Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

24

Als Modeste durch das schlummernde Dorf ging – hier und da brannte noch ein trübes Licht –, empfand sie weder ein Gefühl der Freude noch der Trauer. Die Riesenspannung der Nerven wich allmählich einer dumpfen Gleichgültigkeit. Sie wanderte die Kreuz und die Quer – über das tote Stoppelfeld – den jungen Klee entlang – bis zum Wald, wo die verschlungenen Bäume leise im Nachtwind knarrten, zusammengesunken, müde des Fliehens. Ringsumher der lichte, weite Sommerhorizont, das dämmernde Schweigen.

Wohin? – Der Gedanke kam, ging, brachte keinen Entschluß. – Plötzlich hob sich aus dem braunen Brachschlag etwas Lebendiges. Ein Hase, ein Reh, vielleicht der sagenhafte russische Wolf, der noch jedes Jahr von ängstlichen Dorfkindern gesehen worden war? – In der Nacht wachsen die Schatten so gespenstisch... Aber als das Ungeheuer näher kam, erwies es sich als ihr freundlich wedelnder Jagdhund, der den ersten Abend der Freiheit zu einem verbotenen Jagdausfluge benutzt haben mochte... Bei seinem Anblick wurde die blonde Sünderin weich. Sie klopfte zärtlich den Unhold, dachte an den Sommerrappen, den sie auch liebgehabt hatte. Auch an das Elternhaus dachte sie, aber mit jener stirnrunzelnden Erbitterung, die nichts vergibt, nichts vergißt. Und derweilen zerrann für immer der Schleier von Egoismus und Eitelkeit, der ihre Augen getrübt hatte. Sie fühlte, daß sie schuldig war – aber schuldig der Feigheit, nicht der Liebe. Und indem sie alles hinter sich warf: Stand, Reichtum – indem ihr das Elternhaus versank, die Jugend –, begriff sie auch, daß der Gott da oben ganz rettet oder gar nicht und daß eine alte Welt erst krachend in Trümmer sinken muß, wenn die neue aus ihrem Schutt erstehen soll.

Und derselbe Augenblicksinstinkt, der sie vor der Katastrophe zu dem einzigen Berater geführt hatte, führte sie nach der Katastrophe zu dem einzigen Freund.


Es war gegen zehn Uhr nachts, als sie auf dem kleinen Gute des alten Eller ankam. Der Nachtwächter, den gelben Hofhund an der Kette, schritt zwischen den Ställen mürrisch umher und sah dem unerwarteten Ankömmling knurrend nach.

In dem Wohnhause brannte noch Licht. Der alte Litauer saß in einer gestrickten Jagdweste und riesigen Filzpantoffeln auf dem Sofa, die Hartungsche Zeitung ausgebreitet vor sich. Zuweilen nickte der graue Kopf mit dem auf die Nasenspitze gerutschten Klemmer schlaftrunken nach vorn, und der alte stichelhaarige Pointerbastard blinzelte von seinem Ofenplatz verständnisinnig dazu. Die Läden des niedrigen Erdgeschosses waren wie immer jedem Neugierigen vertrauensvoll geöffnet. – Es war in der Tat eine sehr gemütliche Räuberhöhle, in die Modeste jetzt blickte. Ein riesiger Gewehrschrank – eine etwas sittenlose Danae in Öl – auf dem alten Mahagonischreibtisch pedantisch ordentlich die Kreisblätter geschichtet, daneben ein wilder Haufen von Schrotpatronen jeder Größe und Zahl. Über allem ein anmutender Pfeifendampf.

Modeste klopfte ans Fenster.

Der alte Eller ruckte zusammen und legte den Klemmer vorsichtig beiseite. »Na, die Geschicht' is gut! Jetzt wird die Bestie von Hofmann schon gemütlich und spart sich lieber den Umweg bis zur Stubentür ...« brummte er, durchs Zimmer schlurfend. »Aber das sag' ich euch, Kerls!« Und er hob den Fensterriegel. Als er Modeste erkannte, wurde er sofort milder. »Aber, gnädiges Fräulein, was plagt Sie eigentlich, bei Nacht und nächtlicher Weile 'n alten Junggesellen aufzusuchen?!... Heut is überhaupt 'n ganz verrückter Tag – vor zwei Stunden ungefähr war der Romeit hier, trinkt 'n halbes Dutzend Schnäpse, sagt kein Wort und reitet weiter... Wenn nicht morgen die Hühnerjagd aufginge und ich mir nicht noch 'n paar Dutzend Patronen gemacht hätte – ich läg' längst in den Federn.«

