's nicht länger hier oben. Halb angekleidet, wie sie war, ging sie hinunter in die kühle, muffige Feudalität der wirklichen Schloßräume. Diese vernünftige Nüchternheit tat ihren Nerven auf Augenblicke wohl. Sie sagte laut vor sich hin: »Was ist eigentlich so Besonderes dabei? Ein Kuß, auch zwei... Niemand hat's gesehen... Aber ich habe mich doch noch nie von einem fremden Manne küssen lassen – so küssen! ... Das habe ich meinen Schwestern überlassen. Ich wollte mich nicht beschmutzen wie sie. Nun bin ich beschmutzter als alle... Aber es ist doch nicht meine Schuld! ... Ich bin eine Lindt. Wir sind eine schreckliche Familie – ich weiß es. Kalt, berechnend. Und ich bin die Schlimmste! Nicht mal Sinne, nur Eitelkeit... Ich kann ja überhaupt gar nicht lieben! Wir können ja alle gar nicht lieben.« Und wieder zischelte es ihr ins Ohr: »Es ist ein französisches Wort, Modeste, es fängt mit dem ›M‹ an, und die Pompadour war auch eine.« – »Ich gehe ins Wasser!« murmelte sie, »ich gehe ins Wasser! Ich kann das nicht ertragen...« Und sie wandelte mit dem Licht in der Hand auf und ab. Und sie wußte eigentlich nicht, warum sie wandelte, aber sie fühlte, daß sie immer so wandeln müßte. Da kam sie auch in das Eckzimmer, Erikas Boudoir, mit dem Grafenkalender und dem verblaßten Bilde. Das Zimmer war noch warm – das einzige warme des Hauses überhaupt. Und diese Wärme tat ihr so wohl, hüllte sie freundlich ein. Die Stimmung schlug um. Ein Herz, dem man beichten, eine Brust, an der man sich ausweinen kann! Warum kam ihr die Sehnsucht gerade hier? Und sie konnte nur bitter lächeln. Das Herz, die Brust gab's ja nicht für sie, weder bei Vater, noch bei Mutter, noch bei den Schwestern. Sie war ja so mutterseelenallein! ... Und sie sah die ganze schreckliche Öde ihres Daseins vor sich, sie fühlte, wie arm sie war... Vielleicht hatte das eitle, lieblose Geschöpf nie so schwer gelitten als in der Stunde, wo sie stöhnend die Liebe suchte und nicht fand... Sie wollte weinen; auch die einzige brennend sickernde Träne wäre Befreiung gewesen – aber sie konnte nicht weinen.

Das Licht knisterte, tropfte, ein Räuber zuckte gefräßig. Sie sah's gedankenlos, und wie die Reflexe die Tapete entlang gaukelten. Ihre Augen folgten. Und da sah sie wieder das Bild und begriff das Bild... Und sie stand langsam auf und trat vor das Bild, Schritt für Schritt, zurückgezogen und vorwärts gezwungen zugleich durch die zwei Naturen, die in ihr lebten – die kalte, kluge, die allen offenbar war, und die warme, hingebende, die sie selbst nicht kannte. Und in widerwilligem Schauen ward ihr das alte Bild jung, lebendig. Der heiße Hauch einer großen sündigen Liebe, der diese Frau erniedrigt und erhöht hatte dereinst, strömte ihr entgegen. Und doch war es ein reiner, befreiender Hauch! Dem tödlich verwundeten Weltkinde dämmerte die einzige Wahrheit, daß die Höhen und die Tiefen des Lebens nur dazu da sind, daß man sie mißt, und daß nur aus den Saulussen die Paulusse geboren werden. Die Spreu aber, die gute wie die schlimme, verweht der Wind... Und bei der großen Sünderin fand das kleine Weltkind endlich das verstehende Herz und die mitfühlende Brust. Die Träne rann.

Modeste weinte lange und bange wie ein Kind. Als sie wieder in das Turmzimmer hinaufstieg, dämmerte der Wintermorgen. Eine rote Sonne hob sich über der weißen Ebene, kalt, funkelnd, in eisiger Majestät. Von den Insthäusern wallte geschäftig der Rauch. Im Hof krähte der Hahn. Auf der Chaussee wand sich die »Bombe« mühsam durch die Schneemauern.

Als Frida an das Bett der Schwester kam, schlief die sanft und ruhig.


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