Im Zimmer tätschelte er nachher wieder listig lächelnd Modestes weiße Hand. »Ich pfeif' auf die Rebhühner morgen – das Rebhühnchen hier ist mir lieber ... Und nu, nachdem ich 'ne Stunde dammlig geschabbert habe, reden Sie mal fünf Minuten vernünftig!«

Modeste, die abwesend vor sich hingebrütet hatte, sagte, zur Wirklichkeit erwacht, fast hart: »Können Sie mir Geld geben und einen Wagen anspannen lassen? Um ein oder zwei Uhr geht noch ein Zug nach Königsberg. Ich möchte ihn auf alle Fälle benutzen.«

Der alte Eller kramte kopfschüttelnd den Kommodenschlüssel aus der Westentasche, verschwand im Nebenzimmer und kehrte mit einer abgegriffenen Geldschwinge zurück. »Das ist alles, was ich im Haus hab'! Es mögen so gegen vierhundert Mark sein ... Wenn ich Ihnen damit dienen kann, gnädiges Fräulein? ... Morgen schick' ich Roggen nach der Stadt – da können Sie mehr haben ...«

Darauf lächelte der Stern von Barginnen etwas mühsam. »Aber wenn ich's Ihnen nun niemals zurückgeben kann?«

Er wehrte mit beiden Händen. »Wer denkt denn überhaupt an Wiedergeben? – Sie mit Ihrem frischen Gesichtchen haben mir viel mehr Freud' gemacht, als ich in meinem ganzen Leben je bezahlen kann – und wenn ich die ganze Klitsch' hier verkaufte und mich als Zugab' dazu!« ... Zugleich hing er sich mit komischem Eifer an den altmodischen Klingelzug, so daß das ganze Haus gellte. »Die Krethen hören nämlich sonst nicht!« erklärte er.

Als dann die alte Haushälterin, in Filzschuhen wie er, aufgeregt durch den Flur geschlürft kam, rief der alte Litauer zur Tür hinaus: »Der Fried Blunk soll sich fertig machen mit der Kalesch' und Futter mitnehmen! ... Und Sie, Mamsellchen, gleich heiß Wasser und Tee und belegte Brote – aber nich so unbändig dick geschnitten, wie ich sonst ess'!«

Er schlug die Tür wieder zu, machte ein über die Maßen fröhliches Gesicht. »Und jetzt, Fräulein Modestchen, setzen Sie sich aufs Sofa und erzählen Sie einen lustigen Schwank aus Ihrem Leben! ... Aber sehen Sie mir dabei um Gottes willen nicht auf die Pantoffeln! Ich bin wie 'n Pfau und kann das nicht vertragen.«

Derweilen waren die Jagdhunde, die sich erst neugierig bewedelt hatten, mit gesträubtem Rückenhaar zu knurrender Feindseligkeit übergegangen. Der alte Eller sah mit halbem Lächeln auf die Tiere. »Ihrer wird gut, gnädiges Fräulein! ... Sagen Sie mal, ist das eigentlich der Köter mit der Sofaquaste damals? – Ich freu' mich noch immer, wie der Kreth würgte und würgte ... Endlich hat er's ja auch geschafft!«

Modeste hatte den alten Freund immer verwundert angesehen. »Natürlich ist er's! ... Aber sagen Sie mal, Ellerchen, warum fragen Sie nach allem andern, als wonach Sie eigentlich fragen müßten?«

Darauf stellte sich der alte Litauer etwas breitbeinig vor sie hin. »Weil ich nun einmal nicht neugierig bin, mein gnädiges Fräulein! ... Und weil ich so 'ne dunkle Ahnung hab', daß die sechs Schnäpse von dem Romeit vorhin und die vierhundert Mark hier auf dem Tisch in irgendeiner intimen Beziehung stehen müssen ... Stimmt's?«

»Ja, es stimmt, Herr Eller!« Und sie erzählte die ganze Liebesgeschichte, wie sie war, ohne Schminke und ohne Bedauern. »Denn ich hab' ihn lieb – ich hab' ihn lieb!« schloß sie leidenschaftlich.

»Ist ja auch 'n netter, anständiger Mensch,« pflichtete er bei. »Als Reichsgraf fällt eben nicht jeder durch den Schornstein.« So sprechend ging er, die Hände in die Hosentaschen vergraben, unschlüssig auf und ab. »Aber, wenn Sie nu am End' Ihrem Vaterchen 'n bißchen mehr um den Bart gegangen wären! – Väter wollen umschmeichelt sein ... Dann geht alles.«

»Um den Bart gegangen wären?« wiederholte sie mit bitterem Lächeln. »Sie kennen mich schlecht – und meinen Vater noch viel, viel schlechter.«

»Wollen doch die Sache lieber mit Dampf betreiben!« meinte er nach einer Weile gemütlich. »'ne vernünftige Pfeif' hat manchmal in manchen Schädel mehr Klugheit gebracht als zwanzig Bände Philosophie.« Darauf begann er hastig zu paffen und trat das glimmende Streichholz mit dem Filzschuh aus. »Und nu werden Sie mir nich gleich gram über das, was kommt! – Ich setz' mich jetzt nämlich in die Kalesch' und fahr' zu Ihrem Vaterchen. Und da sollt' es doch mit dem leibhaftigen Satan zugehen, wenn ich den alten Herrn nicht zur Räson krieg'!« Er kraute sich nachdenklich den Kopf. »Ist freilich 'ne harte Nuß! ... So 'n Edelmann, dem sie mir nichts dir nichts dreißig und mehr Ahnen aufgebrummt haben, der macht mit 'nem alten litauischen Bauern wahrscheinlich verflucht wenig Federlesens und setzt mich durch ein halb Dutzend Livreebediente an die Luft.« Dann lachte er wieder vor sich hin. »Wird's schon nicht riskieren! Hat sonst den ganzen Kreis auf dem Halse ... Ich fahr' also, gnädiges Fräulein!«

Modestes Augen bekamen einen eisiglühlen Glanz. »Wenn Sie fahren wollen – gut. Ich kann's nicht hindern. Aber mitfahren – niemals!« »Dann also nicht!« meinte er gleichgültig. »Ich jedenfalls fahr'! Und Sie können ja hier ein Stündchen drusseln – und dann werd' ich wohl zurück sein, und wir können's noch mal bereden ... Passen Sie auf: die Karre geht! ... Sie sind beide ein paar harte, eigenwillige Köpfe – das Vaterchen so gut wie das Töchterchen. Aber lassen Sie mich nur machen! Übers Jahr sind Sie Frau Romeit ... Ob Sie freilich das Schloß kriegen, dafür kann ich Ihnen nicht garantieren.«

Modeste war aufgestanden. »Fahren Sie nicht, Herr Eller!« bat sie ernst. »Barginnen und ich waren uns fremd und werden uns fremd bleiben ... Es ist aus mit uns – und es soll aus sein! Ich will's auch nicht anders.«

Jedoch er mit der Ruhe des Alters winkte nur gutmütig-beschwichtigend. »Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder ... Könnte doch auch mal umgekehrt kommen. Ihr Mutterchen mischt sich sonst nirgends ein. Vielleicht spricht sie aber hier das erlösende Wort... Da kommt auch schon die Marjell mit dem Tee!« Er ging, sich umzuziehen. Eine Viertelstunde später rasselte die Kalesche eilig über das Hofpflaster.


Es war weit über Mitternacht, als der alte Litauer zurückkehrte. Der Wagen blieb vor dem Hause halten.

Herr Eller trat im Mantel in das Zimmer, ein Paket unter dem Arm. Er war ganz dunkelrot, und seine Augen flackerten. »Es ist aus auch mit uns – und gut, daß es aus ist ... Ich habe gebettelt, ich habe gedroht. Ich habe gesagt: ›Lindt, wenn das Ihr letztes Wort ist, so werden Sie keine ruhige Minute mehr in Ihrem Leben haben!‹« – Er spuckte mit einem Fluch ins Zimmer. »Ob das fein ist oder nicht – das ist mir ganz egal! Ich pfeif' überhaupt auf die ganze Feinheit. – Ach, die sind ja härter als Kieselsteine, die Leut'! ... Ich betret' das Haus mit meinem Fuß nicht mehr ...« Er legte das Paket auf den Tisch. »Das ist, glaub' ich, Ihr Nachtzeug, gnädiges Fräulein. So das Nötigste, was der Graf und die Jungfer zusammengerafft haben. Anständiger Mensch, der Graf! – aber auch 'n Waschlappen ... Geld wird Ihnen angewiesen werden bei dem Rechtsanwalt von Ihrem Herrn Vater in Königsberg. Wieviel ist, weiß ich nicht. Aber Sie sollen einen Revers unterschreiben, daß Sie sich mit der Summe endgültig abgefunden erklären ... Ging sehr geschäftsmäßig zu: das muß man Ihren Leuten lassen!«

Er goß sich einen Kümmel in ein Weinglas und trank ihn auf einen Zug hinunter. »Heiraten können Sie, wen Sie wollen!« lachte er heiser. – »Und nun machen Sie sich fertig, gnädiges Fräulein! Ich fahr' mit bis Königsberg. Ich denk', wir zwingen's noch. Es sind nämlich die Falknerschen Kutschpferde ... Ich machte extra 'n Umweg deswegen über Eyselin. Meine Schinder hättens doch nicht mehr geschafft. Und dann wollt' ich auch noch so 'n bißchen nachhören, wie der Baron denkt. Läßt Sie übrigens herzlich grüßen. Und er stände Ihnen zur Verfügung, wo und wie Sie wollten. – Das nenn' ich noch 'n Edelmann! ... Aber das Kroppzeug von Ihnen da ...« Er sah Modeste forschend an. »Oder möchten Sie am Ende doch lieber zurück? – Es ist ein ganzes Leben, gnädiges Fräulein, das noch vor Ihnen liegt! – Und auf Daunen schläft's sich nun einmal weicher als auf Stroh.«

»Ich gehe unbedingt,« antwortete Modeste fest.

»Na, denn in Gottes Namen!« Auf der Türschwelle blickte der alte Litauer noch einmal überlegend zurück. »Ich hab' glücklich meinen Tobak vergessen – und Sie Ihr Geld ... Ohne dem geht's nun aber einmal nicht! ... Und, gnädiges Fräulein, nehmen Sie das Geld von dem Rechtsanwalt nicht, solange Sie nicht unbedingt müssen. Es ist auch 'ne Falle! ... Wenn ich mal die Augen zutue – für Sie ist gesorgt.«

Darauf küßte Modeste in einer ehrlichen Herzenswallung dem alten warmherzigen Manne die Hand.

»Aber was machen Sie eigentlich für Geschichten, gnädiges Fräulein!« schalt er mit seinem unverwüstlichen Humor. »Wenn Sie die Sach' umdrehen, dann dreh' ich sie am End' auch um und küsse Sie – aber auf den Mund.«

Da schlug Modeste den Schleier hoch, den sie eben zur Nachtfahrt umgebunden hatte. »Hier!« Und sie hielt ihm die jungen Lippen hin.

Er aber küßte sie schmunzelnd und murmelte hinterher schuldbewußt: »Ich bin und bleib' doch 'n alter Sünder!« –

Auf der Station trafen sie Frau Murrmann, die höchlichst erstaunt die Hände über dem Kopf zusammenschlug. »Welche Sitüaktion, welche Sitüaktion! Das sieht ja beinahe aus wie eine Entführung aus dem Serail ...«

»Ja, es ist eine seltsame Sitüaktion!« antwortete der alte Eller, von der Begegnung wenig erbaut.

Die gesprächige Dame fuhr unbekümmert fort: »Ich reise nach Berlin, um meinen zweiten Jungen im Kadettenkorps anzumelden. Der Älteste ist ja schon da – nun müssen sie auch den Minderwertigen nehmen.« Sie meinte »minderjährig«, die gute Frau! ... »Und dann möchte ich auch unsre Judith wiedersehen, die bei einem Spezialarzt in Berlin ist ... Es soll ihr viel, viel besser gehen. Das heißt, wer's glaubt! Ich bin überzeugt, daß sie lebend nicht mehr zurückkehrt. Darum möchte ich sie so gern noch einmal sehen. Es ist so interessant!«

»Ja, so interessant!« wiederholte der alte Eller und machte einen so höflich-satirischen Kratzfuß, daß die fremdwortfrohe Dame sich beleidigt abwandle.

Und der alte Eller sah ihr wehmütig nach. »Laß sie reisen zum Deiwel! Da gehört sie hin.«

Modeste lächelte gleichgültig.

Und mit diesem gleichgültigen Lächeln versank dem Stern von Barginnen die alte Welt.


 << zurück weiter >>